Produktdetails
- Verlag: Links, Ch
- ISBN-13: 9783861532460
- ISBN-10: 3861532468
- Artikelnr.: 09878203
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2001Teure Freundschaft
Was die sowjetischen Soldaten an der DDR schätzten: "Roter Stern über Deutschland" (ARD)
Anatoli Gribkow blickt haßerfüllt in die Kamera, als er nach Gorbatschow gefragt wird. Wenn er ihm jetzt begegnen würde, sagt der ehemalige Generalstabschef des Warschauer Paktes, er würde ihm ins Gesicht spucken. Für das Interview hat Gribkow noch einmal seine alte Uniform angelegt. Er empfindet bis heute den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland als bittere Schmach. Fast fünfzig Jahre standen sie in Deutschland. Um dorthin zu kommen, ließen dreizehn Millionen sowjetische Soldaten ihr Leben. Im April 1945 trat die Rote Armee mit 2,5 Millionen Mann zum Endkampf um die deutsche Hauptstadt an. Allein bei der Schlacht um die Seelower Höhen fielen vor der Stadt in sechs Tagen dreißigtausend sowjetische und achtzigtausend deutsche Soldaten.
Stalins Befehl, die deutsche Hauptstadt müsse bis zum 1. Mai erobert sein, war militärisch ebenso sinnlos wie Hitlers Befehl, die Stadt sei um jeden Preis zu halten. Das Gemetzel um Berlin kostete noch einmal zweihunderttausend Menschenleben. Dem Sieg der sowjetischen Stoßarmeen über Hitlers letztes Aufgebot folgten Tage der Rache. Mit willkürlichen Erschießungen, Plünderungen und Vergewaltigungen revanchierten sich die außer Kontrolle geratenen Soldaten an der deutschen Zivilbevölkerung für die Untaten des Vernichtungskrieges im Osten.
Mehr als hunderttausend Berliner Frauen und Mädchen wurden zwischen April und Juni von Rotarmisten mißbraucht, auf dem gesamten Gebiet der sowjetischen Besatzungszone registrierten die Behörden als Folge der Vergewaltigungen dreihunderttausend Schwangerschaften. Die sowjetische Militäradministration und die deutschen Kommunisten untersagten den Ärzten anfänglich die Abtreibung von "Russenkindern". Bis zum Ende der DDR blieben die Zahlen der mißbrauchten Frauen ebenso wie andere Ausschreitungen der Besatzungssoldaten ein Tabu. Auch späterhin durften von den Medien in der DDR keine Berichte über Straftaten sowjetischer Soldaten veröffentlicht werden.
Christian Klemke und Jan Lorenzen schildern in ihrer dreiteiligen Dokumentation erstmals die Geschichte der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland von 1945 bis zum Abzug 1994. Das dazu aufgebotene Bildmaterial und eine kleine Armee von Zeitzeugen aus Ost und West bieten einen nahezu erschöpfenden Einblick in die große Zeit und den Alltag der GSSD, der "Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland", wie die amtliche Bezeichnung des vierhunderttausend Mann starken Heeres auf DDR-Boden lautete.
Im Unterschied zu Amerikanern, Briten und Franzosen lebten die sowjetischen Soldaten hinter den Mauern ihrer Kasernen weitgehend isoliert von der deutschen Bevölkerung. Mitunter machte man kleine Geschäfte miteinander und gegen Ende hin auch einige ganz große. Die Anwesenheit der sowjetischen Streitkräfte kam die DDR in vieler Hinsicht teuer zu stehen. Auf insgesamt rund sechzig Milliarden Mark beliefen sich allein die Stationierungskosten. Die Bundesrepublik finanzierte schließlich den Abzug der Truppen des zerfallenden Sowjetimperiums mit mehr als fünfzehn Milliarden Westmark. Nicht nur die Generalität, auch viele Soldaten und Offiziere wären gerne geblieben. Es ging ihnen in Deutschland besser als in der Heimat.
