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Die funkelnde Formel einer »Neuen Bürgerlichkeit« sorgt seit Jahren für Aufsehen. Neu an dieser forcierten Thematisierung von Bürgerlichkeit und Bürgertum ist, dass sie in der Berliner Republik alle intellektuellen Generationen und Milieus umfasst und gleichermaßen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft als Debatte vorangetrieben wird. Was für ein Potential für die Analyse und Orientierung moderner Lebensformen steckt im Streit um die »Rückkehr der Bürgerlichkeit«? Kann - und soll - es im 21. Jahrhundert überhaupt noch ein Bürgertum als Träger einer »neuen Bürgerlichkeit« geben? Mit…mehr

Produktbeschreibung
Die funkelnde Formel einer »Neuen Bürgerlichkeit« sorgt seit Jahren für Aufsehen. Neu an dieser forcierten Thematisierung von Bürgerlichkeit und Bürgertum ist, dass sie in der Berliner Republik alle intellektuellen Generationen und Milieus umfasst und gleichermaßen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft als Debatte vorangetrieben wird. Was für ein Potential für die Analyse und Orientierung moderner Lebensformen steckt im Streit um die »Rückkehr der Bürgerlichkeit«? Kann - und soll - es im 21. Jahrhundert überhaupt noch ein Bürgertum als Träger einer »neuen Bürgerlichkeit« geben? Mit Beiträgen von: Clemens Albrecht, Karl Heinz Bohrer, Norbert Bolz, Heinz Bude, Andreas Fahrmeir, Joachim Fischer, Manuel Frey, Jens Hacke, Bernd Kauffmann, Hans-Peter Müller, Andreas Reckwitz, Karl-Siegbert Rehberg, Tilman Reitz.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Heinz Bude ist Professor für Soziologie an der Universität Kassel und ist Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Bernd Kauffmann, Studium der Publizistik und Rechtswissenschaft, ist seit 2001 Generalbevollmächtigter der Stiftung Schloss Neuhardenberg und im Nebenamt Künstlerischer Leiter der Festwochen 'movimentos' der Autostadt Wolfsburg. Von 1992 bis 2001 war er Präsident der Stiftung Weimarer Klassik (mit Unterbrechung von 1996 bis 2000: Generalbeauftragter der Weimar 1999 - Kulturstadt Europas GmbH), daneben Intendant des Kunstfestes Weimar.

Joachim Fischer, Prof. Dr. habil., Honorarprofessor für Soziologie an der TU Dresden; Präsident der Helmuth Plessner Gesellschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2010

Distinktion braucht es einfach überall

Von neuer Bürgerlichkeit ist mittlerweile viel die Rede. Doch klar wird selten, wie viel daran Beschreibung, Wunsch oder auch Polemik ist: Ein Sammelband besichtigt die Evokation alter Ideale unter Bedingungen der Gegenwart.

Es scheint, als habe die neue Bürgerlichkeit, die zunächst als kulturbürgerliche Wert- und Sittendebatte auftauchte, mit den jüngsten Bürgerprotesten ihren politischen Reflex gefunden. Das bürgerschaftliche Engagement reicht hier klar erkennbar über lokale Bedeutung hinaus, und in Stuttgart, wo sich Bürgerlichkeit unter anderem als Konflikt zwischen Bleibenden und Durchreisenden zeigte, trat ein Element hervor, das auch in der kulturbürgerlichen Debatte zentral ist: das Verlangen nach Unterscheidbarkeit und Festigkeit, das auch der wiedererwachten Wertschätzung von Manieren und Familie, der Blüte von Museen und Stiftungen, der Klassikerpflege und den Kanonbemühungen zugrunde liegt.

Die intuitive Überzeugung, die neue Bürgerlichkeit sei trotzdem nur Übergangserscheinung und Nachahmungskultur, weil sie sich auf keine bürgerliche Schicht mehr stützen könne, hat Hans-Ulrich Wehler mit dem Verweis auf eine Reihe von Studien bestritten, die eine strukturelle Konstanz des Bürgertums bis in die Gegenwart belegen. Der jetzt erschienene Sammelband "Bürgerlichkeit ohne Bürgertum" geht an diesem Einwand elegant vorbei: Die neue Bürgerlichkeit, ist seine These, kann auch ohne Trägerschicht auskommen, weil sie nur auf die Ausweitung einer Norm und Haltung abzielt. Die Umstände für diese Expansion sind günstig. Das Bürgerliche hat viele seiner Gegner überlebt oder vereinnahmt. Die sozialistische Polemik ist weggefallen, die Protestgeneration etabliert. Auch die Grünen tragen ihre strukturelle Bürgerlichkeit immer deutlicher zur Schau. Dazu schafft die Migration neuen Distinktionsbedarf. Während die antibürgerliche Provokationsgeste heute ins Leere zielt, ist in der Wüste einer leergelaufenen Massenkultur das Gespenst der Unterschicht wieder aufgetaucht.

