Produktdetails
- Verlag: Berlin : Links
- ISBN-13: 9783861531623
- ISBN-10: 3861531623
- Artikelnr.: 07104292
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.1997Erinnerung an ein monströses Bauwerk
Ein Bild-Text-Band über die innerdeutsche Grenze
Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Mit einem Geleitwort von Rainer Eppelmann und einem Beitrag von Ulrich Schacht. Ch. Links Verlag, Berlin 1997. 176 Seiten, 178 Abbildungen, 68,- Mark.
Das einstige SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" bleibt sich treu. In seiner Rezension des Gemeinschaftswerkes von Jürgen Ritter und Peter Joachim Lapp ergeht es sich in zynischer Vergangenheitsverdrängung: "Es ist erstaunlich, wie attraktiv die Mauer noch acht Jahre nach ihrem Fall ist. Politiker, Publizisten, Fotografen, Pfarrer und Historiker werden von ,diesem monströsen, häßlichen Bauwerk', das die deutschen Brüder und Schwestern über Jahrzehnte schmerzvoll voneinander trennte, weiterhin magisch angezogen, können sich seinem Bann noch immer nicht entziehen." Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie notwendig auch künftig die wissenschaftliche Begleitung der Erinnerung an die keineswegs vollständig vernarbten Wunden der deutschen Teilung durch Mauer und Stacheldraht ist, so liefern ihn hier die unbelehrbaren Epigonen des SED-Regimes.
Der seit Jahren auf die Grenzdokumentation spezialisierte Fotograf Jürgen Ritter und der für den Text verantwortliche profilierte DDR-Kenner Peter Joachim Lapp betonen im Vorwort, ihr Bild-Text-Band sei keine komplette Geschichte der innerdeutschen Grenze, der Grenzbevölkerung und der Menschen, die sie bewachten. Ein solch umfassendes Werk stehe noch aus. Dafür haben indes die Verfasser schon wichtige Vorarbeiten geleistet.
Die Autoren liefern einleitend eine Kurzfassung der politischen Geschichte der innerdeutschen Grenze. Ihr besonderes Augenmerk richten sie dabei auf den materiellen und militärischen Aufwand, den der SED-Staat an der "milliardenschweren Dauerbaustelle", ihrem sogenannten "antifaschistischen Schutzwall", betrieben hat. Sie schildern beispielsweise, illustriert an einem Fallbeispiel, den Verlauf der bezeichnenderweise unter dem internen Decknamen geführten "Aktion Ungeziefer" im Frühjahr 1952. Dabei siedelte man zwangsweise 11000 Bewohner des Grenzgebiets unter entwürdigenden Umständen ins Innere der DDR um. Nach dem Mauerbau, der Verurteilung der Menschen - so Rainer Eppelmann in seinem Geleitwort - "zu lebenslanger sozialistischer Lagerhaft", folgte im Oktober 1961 die "Aktion Festigung", bei der man nochmals etwa 3000 "unzuverlässige Elemente" aus ihren Höfen oder Wohnungen vertrieb und ins Binnenland brachte.
Daran schließen sich faktenreiche Kapitel mit lexikalischem Charakter an. Sie behandeln die Organisation der Grenzsicherung von ihren Anfängen bis zum Ende der siebziger Jahre, die Einführung der "Struktur 80", einer flexibleren Überwachung der Demarkationslinie und des Hinterlandes unter stärkerer Mitwirkung der Grenzbevölkerung, die durch eine bereits geplante "Struktur 90" mit nochmals verbesserter Grenztechnik und einer Reduzierung des Bewachungspersonals abgelöst werden sollte. Die letztere machte die friedliche Revolution des Herbstes 1989 zur Makulatur. Die technische Perfektionierung der Tötungsmaschinerie verdeutlichen die Autoren anhand von erschütternden Fallbeispielen - darunter die von MfS-Informanten vorbereitete und auf westdeutschem Grenzgebiet vollzogene Hinrichtung des ehemaligen politischen DDR-Häftlings Michael Gartenschläger. Er wollte 1976 in der Nähe von Büchen zum dritten Mal eine Splittermine des Typs "SM-70" vom Grenzzaun abmontieren, um sie den Vereinten Nationen als Beweisstück für die Skrupellosigkeit des SED-Regimes vorzulegen. Es entsprach dem damaligen bundesdeutschen entspannungsbeseelten Zeitgeist, daß sich westdeutsche Juristen allen Ernstes mit dem Gedanken trugen, gegen Gartenschläger nach seinen beiden geglückten Demontagen Vorermittlungen "wegen Diebstahls" einzuleiten. Peinlich war für die DDR dagegen die seinerzeit verbreitete, bislang allerdings unbewiesene Behauptung, die "SM-70" beruhe auf einer für die Außensicherung von NS-Konzentrationslagern entwickelten Konstruktion eines SS-Offiziers.
