Ausweglosigkeit steigern sich zu einem derartigen Albtraum, daß der betroffene Mensch nicht mehr fliehen kann, in Hilflosigkeit erstarrt, seinen Körper unbeteiligt als etwas Fremdes erlebt. Das Erleiden oder eben auch Ausüben von Gewalt - von Vergewaltigung, Folter, Vernachlässigung, Krieg, Katastrophen, Unfällen - kann in einen Ausnahmezustand münden, dem Hannes Fricke sich mit seiner Studie zuwendet. Wissenschaftliche Fundierung findet er in der modernen Traumaforschung, die er auf die Literatur seit Homer anwendet. Den naheliegenden Einwand, es handle sich dabei um eine ahistorische Übertragung moderner Theorie auf alte Texte, versucht Fricke von Anfang an zu entkräften.
Im Unterschied etwa zur Psychoanalyse befasse sich die Traumatologie nämlich mit einer hirnphysiologisch nachweisbaren anthropologischen Konstante. Traumatische Erlebnisse lassen sich also im historischen Rückblick durchaus auf die gleichen empirischen Gesetzmäßigkeiten wie heute zurückführen. Denn sie werden in sonst unzugänglichen Regionen des Gehirns abgespeichert, im "heißen" statt "kalten" Gedächtnis. Dabei zerfallen die Informationen in willentlich nicht mehr abrufbare Fragmente, ohne räumliche, zeitliche und kausale Ordnung. Sie suchen den betroffenen Menschen unvorbereitet und unvorhersehbar heim, ausgelöst durch bestimmte sinnliche Reize (Trigger), die tief eingeschriebene Erinnerungen aktualisieren und so die traumatische Situation erneut heraufbeschwören (Flashback). Dieser ausweglose Teufelskreis hat seit jeher bestanden und auch Spuren in der Literatur hinterlassen.
Für seine These plädiert Fricke statt mit einer chronologischen Motivgeschichte mit 24 "Modellanalysen" - ohne Scheu vor diesem für Wissenschaftsverdrossene prekären Trigger. Dabei übernimmt er die Anordnung in sieben Themenfelder dem "Lehrbuch der Psychotraumatologie" von Gottfried Fischer und Peter Riedesser. Frickes Beispiele könnten diverser kaum sein - nach Epochen (von Homer bis Bernhard Schlink), Nationen (von Arundhati Roy bis Binjamin Wilkomirski) oder Genres (von Batman-Comics bis zu Morrells "Rambo"). Höchst unterschiedlich fällt auch der jeweilige Beitrag zum Thema aus. Gryphius' "Catharina von Georgien" etwa wird nur vorgestellt, um den Fall von Folter ohne erkennbares Trauma zu illustrieren. Im nächsten Kapitel wird dann aber Grimmelshausens "Simplicissimus" als "glaubhafter" dagegen ausgespielt, weil Folter hier mit Entsetzen und Verstörung beantwortet wird. Ergibt sich die größere Realitätsnähe des zweiten Falls aber aus der Darstellung traumatischer Erlebnisse und nicht grundsätzlicher aus der niederen Stillage? Und gehorcht im ersten Fall die Aussparung selbstverräterischer Affekte nicht den notwendigen Geboten der hohen Tragödie, besonders eines stoischen Märtyrerdramas über "bewehrete Beständigkeit"? Daß Gryphius um "realistische" Zeichnung traumatischer Kriegsgreuel keineswegs verlegen ist, zeigt etwa sein Sonett "Die Hölle". Daran hätte Fricke, der Lyrik gänzlich ausspart, seine trefflichen Beobachtungen über die parataktische Atemlosigkeit traumatisierter Menschen bestens belegen können.
Einige andere Beispiele schärfen die Sensibilität für diesen Symptomkomplex weit besser. Dazu gehört sicher Kapitän Ahabs hilflos verzweifelt Rache am weißen Wal Moby Dick, der ihn zuvor so schwer verstümmelte. Oder der Amoklauf des Veteranen Rambo, der in amerikanischem Polizeigewahrsam durch einige - in der Verfilmung geschickt überblendete - Schlüsselreize seine Gefangenschaft in Vietnam erneut durchlebt. Literarisch besonders ergiebig ist auch die raffiniert gestaltete Weitergabe bestimmter Traumata an nachfolgende Generationen: So stimmt der Erzähler in Grass' Novelle "Im Krebsgang" mit seinem Geburtsschrei in die Hilferufe der ertrinkenden Passagiere der "Wilhelm Gustloff" ein und übernimmt später von seiner Mutter die auf Schock basierenden Erinnerungen: "Son Jeschrai kriegste nich mehr raus aussem Jehör." Die Schlußsätze fassen das prägnant zusammen und liefern Fricke den Titel für sein Buch: "Das hört nicht auf. Nie hört das auf."
Wie unentrinnbar Traumata tatsächlich sind, stellen viele der von Fricke diskutierten literarischen Fälle vor. Leider schließt er autobiographische Texte völlig aus. Jan Philipp Reemtsmas höchst eindringlicher Bericht "Im Keller", der seine fast zum kollektiven Trauma gewordene Entführung aufarbeitet, hätte Fricke differenzierte Reflexionen an die Hand gegeben. Er sucht hingegen Gründe für die Unentrinnbarkeit bannender literarischer Wirkung in spezifischen Darstellungstechniken. Der unvermittelte Wechsel ins Präsens, die unverbundene Aneinanderreihung von Schockmomenten, sprachliche Auslassungen und Abbrüche sind nur einige Stichworte aus seiner kleinen Poetik des Traumas, die zu einer größeren Rhetorik von Opferfiguren auszubauen wäre. Nebenbei sucht er vergleichbare "Stilmittel" auch in der Filmkunst. Eine genauere Analyse, beispielsweise von Hitchcocks Werken oder Thomas Vinterbergs "Festen", würde die Fruchtbarkeit seines Ansatzes sicher bestätigen. Sein Buch öffnet den Blick für ein verborgenes Phänomen, dessen unzureichendes Verständnis im Widerspruch zur weiten Verbreitung steht. Auch ohne Kleist zu berücksichtigen, sucht Fricke letztlich nach Antworten auf dessen verzweifelte Frage, wie das Unbegreifliche zu begreifen ist.
ALEXANDER KOSENINA
Hannes Fricke: "Das hört nicht auf". Trauma, Literatur und Empathie. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 288 S., br., 28,80 [Euro].
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