In der DDR gab es ein Warenangebot, von dem man in vielen Teilen der Sowjetunion nur träumen konnte. Wenn zu DDR-Zeiten von den "Freunden" die Rede war, konnte das eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Eine Mitteilung oder Bitte von "den Freunden" galt selbst in höchsten SED- und Regierungskreisen als eine Order, der man sich besser nicht widersetzt. Bei normalen Bürgern schwang hingegen meist ein ironischer Unterton mit, wenn sie von "den Freunden" sprachen und "die Russen" meinten.
Nicht alle ausgemusterten Offiziere, die in der Dokumentationsreihe zu Wort kommen, blicken auf die Demobilisierung der stolzen Sowjetstreitmacht in der DDR so zornig zurück wie der ehemalige Stabschef des Warschauer Paktes Anatoli Gribkow. Oberstleutnant Achmedganow von der Panzertruppe etwa erinnert sich mit großem Amüsement an die Folgen der deutschen Währungsunion. Der Einzug der D-Mark in die sowjetischen Kasernen sei die "schrecklichste Rache des Westens" gewesen. Dieser Schachzug habe die Westgruppe der sowjetischen Armee mit einem Schlag zerstört.
JOCHEN STAADT
Der erste Teil lief am Donnerstag, Teil zwei und drei folgen an den kommenden Donnerstagen, jeweils um 21.45 Uhr in der ARD.
Das Begleitbuch "Roter Stern über Deutschland" von Ilko-Sascha Kowalczuk und Stefan Wolle ist im Ch. Links Verlag erschienen und kostet 29,80 Mark.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was die sowjetischen Soldaten an der DDR schätzten: "Roter Stern über Deutschland" (ARD)
Anatoli Gribkow blickt haßerfüllt in die Kamera, als er nach Gorbatschow gefragt wird. Wenn er ihm jetzt begegnen würde, sagt der ehemalige Generalstabschef des Warschauer Paktes, er würde ihm ins Gesicht spucken. Für das Interview hat Gribkow noch einmal seine alte Uniform angelegt. Er empfindet bis heute den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland als bittere Schmach. Fast fünfzig Jahre standen sie in Deutschland. Um dorthin zu kommen, ließen dreizehn Millionen sowjetische Soldaten ihr Leben. Im April 1945 trat die Rote Armee mit 2,5 Millionen Mann zum Endkampf um die deutsche Hauptstadt an. Allein bei der Schlacht um die Seelower Höhen fielen vor der Stadt in sechs Tagen dreißigtausend sowjetische und achtzigtausend deutsche Soldaten.
Stalins Befehl, die deutsche Hauptstadt müsse bis zum 1. Mai erobert sein, war militärisch ebenso sinnlos wie Hitlers Befehl, die Stadt sei um jeden Preis zu halten. Das Gemetzel um Berlin kostete noch einmal zweihunderttausend Menschenleben. Dem Sieg der sowjetischen Stoßarmeen über Hitlers letztes Aufgebot folgten Tage der Rache. Mit willkürlichen Erschießungen, Plünderungen und Vergewaltigungen revanchierten sich die außer Kontrolle geratenen Soldaten an der deutschen Zivilbevölkerung für die Untaten des Vernichtungskrieges im Osten.
Mehr als hunderttausend Berliner Frauen und Mädchen wurden zwischen April und Juni von Rotarmisten mißbraucht, auf dem gesamten Gebiet der sowjetischen Besatzungszone registrierten die Behörden als Folge der Vergewaltigungen dreihunderttausend Schwangerschaften. Die sowjetische Militäradministration und die deutschen Kommunisten untersagten den Ärzten anfänglich die Abtreibung von "Russenkindern". Bis zum Ende der DDR blieben die Zahlen der mißbrauchten Frauen ebenso wie andere Ausschreitungen der Besatzungssoldaten ein Tabu. Auch späterhin durften von den Medien in der DDR keine Berichte über Straftaten sowjetischer Soldaten veröffentlicht werden.
