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Produktdetails
  • Verlag: Wolke Verlagsges.
  • 1., Aufl.
  • Seitenzahl: 192
  • Erscheinungstermin: 10. August 2004
  • Deutsch
  • Abmessung: 2140mm x 1280mm
  • Gewicht: 287g
  • ISBN-13: 9783936000320
  • ISBN-10: 3936000328
  • Artikelnr.: 12985594
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die reale Mitte in der Ordnung der Avantgarde
Ungebrochen revolutionär: Neues über den Komponisten Luigi Nono und Theodor W. Adorno

Im ersten Akt von Wagners "Siegfried" examiniert der "Zwerg" Mime, Ziehvater Siegfrieds, dessen Großvater, den "Wanderer" Wotan, der alles weiß: "In der Erde Tiefe tagen die Nibelungen . . . Auf der Erde Rücken wuchtet der Riesen Geschlecht . . . Auf wolkigen Höh'n wohnen die Götter: Walhall heißt ihr Saal." An solcherart vertikales mythologisches Katasteramt fühlt man sich erinnert, denkt man an die witzige Weise, in der der Musikologe Jürg Stenzl einmal Ordnung in die Welt der Avantgarde brachte: Boulez gehöre das Ircam, Stockhausen der Sirius - und Nono die Politik. Das unterirdische Pariser Musiktechnologie-Zentrum, die intergalaktische "Licht"-Welt und die realgesellschaftliche Sphäre der liebend-leidenden Menschen, ekstatisch-überdimensional gesteigert: ein plausibles Dreischichtenmodell zum Thema Kunst und Leben - zumindest aus der Sicht der späten siebziger Jahre.

Im Hinblick auf Boulez wie Stockhausen mag sich an der Einschätzung nicht viel geändert haben. Bei Luigi Nono ergab sich ein zweischübiger Paradigmenwechsel. Gab es seit dem Streichquartett "Fragmente - Stille, An Diotima" (1980) das Wort von der "Wende" - weg vom linken Engagement, hin zu einer hölderlinisch auratischen Innerlichkeit -, so wurde nach Nonos Tod 1990 die Rezeption auf das Spätwerk fokussiert, mitunter nicht frei von parareligiöser Emphase. Die Fülle musikologischer Publikationen zu Nono ist beeindruckend; wobei der frühe und mittlere, also "politische" Nono - bis hin zu "Al gran sole" - eher in den Hintergrund geriet. Daß es um den "ganzen" Nono gehen sollte, wurde darüber vergessen. Doch die Einsicht in die Einheit des Werkes, seiner Voraussetzungen, Strategien, Brechungen, Umschwünge und Konsequenzen, gewinnt als Forderung an Bedeutung.

Entsprechendes Interesse finden drei Veröffentlichungen, die unterschiedlich die übergreifende Perspektive riskieren, dabei das einzelne im Visier haben. Im Sinne einer dualen Autobiographie ist dies dem italienischen Musikologen Enzo Restagno in seinen "Incontri" gelungen, unerhört instruktiven Gesprächen, die er mit Nono im März 1987 in Berlin führte. Restagnos geduldig nachfassende Fragen lösen bei Nono Erinnerungs- und Reflexionsschübe aus: die Jugend in Venedig während des Faschismus, die frühe, lange Freundschaft mit Bruno Maderna, das Faible für die Musik des Mittelalters, die Aufbrüche ab 1945 - und stets das Widerspiel von turbulenter Lebensrealität und entrückter Stille. Ebendiese, charakteristisch für den späten Nono, hat schon den jungen Nono fasziniert, und selbst in die aggressiv anklagenden Stücke des Lorca-Epitaphs (1951 bis 1953) sind markante Zitate eingegangen, mitunter verschlüsselt bis an den Rand der Unhörbarkeit.

