Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170881
  • ISBN-10: 3932170881
  • Artikelnr.: 20845298
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.02.2007

Der kleine Kommunikationsmessias
Was, wenn 1989 nicht die DDR untergegangen wäre, sondern die BRD? Jörg-Uwe Albigs Roman „Land voller Liebe”
Zum großen Glück des Jahres 1989 gehört ja nicht nur, dass damals die DDR unterging. Ebenso – wenn auch leiser, weniger plötzlich und weniger offiziell – verschwand die alte Bundesrepublik von der Bildfläche – und mit ihr ihre Denkschablonen, ihr Betroffenheitsjargon, ihre Meinungsmilieus, ihre ideologischen Reflexe und ihre Geschichtsvergessenheit. Der Fall der Mauer hat geistig-atmosphärisch die alten Bundesländer nicht weniger als die neuen durchlüftet – wenn der Westen politisch auch wild entschlossen war, seine eigenen Fehler im Osten extra noch einmal zu wiederholen.
Der Fall der Mauer und die Zeitenwende wirkt jedenfalls auch wie ein Rahmen, der die leicht ungesunde Saturiertheit der West-Republik zwischen Trimm-Dich-Pfad, Toscana-Seligkeit und Neuer Deutscher Welle wie ein vergilbtes Familienfoto erscheinen lässt – ein erleichternder Schlussstrich unter eine Geschichte, deren Fortsetzung und Zukunft man sich heute beim besten Willen nicht vorstellen mag. „Die deutsche Mark ist weltweit Spitze” lautete in den achtziger Jahren ein Wahlslogan der Union. Ein anderer „Weiter so!” Welchem entropischen Wärmetod wäre wohl die rheinische Republik entgegengedämmert, wenn die Weltgeschichte sie nicht aus diesem „Weiter so!” erlöst hätte?
Man kann die Sache aber auch anders angehen: Wie, wenn 1989 gar nicht die DDR, sondern die BRD untergegangen wäre? Wenn die Montagsdemonstrationen nicht in Leipzig, sondern in Bonn stattgefunden hätten? Hieß es nicht in den Achtzigern an vielen Graffitti-Wänden: „Lasst Euch nicht BRDigen”? Der Schriftsteller Jörg-Uwe Albig hat in seinem Roman „Land voller Liebe” genau dieses Gedankenexperiment durchgespielt: 1989 geht das Volk auf die Straße. Aber es wehrt sich nicht gegen den real existierenden Sozialismus, sondern gegen den westlichen Kapitalismus. Wobei Albig die etwas grellere Herausforderung, was nach dem Sturz des Bonner Systems aus dem westlichen Teil des Landes geworden wäre, also die Wiedervereinigung andersrum, nicht interessiert. Die Kunst seines Buches besteht in etwas anderem: Albig beschreibt die Atmosphäre der alten Bundesrepublik fast ohne parodistische Überzeichnung, detailliert und emotionsgenau. Und es ist dann irritierender Weise genau dieser atmosphärische Realismus, der dafür sorgt, dass einem der Untergang des rheinischen Kapitalismus plötzlich völlig plausibel erscheint.
Jörg-Uwe Albig – geboren 1960 in Bremen – ist ein Autor von großer Zartheit. Deshalb ist das Bild, das er von der Bundesrepublik entwirft, alles andere als anklägerisch, ätzend oder gehässig, sondern eher einfühlsam, melancholisch und verständnisvoll. Doch das macht die Sache nur noch unheimlicher. Die Relativierung des historisch Faktischen betreibt Albig nicht über den Weg der kabarettistischen 180-Grad-Umkehrung (diese Momente gibt es schon auch), sondern der poetischen Imagination. So hat das Ganze weniger mit der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit der alten Bundesrepublik, als mit deren soghafter sprachlichen Halluzination zu tun.
Der Protagonist, Roger Beeskow ist Unternehmensberater. Aber einer der modernen, aufgeschlossenen, querdenkerischen Art. (Aber halten sich nicht alle Unternehmensberater für Querdenker? Ist das nicht genau ihr Selbstbild und deshalb ihre größte Falle?) Beeskow weiß: „Wer führen will, das wusste ich, muss fühlen. Fühlen, was die Menschen bewegt, was die Menschen wollen.” Albig muss die Management-Bücher der achtziger Jahre studiert haben. In diesem Genre fallen rationale Rentabilitätsüberlegungen und lebensganzheitliche Erlösungsphantasien immer in eins. Mit dem religiösen Glutkern der Managementphilosphie spielt Albig sehr geschickt. Das Zauberwort heißt: Kommunikation. Beeskow ist ein kleiner Kommunikationsmessias. In den Betrieben, in denen er auftaucht, richtet er „Kommunikationsecken” ein. Er weiß, dass das System reformbedürftig ist. Er sieht sich selbst nicht nur als harten Sanierer, sondern auch als Agenten jener Reformbewegung, die den Firmen „lean management”, „flache Hierarchien” „Passion” und die „Abkehr vom Kaderprinzip” empfiehlt. Einmal sagt er über eine Firma: „Die Flucht der Bürotüren nahm hier kein Ende, Zelle an Zelle. ,Fünfziger Jahre‘, sagte ich zu Bindewald: ,Schaffen Sie Offenheit, Frischluft, Kommunikation.‘ Ich klopfte an Wände und sagte: ,Die Mauer kann weg.‘”
So entsteht das Bild eines Landes zwischen Boris Becker und Arbeitslosigkeit, in dem die harten Effizienzansprüche der Ökonomie als Kommunikationschancen und mithin als Liebesgebote reformuliert werden. „Industrie produziert tote Dinge, die verrotten; sie ist eine Ausgeburt des Menschen. Dienstleistung hingegen ist Liebe.” Als die Menschen zwischen Flensburg und Passau sich diesen faulen Zauber nicht länger bieten lassen, ist der Protagonist gerade auf Dienstreise auf einer Karibik-Insel: „Die Wende erwischte mich hinterrücks, als ich gerade nicht hinsah.” Damit hatte er nicht gerechnet, denn: „Für Revolutionen, das wussten alle, war die Unterhaltungselektronik zuständig.”
Jörg-Uwe Albig ist ein bemerkenswerter Autor. Dies auch, weil er auf das kabarettistische Potential seines Stoffes fast ganz verzichtet und stattdessen sich seinem somnambulen Sprachstrom anvertraut, in dessen teilweise hochpoetischen Bildern die späte, stagnierende Bundesrepublik wie ein Scherenschnitt in mildem Abendlicht aufleuchtet. Für diese Sprachkunst muss Albig gepriesen werden. Was ihm dabei aber ganz aus der Hand gerutscht ist, ist so etwas wie ein Plot. Ihn gibt es zwar zu sehr kargen Maßen, er taugt aber nicht, das Interesse des Lesers über die gesamte Strecke des Buches zu halten. Und so muss man leider sagen, dass dieses beachtliche Buch eine manchmal mühselige Lektüre ist.IJOMA MANGOLD
JÖRG-UWE ALBIG: Land voller Liebe. Roman. Tropen Verlag, Berlin 2006. 230 Seiten, 18,80 Euro.
Was war die Zukunft der BRD? Helmut Kohl 1979 beim Karneval Foto: AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2006

Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit

Was, wenn nicht die DDR, sondern die Bundesrepublik 1989 untergegangen wäre: Jörg-Uwe Albig singt in seinem Roman ein Lied vom Ende des Kapitalismus.

Von Richard Kämmerlings

Die Wende von 1989 erwischt Roger Beeskow auf dem falschen Fuß, nämlich auf dem rechten. Der Unternehmensberater - nach Musterkarriere mit Ende zwanzig schon ein Global player - setzt seine Künste gerade auf einer Karibikinsel ein, wo ein risikofreudiger Unternehmer der steuerparadiesischen Bedingungen wegen eine Fertigungsanlage aufziehen will. Doch die Planungen geraten bald ins Stocken; der allgemeine Schlendrian der früheren Sklavenkolonie, die bittersüße Mischung aus Armut und postkolonialer Trägheit ("viel Arbeitskraft, wenig Arbeitsmoral") wirken ansteckend auf sein allerdings bereits stark geschwächtes Immunsystem. Innerlich leer und ausgebrannt, daheim (in Karlsruhe) eine Ehe- und Existenzfassade, steckt der Yuppie mitten in der Psychokrise, als ihm der Weltenlauf den Boden unter den Füßen wegzieht: Eine friedliche Revolution erschüttert Deutschland, die BRD geht unter, der Kapitalismus ist am Ende.