Vor allem aber ist es der Schwund von Mittelklasse und Sozialstaat, der bürgerlicher Pflicht- und Leistungsethik zuspielt. Wer in der Schere zwischen denen, die sich selbst versorgen, und denen, die sich versorgen lassen, seinen Platz auf der aktiven Seite haben möchte, ist mit bürgerlichen Tugenden gut bedient. Aus dem weiten bürgerlichen Wertekatalog legen die Autoren daher immer wieder den Akzent auf Eigeninitiative und Selbstbestimmung, auch als wirksame Mittel gegen die Deklassierungsängste in der Globalisierungsdynamik. Heinz Bude sieht das Ideal des Bürgers mit den gestiegenen Selbstverantwortunganforderungen der modernen Arbeitswelt geradezu automatisch verjüngt.

Daneben bezeugt die Renaissance des Bürgerlichen die Bedeutung des historischen Datums 1989. Joachim Fischer weist auf die bisher unterschätzte Zäsur hin, die in der Anerkennung des westlichen Modells durch auf sozialistischem Boden gewachsene Bürgerbewegungen liegt. Das gestiegene Selbstbewusstsein der Berliner Republik geht mit der demonstrativen Abkehr von der Bonner Arbeitnehmerrepublik einher. Der gesichtslose Zivilist kann die neue Sehnsucht nach Prägnanz und Distinktion nicht befriedigen.

Es ist dieser Wille zur Bürgerlichkeit, den der Band ausführlich dokumentiert und der stark auf seine eigene Argumentation abfärbt. Als soziologisches Erklärungsmuster und Aufbauhelfer ersehnt, wird der Bürger kaum noch an seinem gebrochenen universalen Maßstab gemessen, sondern nach seinem Dienstleistungswert befragt. Der klassische Topos der Künstlerkritik an Leidenschaftsverzicht und Äquivalenzdenken taucht nur noch am Rande auf. Keine Rede davon, dass die neue Unangefochtenheit klassischer Kultur auch auf dem Pakt mit der Eventkultur beruht. Joachim Fischer treibt die Begriffsgymnastik so weit, dass auch Wissensquiz und Shoppingcenter problemlos im bürgerlichen Kanon unterkommen. Die begriffliche Kontinuität müssen semantische Zugeständnisse retten. Karl-Siegbert Rehberg weist demgegenüber zu Recht darauf hin, dass es Bürgerlichkeit als alle Lebensbereiche durchziehende Distinktionsform nicht mehr gibt.

Erstaunlich ist, dass die Umformung der Universität und die Unterhöhlung bürgerlicher Solidität durch Digitalisierungsprozesse weitgehend ausgeblendet bleiben. Die Manie des öffentlichen Bekenntnisses in sozialen Netzwerken etwa harmoniert schlecht mit bürgerlicher Intimität. Wenn die Gegenwart auch partiell auf bürgerliche Formen zugreift, so meidet sie in der Regel ihre moralische Komponente. Auf Selbstverantwortung allein lässt sich aber noch kein umfassender Begriff von Bürgerlichkeit gründen.

Es ist letztlich eine Bürgerlichkeit aus der Defensive, die ihre Semantik aus dem neunzehnten Jahrhundert hinüberrettet und jetzt zur Offensivkraft berufen wird. Ähnlich der wiedererwachten Spiritualität hat sie Bedarfs-, aber keinen Bekenntnischarakter und lässt in dieser Optionalität auch unbürgerliche Züge zu. Die Autoren des Buches reflektieren das alles, normativer Anspruch und Wunsch ragen aber oft über empirische Befunde hinaus. Jens Hacke empfiehlt Bürgerlichkeit als Leitwert von überhistorischer Geltung. Hans-Peter Müller betont die Bedeutung der ideellen Triebfeder beim welthistorischen Aufstieg des Bürgertums, beschwört dann aber das blutleere Fortleben einer Institution gewordenen bürgerlichen Haltung, die keine emphatischen Träger mehr braucht. Ritterlichkeit als Haltung überdauert das Rittertum, daran erinnert Norbert Bolz. Man weiß auch, wo eine zur Lebensform gemachte Ritterlichkeit endet.

THOMAS THIEL

"Bürgerlichkeit ohne Bürgertum". In welchem Land leben wir?

Hrsg. von Heinz Bude, Joachim Fischer und Bernd Kauffmann. Wilhelm Fink Verlag. München 2010. 232 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Restlos überzeugt von diesem Sammelband zum Thema neue Bürgerlichkeit ist Thomas Thiel jedenfalls nicht. Obgleich er die Reflexionen der Autoren eigentlich recht gut gestreut findet und ihm die vielbeschworenen bürgerlichen Tugenden der Selbstverantwortung und Leistungsorientierung als wichtige Momente des bürgerlichen Wertekatalogs ausreichend beleuchtet erscheinen, hätte er sich die These von der frei schwebenden Bürgerlichkeit ohne Trägerschicht doch besser belegt gewünscht. Die empirischen Befunde, meint er, fallen doch allzu häufig hinter den normativen Anspruch zurück. So wird der Wille zur Bürgerlichkeit zwar gut dokumentiert, meint Thiel, zugleich jedoch sorge er auch für eine entsprechende Vorformung des Bürgers zum Erklärungsmuster.

© Perlentaucher Medien GmbH