Das, was man lange für plakativen Protestgestus hielt, erweist sich als tönende Introversion, radikalisiert durch aktuelle Konnotation. So entsteht der Sturm-Beginn von Verdis "Otello" für Nono "aus schreiender, brüllender, stürmender Stille". Das verweist auf Webern ebenso wie auf Wittgensteins "Unklangbares", viel gewaltsamer als alles, was gesagt wird. Das "Unsagbare" hat Nono immer stärker fasziniert, nicht zuletzt als geistesgeschichtlicher Subtext: Noch in den vertracktesten Konstruktionen der franko-flämischen spätmittelalterlichen Vokalpolyphonie mutmaßt er kabbalistische Strukturen.

Nimmt man die legendäre Darmstädter Trias Boulez-Nono-Stockhausen, so fällt an den Personen wie ihren Äußerungen auf, wie unterschiedlich sie sind. Boulez erscheint als der Objektivist, dem es um die Sache geht; Privates erfährt man über ihn kaum. Bei Stockhausen hat man den Eindruck überbordender Subjektivität, ja eines kosmisch-ewigen "ego, ego, ego". Nono, vom Temperament her eher der Extreme, seraphisch sanft wie furios in seinen Wutausbrüchen, wirkt wie in der Mitte: spontan, stets persönlich, doch auf übergreifende Aspekte bedacht. Ein schönes, kurzes Nono-Porträt liefert dessen bedeutendster "Schüler", Helmut Lachenmann, im bei Pfau erschienenen Band zur Saarbrücker "Intolleranza"-Produktion.

Kaum ist es möglich, vom Darmstadt-Triumvirat zu reden, ohne einen vierten mitzudenken: Adorno. Doch das Terrain ist vermint. Der Bruch zu und mit Nono war ein doppelter. So wie der hitzige Venezianer mit den "Glasperlenspielen" der Kollegen nichts zu tun haben wollte, so fremd waren ihm ästhetische Immanenz und Autonomie des Theoretikers, sein bürgerlich-professoraler Habitus. Adorno, mißtrauisch gegenüber Politik, Engagement, gar Agitation, waren Radikalität, ja Fanatismus des jungen Nono suspekt.

In einem Wort allerdings lassen sich Differenz wie Analogie zwischen Adorno und Nono benennen: Auschwitz. Kaum ein Satz Adornos ist so populär geworden wie "nach Auschwitz lasse sich kein Gedicht mehr schreiben", gar der zugespitzte: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch." Den Satz hat er mehrfach formuliert, dabei stets Varianten artikuliert, ja ihn zurückgenommen: "Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben."

Das Inkommensurable des Grauens hat den Ästhetiker Adorno vollends zu Skepsis gegenüber dessen künstlerischer Abbildbarkeit genötigt. Selbst zu Schönbergs "Überlebender von Warschau" ging er später auf Distanz. Wobei das Moralische und das immanent Kompositionskritische ineinander verzahnt erschienen: Noch im Einspruchscharakter von Kunst sah er sowohl das Veranstaltete als auch das Moment von Programm; daher Adornos Reserve gegenüber "engagierter" Kunst. Diese Berührungsangst haben ihm die "Linken" vorgeworfen; auch Nono, der sich als parteilicher Musiker empfand, ja Mitglied im Zentralkomitee der italienischen Kommunistischen Partei war.

Für Adornos wie Nonos Anhänger ergab sich ein Entweder-Oder: der Pessimismus der Negativen Dialektik contra Protest, Appell, Aufruhr als Agitprop-Inhalte. Wie so oft war die Alternative falsch. Auch wenn Nono es gewagt hat, Adornos ästhetischem Auschwitz-Tabu dreimal zu opponieren, so ist er darüber keineswegs in die Nähe plakativer Massenmusiken im Sinne des von ihm verabscheuten Sozialistischen Realismus gelangt. Im Gegenteil: "Diario polacco" (1958/59) reagiert als spröde serielle Komposition auf den Besuch von Auschwitz. 1965 wird Peter Weiss' "Ermittlung", nach Dokumenten des Frankfurter Auschwitzprozesses, in Berlin durch Erwin Piscator uraufgeführt - mit Nonos Tonbandmusik, aus der er 1966 ein weiteres Werk ableitet: "Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz." Erinnere dich, was man dir in Auschwitz angetan hat.