Jörg-Uwe Albigs neuer Roman, erst sein zweiter nach dem Debüt "Velo" von 1999, basiert auf dem kühnen Gedankenspiel, die Wende habe sich in Westdeutschland ereignet, der Kapitalismus, nicht der Sozialismus hätten sich im globalen Großversuch als unterlegen erwiesen: die BRD als Unrechtsstaat, dessen Geschichte nun die Sieger schreiben.

Beim Genre des "kontrafaktischen" historischen Romans - den man auch einen rückwärtsgewandten Zukunftsroman nennen könnte - geht es meist darum, plausibel zu machen, wie die Geschichte von einem bestimmten Punkt an anders hätte verlaufen können - eines der bekanntesten Beispiele ist "Vaterland" von Robert Harris, der von der Fiktion ausgeht, daß Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Bei Albig jedoch spielt der weitere Verlauf, eine Wiedervereinigung unter umgekehrten Vorzeichen etwa, keine Rolle. Ihm geht es vielmehr darum, eine Erzählperspektive zu (zurück-)gewinnen, in der das "System" der Bundesrepublik und der Turbokapitalismus als Sackgasse beschrieben werden können, als ein notwendigerweise implodiertes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" hieß ein berühmtes Büchlein von Jürgen Habermas; das endzeitliche Bewußtsein war nicht nur wegen Atomangst und Waldsterben ein Wesenszug der achtziger Jahre. Es war immer fünf vor zwölf.

Der Trick bei Albig ist nun, daß sein Erzähler keineswegs zu den kapitalistischen Betonköpfen zählt. In konsequenter spiegelbildlicher Umkehrung der DDR-Geschichte versteht sich Beeskow als mutiger Reformer, der insgeheim selbst unter dem real existierenden Kapitalismus der Ära Kohl leidet, unter der Spießigkeit der Angestelltenmentalität, dem Kleinmut der Manager, dem blinden Konsumwahn der Massen, und doch das System für alternativlos hält: "Die Bundesrepublik Deutschland war das einzige Land, dem ich eine Revolution niemals zugetraut hatte." So rüttelt er, eine schöne Melange aus Hans Modrow und Patrick Bateman im Namen flacher Hierarchien, an Stellwänden im Großraumbüro und sagt: "Die Mauer kann weg". (Es gibt viele solcher kleinen Jokes.)

Konfrontiert mit Montagsdemonstrationen in westdeutschen Großstädten, mit Massenstreiks und besetzten Arbeitsämtern geht Beeskow auf seinem Außenposten mit seinen eigenen Illusionen ins Gericht, die Marktwirtschaft sorge automatisch für das größte Glück der größten Zahl: "Bekannt war das Elend der Hühner, der Produktivitätsdruck in den Batterien Niedersachsens; das panikartige Fluchtverhalten des Federviehs, ihr Federpicken, ihre ständige Unruhe. Bei unseren Menschen galt das als Reiselust, als Körperbewußtsein, als Leistungsbereitschaft. Ich ahnte ja, daß das nicht die ganze Wahrheit sein konnte."

Der Menschheitstraum vom Markt Dabei ist Beeskow längst auf der Flucht: Er beginnt eine Affäre mit der Frau seines Auftraggebers und steigert sich in eine selbstzerstörerische Vater-Sohn-Beziehung zu einem verwahrlosten Waisenjungen, der ihn bestohlen hatte und an dem er noch einmal, zwanghaft, seinen Traum von planbarer Menschheitsbeglückung durchexerziert - und abermals scheitert. Sein wie ein ausgekuppeltes Getriebe weiterrotierender Consulting-Verstand dient ihm nun dazu, die Schlußbilanz des Systems zu ziehen: "Einmal erwähnte ich kurz unseren uralten Menschheitstraum, den Traum vom Markt, der offenbar zu schön war für diese Welt." Die Idee war gut, doch die Welt noch nicht bereit.