Aus dem statistischen Anhang geht hervor, daß nach dem heutigen Kenntnisstand insgesamt 916 Menschen an den DDR-Grenzen ums Leben gekommen sind. Der letzte Tote an der Berliner Mauer war Chris Gueffroy, der am 5. Februar 1989 "unmittelbar freundwärts des Grenzzaunes" aus kurzer Distanz von vorn erschossen wurde. Erst danach, im April 1989, haben die Verantwortlichen das Schießen auf Flüchtlinge verboten.
Die Verfasser bemühen sich bewußt um eine nüchterne Diktion und lassen statt dessen die Fakten für sich sprechen. Diese belegen den maßgeblichen Einfluß der Sowjets auf das DDR-Grenzregime bis zum Ende der sechziger Jahre, aber auch die weitgehende Handlungsfreiheit der SED-Führung in den achtziger Jahren. Subjektive Schuld habe es deshalb zweifelsfrei gegeben. Andererseits hätte sich die übergroße Mehrheit der Grenzsoldaten keinerlei Verfehlungen schuldig gemacht. Sie standen im übrigen selbst unter Kuratel und permanenter Bespitzelung des MfS, nicht zuletzt deshalb, weil viele von ihnen den Grenzdienst zur Flucht in die Bundesrepublik genutzt haben.
An den Grenzübergangsstellen waren die Grenztruppen lediglich für den Objektschutz zuständig. Den Paßkontrolldienst und die Sicherung des Abfertigungsraumes besorgten ausschließlich die 11000 MfS-Angehörige unter den insgesamt rund 50000 Grenzern. So bedienten auch Stasi-Offiziere die nach der Wende entdeckten Röntgenstrahlen-Kontrollvorrichtungen, mit denen unbemerkt von den Transitreisenden Autos auf der Suche nach versteckten Flüchtlingen durchleuchtet und damit Menschen durch radioaktives Caesium gesundheitlich gefährdet wurden.
"Erinnerung muß sich festmachen an Dinglichkeiten, ohne diese Materialität wird sie bekanntlich unmöglich", lautet das eindringliche Plädoyer der Autoren für den Erhalt und die Erweiterung von didaktisch durchdachten Grenzmuseen. Denn der inzwischen nahezu vollständig erfolgte Abbau der Grenzanlagen erleichtert auch den notorischen DDR-Nostalgikern das Geschäft, die Erinnerung an die Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur in Deutschland zum Vergessen preiszugeben. GUNTER HOLZWEISSIG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Bild-Text-Band über die innerdeutsche Grenze
Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Mit einem Geleitwort von Rainer Eppelmann und einem Beitrag von Ulrich Schacht. Ch. Links Verlag, Berlin 1997. 176 Seiten, 178 Abbildungen, 68,- Mark.
Das einstige SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" bleibt sich treu. In seiner Rezension des Gemeinschaftswerkes von Jürgen Ritter und Peter Joachim Lapp ergeht es sich in zynischer Vergangenheitsverdrängung: "Es ist erstaunlich, wie attraktiv die Mauer noch acht Jahre nach ihrem Fall ist. Politiker, Publizisten, Fotografen, Pfarrer und Historiker werden von ,diesem monströsen, häßlichen Bauwerk', das die deutschen Brüder und Schwestern über Jahrzehnte schmerzvoll voneinander trennte, weiterhin magisch angezogen, können sich seinem Bann noch immer nicht entziehen." Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie notwendig auch künftig die wissenschaftliche Begleitung der Erinnerung an die keineswegs vollständig vernarbten Wunden der deutschen Teilung durch Mauer und Stacheldraht ist, so liefern ihn hier die unbelehrbaren Epigonen des SED-Regimes.
Der seit Jahren auf die Grenzdokumentation spezialisierte Fotograf Jürgen Ritter und der für den Text verantwortliche profilierte DDR-Kenner Peter Joachim Lapp betonen im Vorwort, ihr Bild-Text-Band sei keine komplette Geschichte der innerdeutschen Grenze, der Grenzbevölkerung und der Menschen, die sie bewachten. Ein solch umfassendes Werk stehe noch aus. Dafür haben indes die Verfasser schon wichtige Vorarbeiten geleistet.
Die Autoren liefern einleitend eine Kurzfassung der politischen Geschichte der innerdeutschen Grenze. Ihr besonderes Augenmerk richten sie dabei auf den materiellen und militärischen Aufwand, den der SED-Staat an der "milliardenschweren Dauerbaustelle", ihrem sogenannten "antifaschistischen Schutzwall", betrieben hat. Sie schildern beispielsweise, illustriert an einem Fallbeispiel, den Verlauf der bezeichnenderweise unter dem internen Decknamen geführten "Aktion Ungeziefer" im Frühjahr 1952. Dabei siedelte man zwangsweise 11000 Bewohner des Grenzgebiets unter entwürdigenden Umständen ins Innere der DDR um. Nach dem Mauerbau, der Verurteilung der Menschen - so Rainer Eppelmann in seinem Geleitwort - "zu lebenslanger sozialistischer Lagerhaft", folgte im Oktober 1961 die "Aktion Festigung", bei der man nochmals etwa 3000 "unzuverlässige Elemente" aus ihren Höfen oder Wohnungen vertrieb und ins Binnenland brachte.