Nono, Galionsfigur der "Linken", hat ihnen nicht den Gefallen getan, mit aufrüttelnden Chören den Schrecken konkret zu beschwören, tönend abzubilden, Texte narrativ und identifikationsheischend zu vertonen. Alle drei Werke aktivieren Erinnerung eher subkutan, abstrakt. Situationen und Personen werden benannt, doch realistische Nachvollziehbarkeit semantischer Erschütterungsästhetik findet nicht statt. Nach vierzig Jahren wird deutlich, daß Adornos und Nonos Positionen nicht so weit auseinanderlagen, wie es beider Parteigänger behaupteten.

Das Beziehungsgeflecht unerwartet verdeutlicht zu haben ist das Verdienst von Matteo Nannis "Auschwitz - Adorno und Nono", einem Buch, das immanent musikanalytische und philosophische Untersuchungen vereint. Dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit bei Adorno, der Sprachähnlichkeit von Musik als Mimesis gilt der erste Teil, während der zweite der Entstehung der drei Auschwitz-Kompositionen, ihren Materialstrukturen und klangsinnlichen Suggestionen nachgeht. Die Erörterungen werden verlassen, um die Frage nach dem Kunstwerk als "bewußtlose Geschichtsschreibung" zu intensivieren - und damit die nach der Macht der Erinnerung.

Nanni kann die Aporien des Adornoschen Denkens über Auschwitz und die Kunst nicht auflösen. Doch fast im Sinne eines "credo quia absurdum" beharrt er darauf, daß Nonos Auschwitz-Kompositionen den Ort bilden, "in dem das historische Gedächtnis von Auschwitz einen adäquaten Ausdruck erfahren kann". Gerade weil Nanni Bekennerpathos meidet, in der reflektierenden Fragilität eher bei Adorno ist, klingt dies plausibel.

GERHARD R. KOCH

Matteo Nanni, Rainer Schmusch (Hrsg.): "Incontri". Luigi Nono im Gespräch mit Enzo Restagno. Wolke Verlag, Hofheim 2004. 191 S., geb., 19,- [Euro].

Matteo Nanni: "Auschwitz - Adorno und Nono". Philosophische und musikanalytische Untersuchungen. Rombach Verlag, Freiburg 2004. 463 S., Abb., Notenbeisp., br., 52,- [Euro].

Luigi Nono: "Intolleranza 1960". Materialien, Skizzen, Hintergründe zur Inszenierung des Saarländischen Staatstheaters. Herausgegeben von Alexander Jansen und Andreas Wagner. Pfau Verlag, Saarbrücken 2004. 98 S., br., 6,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ja, wer war denn nun eigentlich wirklich Luigi Nono? Kann man mit dem Streichquartett "Fragmente - Stille, An Diotima" von 1980 eine "Wende" ansetzen? Eine Entwicklung vom Linksengagierten hin zum "hölderlinisch auratisch" Verinnerlichten? Diese Fragen wirft Gerhard R. Koch auf. Eine Antwort sucht er in den von Matteo Nanni und Rainer Schmusch herausgegebenen "Incontri": "Luigi Nono im Gespräch mit Enzo Restagno." Die Gespräche von Enzo Restagno seien "unerhört instruktiv", findet Koch. Restagnos geduldige Fragen lösen beim Künstler "Erinnerungs- und Reflexionsschübe" aus. Vor allem das dialektische Widerspiel von Stille und Lärm, von Versenkung und Aufruhr gerät dabei in den Blick. Weitere Themen: Die venezianische Jugend. Der Faschismus. Die Freundschaft mit Bruno Maderna. Das Interesse für mittelalterliche Musik. Den Beginn von Verdis "Otello" klassifiziert Nono als "brüllende, stürmende Stille". Für Koch ist das ein Verweis "auf Wittgensteins 'Unklangbares', viel gewaltsamer als alles, was gesagt wird."

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