Christian Klemke und Jan Lorenzen schildern in ihrer dreiteiligen Dokumentation erstmals die Geschichte der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland von 1945 bis zum Abzug 1994. Das dazu aufgebotene Bildmaterial und eine kleine Armee von Zeitzeugen aus Ost und West bieten einen nahezu erschöpfenden Einblick in die große Zeit und den Alltag der GSSD, der "Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland", wie die amtliche Bezeichnung des vierhunderttausend Mann starken Heeres auf DDR-Boden lautete.
Im Unterschied zu Amerikanern, Briten und Franzosen lebten die sowjetischen Soldaten hinter den Mauern ihrer Kasernen weitgehend isoliert von der deutschen Bevölkerung. Mitunter machte man kleine Geschäfte miteinander und gegen Ende hin auch einige ganz große. Die Anwesenheit der sowjetischen Streitkräfte kam die DDR in vieler Hinsicht teuer zu stehen. Auf insgesamt rund sechzig Milliarden Mark beliefen sich allein die Stationierungskosten. Die Bundesrepublik finanzierte schließlich den Abzug der Truppen des zerfallenden Sowjetimperiums mit mehr als fünfzehn Milliarden Westmark. Nicht nur die Generalität, auch viele Soldaten und Offiziere wären gerne geblieben. Es ging ihnen in Deutschland besser als in der Heimat.
In der DDR gab es ein Warenangebot, von dem man in vielen Teilen der Sowjetunion nur träumen konnte. Wenn zu DDR-Zeiten von den "Freunden" die Rede war, konnte das eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Eine Mitteilung oder Bitte von "den Freunden" galt selbst in höchsten SED- und Regierungskreisen als eine Order, der man sich besser nicht widersetzt. Bei normalen Bürgern schwang hingegen meist ein ironischer Unterton mit, wenn sie von "den Freunden" sprachen und "die Russen" meinten.
Nicht alle ausgemusterten Offiziere, die in der Dokumentationsreihe zu Wort kommen, blicken auf die Demobilisierung der stolzen Sowjetstreitmacht in der DDR so zornig zurück wie der ehemalige Stabschef des Warschauer Paktes Anatoli Gribkow. Oberstleutnant Achmedganow von der Panzertruppe etwa erinnert sich mit großem Amüsement an die Folgen der deutschen Währungsunion. Der Einzug der D-Mark in die sowjetischen Kasernen sei die "schrecklichste Rache des Westens" gewesen. Dieser Schachzug habe die Westgruppe der sowjetischen Armee mit einem Schlag zerstört.
JOCHEN STAADT
Der erste Teil lief am Donnerstag, Teil zwei und drei folgen an den kommenden Donnerstagen, jeweils um 21.45 Uhr in der ARD.
Das Begleitbuch "Roter Stern über Deutschland" von Ilko-Sascha Kowalczuk und Stefan Wolle ist im Ch. Links Verlag erschienen und kostet 29,80 Mark.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Großes Lob hält Winfried Heinemann für dieses Buch bereit, das er klug konzipiert, kenntnisreich zusammengetragen und ansprechend geschrieben findet. Es beginnt mit dem Einmarsch der Roten Armee in Deutschland 1945 - ohne dass die verübten Grausamkeiten verschwiegen oder ausgeschlachtet würden, meint Heinemann - und endet mit dem Abzug der Truppen nach der Wende. Was Heinemann an dem Buch so gut gefällt, ist die Fülle an Einzelgeschichten, die den großen geschichtlichen Bogen erhellen und in "sprechenden Details" vermitteln. Zur Sprache kommen nach Heinemann auch die ganzen sozialen Verflechtungen, die die Truppenstationierung für die sowjetischen Soldaten selbst wie für die deutsche Bevölkerung und die politischen "Gastgeber" mit sich brachte. DDR-Alltag eben: Straftaten von sowjetischen Soldaten, Verkehrsgefährdung durch Panzer, Wohnpolitik. Selbst dem Umgang mit den sowjetischen Ehrendenkmälern im vereinten Deutschland ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das für Heinemann auf sympathische Weise das historische Interesse der beiden Autoren mit der Gegenwart verbindet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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