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Produktdetails
  • Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie
  • Verlag: Francke
  • Seitenzahl: 525
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 772g
  • ISBN-13: 9783772025877
  • ISBN-10: 3772025870
  • Artikelnr.: 24624595

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2001

Ich, Michel, Theologe
Fragen an Montaigne: Hans-Peter Bippus weiß schon alle Antworten

Michel de Montaigne, hier schwankt der geistesgeschichtliche Konsens nicht, ist der erste wirkliche "Autor"; sein Name steht für den "Beginn der Moderne" und einen "Geburtshelfer der neuzeitlichen Subjektivität". Auf diesen Felsen zu bauen, ihn als "Erbe" zu reklamieren reizt noch immer Humanisten, Sozialisten und Konservative jeder Couleur. Mit Montaigne ist man stets in guter Gesellschaft, zuzeiten gilt er sogar als chic. Darauf können sich seine Bewunderer verlassen. Warum sollten es die Theologen unter ihnen anders halten?

Die Tübinger Dissertation von Hans-Peter Bippus breitet ihre verhaltene Begeisterung über mehr als fünfhundert Seiten aus. An ihren Absichten läßt sie scheinbar keinen Zweifel: Montaigne kommt in der Geschichte des Christentums zu liegen, jedoch nicht in deren theologie- oder geistesgeschichtlicher Version, sondern in der Sparte "Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen". Bippus nennt das einen "relationalen Begriff der Theologiegeschichte". Schon bald dämmert dem Leser, daß diese "Relation" umkehrbar gedacht werden kann, als Inanspruchnahme des Nichtchristlichen durch zeitgemäße Theologen.

Doch bevor es dazu kommen kann, muß Montaigne als "theologischer Denker" erwiesen werden. Bippus benutzt dazu vor allem das "Reisetagebuch" der Rom-Fahrt von 1580/81 und die vertrackte "Apologie des Raimund von Sabunde", das heißt, er projiziert die Biographie und, sollte es so etwas geben, die "Theologie Montaignes" aufeinander. Der Verfasser der "Essais" erweist sich so einerseits als im alltäglichen Leben intensiv - beobachtend wie diskursiv - mit Theologie befaßt, andererseits geradezu als professioneller Theologe, freilich ganz eigener Prägung. Soweit ist Bippus problemlos zu folgen. Allerdings geht er noch um einiges weiter: Die von Lesern und Interpreten ungeliebte "Apologie" des katalanischen Theologen Raimund von Sabunde kommt mitten in den "Essais" zu liegen. Sie bildet deren noch nicht genug entdeckte Mitte, sie bildet Montaignes "Theologie", aber natürlich nicht in direkter Form, sondern in der indirekten Form von Anthropologie, die ein durch die Probleme der zeitgenössischen Theologie geprägtes Gottesbild durchscheinen läßt. Es sind dies die auch heute noch bekannten Probleme der Erkennbarkeit, der Güte und der Macht Gottes.

Je mehr Montaigne von sich redet, desto mehr redet er vom "Menschen", je mehr er vom Menschen redet, desto mehr redet er von "Gott". Daß er hier "richtig" von Gott redet, liegt nach Bippus daran, daß er "richtiger" vom Menschen redet; je richtiger die Rede vom Menschen, desto richtiger die von Gott, bis hin zu dem Punkt, wo dieser als Satzsubjekt völlig ausfällt. Und in dieser Rede, so Bippus, sei Montaigne als Erfinder einer neuen Anthropologie des Ichs der große Meister. Eine negative Theologie liege hier nicht vor (eine kaum strittige Meinung); aber der Fideismus - ohnmächtige Vernunft, allmächtiger Glaube - sei auch nicht zu entdecken. Montaigne sei eigentlich gar kein Skeptiker in Glaubenssachen, sondern zugleich Feind der rationalen Theologen wie der Fideisten. Wohlgeübte Vernunft führe in den "Essais" genau zu der Linie, hinter der die Theologie anfange zu sprechen, Montaigne jedoch nicht bedrohlich schweige, sondern wirklich nichts mehr zu sagen habe.

Hier ist nun die erwähnte Umkehr der "Relation der Theologiegeschichte" vollzogen. Montaigne gilt immer noch nicht als Theologe, aber doch als der Autor, der die Anthropologie in ihre "natürlichste Stellung" bringt. Es ist dies eine doppeldeutige Stellung, denn Montaignes Anthropologie ließe sich einerseits als bloße Propädeutik von Gottesrede auffassen, andererseits, und dies dürfte Bippus eher entsprechen, als Stichwortgeber oder Grundierung einer entschlossen anthropozentrischen Theologie. Hierzu bedarf es zu guter Letzt noch eines selbstbewußten innerweltlichen Optimismus und einer Kritik der real existierenden Religionen. Montaigne ist Bippus in beiden Fällen behilflich, läßt er doch eine der christlichen vergleichbare Weltzufriedenheit ("Buch des Predigers") durchscheinen und erweist sich auch sonst als politisch korrekter Kritiker religiös verbrämter Machtexzesse.