Das hätte natürlich leicht in wohlfeile linke Systemkritik umkippen können. Doch geht es Albig nicht darum, wie ein schlechter Verlierer darauf herumzureiten, daß auch im Westen nicht alles Gold war, was glänzte. Vielmehr erzeugt er mit einem überfeinen Sensorium für Sprachhülsen und Euphemismen einen Verfremdungseffekt, der tatsächlich mit Brechtschen Intentionen zu tun hat: Das Historische als veränderlich zu zeigen, war der Kern von dessen Dramentheorie. Im Blick von Albigs halb befangener, halb schon unbeteiligter Hauptfigur erscheint die Bundesrepublik der Achtziger als ein weit über das Verfallsdatum hinaus konserviertes Dämmerland: ein Staat als Dosengericht, kleinbürgerlich, ungesund. Kein Zufall, daß den Gerüchen und Gerichten eine so große Bedeutung zukommt: Beeskow wird im Rückblick zum hellsichtigen Chronisten eines unaufhaltsamen Zerbröselns: der Reformer nicht als Totengräber, sondern als Leichenbeschauer. Auch die klügeren der SED-Funktionäre wußten ja, daß das Ende nahe war.

Hier also das Streben der Anderen: Wenn auch der Generalverdacht der Marktförmigkeit, unter den Albig noch die harmlosesten Alltagsworte stellt, mitunter des Guten zuviel ist und vor allem dem letzten Romandrittel textökonomisch selbst ein bißchen Verschlankung und lean management ganz gut getan hätte, so bleibt doch verblüffend, wie glatt der Seitenwechsel aufgeht: Wenn etwa der Consultant in der zu durchleuchtenden Firma wie ein Stasi-Spitzel vorgeht und schuldig wird, weil er die Entlassung eines vermeintlichen Freundes und Saufkumpans meint betreiben zu müssen.

Natürlich zielt Albig nicht auf eine antiquarische Wahrheit über die Achtziger, sondern auf Gegenwartsdiagnose. Der Siegeszug der gnadenlos beglückenden Consulting-Welt kam ja erst in den Neunzigern. Beeskow, ein Überzeugungstäter, ein Heilsbringer, ein Vollstrecker der alleinseligmachenden Macht des Marktes, der am Ende wie Mielke ausruft: "Ich liebe doch alle" - dieser Beeskow ist ein Held unserer Zeit.

- Jörg-Uwe Albig: "Land voller Liebe". Roman. Tropen Verlag, Berlin 2006. 230 S., geb., 18,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eine sanfte Revolution hat dem zweiten deutschen Staat den Garaus gemacht. Es bleibt, wiedervereinigt, eine gesamtdeutsche DDR. Dies die ein klein wenig kontrafaktische Prämisse des zweiten Romans von Jört-Uwe Albig - und was der Autor, der sich mit seinem Buch in die Tradition historischer Alternativszenarien stellt, mit dieser Prämisse anzufangen weiß, das findet der Rezensent Richard Kämmerlings schon einigermaßen beachtlich. Ins Zentrum der Geschichte stellt Albig einen gewiss reformbereiten, aber doch überzeugten Kapitalisten, der nun einsehen muss, dass die Menschheit für die große Idee des Marktes noch nicht reif ist. Von allen allzu plumpen Pointen, überhaupt von "wohlfeiler linker Systemkritik" halte sich der Autor fern, vielmehr habe er ziemlich ernsthaft etwas dem Brechtschen Verfremdungseffekt Ähnliches, somit: Aufklärung im Sinn. Aufklärung über die Verhältnisse, in denen wir leben, aus der Perspektive einer Entwicklung, die sie nicht genommen haben. Vom letzten Romandrittel abgesehen, das seiner Meinung nach auch etwas straffer hätte ausfallen dürfen, hatte der Rezensent offenkundig sein Vergnügen.

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