Produktdetails
- Verlag: Das Beste
- ISBN-13: 9783956191794
- Artikelnr.: 44247967
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2016Was übrig bleibt, ist Wahrheit
Schon seinem Erfinder war es nicht gegeben, ihn umzubringen: Kein anderer Detektiv hat ein so langes Nachleben wie Sherlock Holmes, wie ein Blick auf seine Nachfolger und Fortschreiber zeigt.
Blödsinn, Watson, Blödsinn! Was haben wir mit wandelnden Leichen zu schaffen, die nur mit einem durchs Herz getriebenen Pfahl in ihren Gräbern gehalten werden können? Das ist doch blanke Idiotie! (...) Sollen wir wirklich solchen Dingen unsere Aufmerksamkeit schenken? (...) Diese Welt ist groß genug für uns, Bewohner einer anderen Welt brauchen gar nicht erst hier anzufragen", sprach Sherlock Holmes - und hätte beinahe den Auftrag von Herrn Ferguson abgelehnt. Auf Drängen seines Freundes Doktor Watson stellte er aber doch Untersuchungen an, die unter dem reißerischen Titel "Der Vampir von Sussex" in die Kurzgeschichtensammlung "The Case-Book of Sherlock Holmes" aufgenommen wurde.
Die Vampirismus-Diagnose stellt sich als Missverständnis heraus - die besorgte Frau Ferguson hatte nur Gift aus dem Blutkreislauf ihres Neugeborenen gesaugt, konnte dies dem entsetzten Gatten aber nicht mitteilen. Obgleich Sir Arthur Conan Doyle den Fall 1924 veröffentlichte, also lange Zeit nachdem er selbst sich für Spiritismus zu begeistern begonnen hatte, bleibt sein berühmter literarischer Held mit den Ermittlungsmethoden auf dem Boden wissenschaftlicher Tatsachen. Die Auftritte des weltbekannten Detektivs sind durchaus überschaubar: vier längere Erzählungen zwischen 1887 und 1915 sowie sechsundfünfzig Kurzgeschichten, in "The Strand Magazine" veröffentlicht zwischen 1891 und 1927, dazu vier kurze Erzählungen, in denen entweder Sherlock Holmes erwähnt wird oder einen Gastauftritt hat, sowie eine im Nachlass entdeckte Skizze ("The Adventure of the Tall Man").
Anders als Charles Dickens bei seinem unvollendeten Roman "The Mystery of Edwin Drood" starb Doyle nicht während der Niederschrift; diese wird um 1900 datiert, Doyle lebte noch dreißig Jahre länger. Ähnlich aber wie im Falle Dickens' versuchten sich nachgeborene Schriftsteller daran, den Plot kongenial fortzusetzen. Und nicht nur das: Der Privatdetektiv aus der Baker Street 221B fand seit der Veröffentlichung der ersten Geschichten im "Strand" - die beiden früheren Erzählungen "A Study in Scarlet" und "The Sign of Four" blieben bis dahin Ladenhüter - derart viele Anhänger, dass sich nicht nur Doyle seinen größten Triumph zeitweise vom Hals schaffen wollte. Er ließ Holmes in die Reichenbachfälle stürzen, was er später als nur vorgetäuscht wegerklärte.
Zahlreiche Adaptionen anderer Autoren waren die Folge: Schon Doyles Sohn und Biograph Adrian und der Kriminalschriftsteller John Dickson Carr entwickelten 1954 aus einigen, in den originalen Geschichten meist nur kurz erwähnten übrigen Fällen des Privatdetektivs unter dem Titel "The Exploits of Sherlock Holmes" zwölf weitere Abenteuer. Spätestens seit damals sind die neuen Fälle für das Baker-Street-Duo Legion. Mit der Eröffnung des Sherlock Holmes Museums im Jahre 1990 ist "221B" übrigens keine rein fiktive Anschrift mehr. Wenn die Berechnungen der Holmes-Biographen stimmen, wurde er um 1854 geboren und starb entweder im Ersten Weltkrieg, wie manche behaupten, oder um 1950, folgt man Michael Chabon in "Das letzte Rätsel" (2004) oder Mitch Cullin in "A Slight Trick of the Mind" (2005, verfilmt 2015 als "Mr. Holmes")
Unzählige Male traten Holmes und Watson, bereits zu Lebzeiten von Arthur Conan Doyle und bis heute, im Theater, Kino, Fernsehen und im Hörspiel auf. Aktuell läuft die von der BBC produzierten Serie "Sherlock", in der Titelrolle der seltsam geschlechtslos wirkende Benedict Cumberbatch, ihm zur Seite als resigniert-skeptischer Dr. Watson und mehr als ein "Sidekick" Martin Freeman. Außerdem die amerikanische CBS-Reihe "Elementary", den Detektiv gibt dort der schlampig erscheinende Londoner Johnny Lee Miller, Dr. Watson heißt hier mit Vornamen Joan und wird von Lucy Liu verkörpert. Zwei erfolgreiche Formate, in denen Sherlock Holmes im einundzwanzigsten Jahrhundert ermittelt.