Daran schließen sich faktenreiche Kapitel mit lexikalischem Charakter an. Sie behandeln die Organisation der Grenzsicherung von ihren Anfängen bis zum Ende der siebziger Jahre, die Einführung der "Struktur 80", einer flexibleren Überwachung der Demarkationslinie und des Hinterlandes unter stärkerer Mitwirkung der Grenzbevölkerung, die durch eine bereits geplante "Struktur 90" mit nochmals verbesserter Grenztechnik und einer Reduzierung des Bewachungspersonals abgelöst werden sollte. Die letztere machte die friedliche Revolution des Herbstes 1989 zur Makulatur. Die technische Perfektionierung der Tötungsmaschinerie verdeutlichen die Autoren anhand von erschütternden Fallbeispielen - darunter die von MfS-Informanten vorbereitete und auf westdeutschem Grenzgebiet vollzogene Hinrichtung des ehemaligen politischen DDR-Häftlings Michael Gartenschläger. Er wollte 1976 in der Nähe von Büchen zum dritten Mal eine Splittermine des Typs "SM-70" vom Grenzzaun abmontieren, um sie den Vereinten Nationen als Beweisstück für die Skrupellosigkeit des SED-Regimes vorzulegen. Es entsprach dem damaligen bundesdeutschen entspannungsbeseelten Zeitgeist, daß sich westdeutsche Juristen allen Ernstes mit dem Gedanken trugen, gegen Gartenschläger nach seinen beiden geglückten Demontagen Vorermittlungen "wegen Diebstahls" einzuleiten. Peinlich war für die DDR dagegen die seinerzeit verbreitete, bislang allerdings unbewiesene Behauptung, die "SM-70" beruhe auf einer für die Außensicherung von NS-Konzentrationslagern entwickelten Konstruktion eines SS-Offiziers.
Aus dem statistischen Anhang geht hervor, daß nach dem heutigen Kenntnisstand insgesamt 916 Menschen an den DDR-Grenzen ums Leben gekommen sind. Der letzte Tote an der Berliner Mauer war Chris Gueffroy, der am 5. Februar 1989 "unmittelbar freundwärts des Grenzzaunes" aus kurzer Distanz von vorn erschossen wurde. Erst danach, im April 1989, haben die Verantwortlichen das Schießen auf Flüchtlinge verboten.
Die Verfasser bemühen sich bewußt um eine nüchterne Diktion und lassen statt dessen die Fakten für sich sprechen. Diese belegen den maßgeblichen Einfluß der Sowjets auf das DDR-Grenzregime bis zum Ende der sechziger Jahre, aber auch die weitgehende Handlungsfreiheit der SED-Führung in den achtziger Jahren. Subjektive Schuld habe es deshalb zweifelsfrei gegeben. Andererseits hätte sich die übergroße Mehrheit der Grenzsoldaten keinerlei Verfehlungen schuldig gemacht. Sie standen im übrigen selbst unter Kuratel und permanenter Bespitzelung des MfS, nicht zuletzt deshalb, weil viele von ihnen den Grenzdienst zur Flucht in die Bundesrepublik genutzt haben.
An den Grenzübergangsstellen waren die Grenztruppen lediglich für den Objektschutz zuständig. Den Paßkontrolldienst und die Sicherung des Abfertigungsraumes besorgten ausschließlich die 11000 MfS-Angehörige unter den insgesamt rund 50000 Grenzern. So bedienten auch Stasi-Offiziere die nach der Wende entdeckten Röntgenstrahlen-Kontrollvorrichtungen, mit denen unbemerkt von den Transitreisenden Autos auf der Suche nach versteckten Flüchtlingen durchleuchtet und damit Menschen durch radioaktives Caesium gesundheitlich gefährdet wurden.
"Erinnerung muß sich festmachen an Dinglichkeiten, ohne diese Materialität wird sie bekanntlich unmöglich", lautet das eindringliche Plädoyer der Autoren für den Erhalt und die Erweiterung von didaktisch durchdachten Grenzmuseen. Denn der inzwischen nahezu vollständig erfolgte Abbau der Grenzanlagen erleichtert auch den notorischen DDR-Nostalgikern das Geschäft, die Erinnerung an die Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur in Deutschland zum Vergessen preiszugeben. GUNTER HOLZWEISSIG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main