So entfaltet sich ein harmonisches Montaigne-Bild, aber doch wohl nur, weil diesem "Autor" fast ausschließlich Fragen vorgelegt werden, auf die der Theologe schon die Antwort weiß. Bippus spielt mit großer Gelehrsamkeit auf die bald 150 Jahre währende Diskussion über das Verhältnis von Vernunft und Glaube bei Montaigne an. Nur welches die Positionen der Skepsis sind, allen voran die von Montaigne rezipierte pyrrhonische Form, das unterschlägt er seinen Lesern. Hier ist vom Dialog mit dem "Gegner" nichts mehr zu hören. Nur die Unsichtbarkeit des möglichen skeptischen Denkweges - der beachtliche Umfang hätte eine Darstellung der knappen Sachverhalte ohne weiteres zugelassen - erlaubt es Bippus, Montaignes sorglos mit widersprüchlichen Positionen spielende Argumentationsweise systematisch, das heißt theologisch zu beruhigen.

Welchen Abschnitt dieser Dissertation man auch aufschlägt, überall findet man bei Bippus den theoretischen Abglanz von Montaignes "untheoretischer Situation" ins Theologische gewendet. "Untheoretisch" ist nämlich in der pyrrhonischen Skepsis die Position des Zweiflers, dem im "Erlebnis" Erscheinungen und Argumente mal fest, mal schwankend erscheinen. Dazu zählen selbstverständlich auch alle religiösen Erlebnisse oder Argumente. Es ist nur die Einsicht in diese Notlage, wenn Pascal sich aus ihr mit seiner berühmten Wette zu retten glaubt. Montaigne muß sich nicht retten, da er sich, wie Bippus am "Buch des Predigers" selbst abliest, in dieser Lage wohl zu fühlen vermag. Ja, der pyrrhonische Zweifler ist dann auch durchaus fähig, gar begeistert, alle Register der Vernunft- und Sinneskritik - ob destruktiv oder bestätigend, ist belanglos - in die Hände des Theologen zu legen, da er die wohltätigen psychischen wie sozialen Wirkungen der Religion überaus schätzt. Wenn der Dialogtheologe sich das Gleichgewicht der Gründe in ein gleiches Verhältnis von Glauben und Vernunft umdeutet, weil es eben nur noch die Anthropologie gibt, und daraus für die Moderne zwingend folgt, daß diese die neue Theologie ist, dann läßt das den Zweifler völlig unberührt, weil es ihm nur um die Wirkungen zu tun ist.

Montaigne hatte es sich, mit Karl Kraus zu reden, "gericht" (also: "sich einrichten", nicht "gerechtfertigt werden"). Pascal, der allerdings vor seinem Tod nicht mehr Theologe, sondern nur noch Christ sein wollte, hatte dafür eine untrügliche Witterung. Bippus will aber - "Analogizität" heißt das bei ihm - auf gleichem Fuß mit Montaigne stehen. Er sucht also dort den Gesprächspartner, wo Pascal gleich ein Pferdefuß auffiel. So wird, um der Zeitgenossenschaft willen, das religiöse Genie des siebzehnten Jahrhunderts verleugnet, um das religiöse Erbe durch eigene "Inanspruchnahme" zu erweitern. Am Sinn solcher unerbetener Gespräche ist zu zweifeln, es sei denn, man hielte den eigenen Stand für solcher Apologeten bedürftig.

MARKUS VÖLKEL

Hans-Peter Bippus: "In der Theologie nicht bewandert?" Montaigne und die Theologie. Francke Verlag, Tübingen/Basel 2000. 525 S., br., 116,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In einer ausgesprochen gelehrten Rezension setzt sich Markus Völkel äußerst kritisch mit dieser Dissertation auseinander. Besonders stört ihn, dass "diesem 'Autor' (Montaigne) fast ausschließlich Fragen vorgelegt werden, auf die der Theologe schon eine Antwort weiß". Das Bild, das hier von Montaigne gezeichnet wird, findet Völkel viel zu harmonisch. So werde beispielsweise nicht auf die "pyrrhonische Form" der Skepsis eingegangen, die von Montaigne rezipiert wurde. Ingesamt kritisch bewertet Völkel das Anliegen Bippus', Montaigne in der "Sparte 'Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen'" zu verorten. Vielmehr hat der Rezensent den Eindruck, dass es sich hier eher um die "Inanspruchnahme des Nichtchristlichen durch zeitgemäße Theologen" handelt.

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