Aus der kaum zu überblickenden Reihe der Pastiches seien zuerst die Bücher von Nicholas Meyer erwähnt. "The Seven-Per-Cent Solution" (Kein Koks für Sherlock Holmes, dt. 1976) berichtet, wieder einmal nach einem angeblich eben erst aufgefundenen Manuskript von Dr. Watson, von der Begegnung des Detektivs mit Sigmund Freud und der Aufdeckung eines kaiserlich-deutschen Spionagerings in Wien. Die Verfilmung mit Laurence Olivier als Professor Moriarty brachte dem Werk größere Bekanntheit, die die Folgebände "The West End Horror" (1976) und "The Canary Trainer" (1993) nicht mehr erreichten. Der im Jahr 2011 von Anthony Horowitz verfasste Roman "Das Geheimnis des weißen Bandes" über Ermittlungen in einem zwielichtigen Waisenheim, in Wahrheit einem Bordell für Pädophile, wurde vom Nachlassverwalter, dem Sir Arthur Conan Doyle Literary Estate, unterstützt, was einem Ritterschlag gleichkam.
Wieso schreibt man die Abenteuer eines genialen, wenig sympathischen Sonderlings überhaupt weiter? Barbara Büchner, österreichische Autorin von Horror- und Fantasyromanen, arbeitet an Sherlock-Holmes-Geschichten. Zuletzt erschien 2014 der Pastiche-Roman "Sherlock Holmes und die seltsamen Särge" im Fabylon Verlag. Dass ihre Detektivgeschichten einen mystischen oder auch paranormalen Einschlag haben, führt sie auf Conan Doyle zurück, der "exzellente Geistergeschichten wie ,The Captain of the Polestar' oder ,Playing With Fire'" geschrieben habe.
Holmes tritt in Büchners Abenteuern eher als bornierter Realist auf, dem so etwas wie die zweite Gehirnhälfte, das Emotionale, fehlt. Dafür hat er Doktor Watson. Barbara Büchner ist sich nicht sicher, warum immer weitere Geschichten um Holmes erscheinen: "Eigentlich war das eine Zeit geprägt von Habgier, Imperialismus, Scheinmoral und einer grausamen Kluft zwischen Reich und Arm. Einerseits herrschte ein ,aufgeklärter' Materialismus, der das Universum in recht kindlicher Weise als simples Uhrwerk sah, andererseits war das die Hochblüte des Spiritismus." Für Pastiche-Autoren, die penibel Hintergründe recherchieren, ist und bleibt Arthur Conan Doyle eine Goldmine.
MARTIN LHOTZKY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schon seinem Erfinder war es nicht gegeben, ihn umzubringen: Kein anderer Detektiv hat ein so langes Nachleben wie Sherlock Holmes, wie ein Blick auf seine Nachfolger und Fortschreiber zeigt.
Blödsinn, Watson, Blödsinn! Was haben wir mit wandelnden Leichen zu schaffen, die nur mit einem durchs Herz getriebenen Pfahl in ihren Gräbern gehalten werden können? Das ist doch blanke Idiotie! (...) Sollen wir wirklich solchen Dingen unsere Aufmerksamkeit schenken? (...) Diese Welt ist groß genug für uns, Bewohner einer anderen Welt brauchen gar nicht erst hier anzufragen", sprach Sherlock Holmes - und hätte beinahe den Auftrag von Herrn Ferguson abgelehnt. Auf Drängen seines Freundes Doktor Watson stellte er aber doch Untersuchungen an, die unter dem reißerischen Titel "Der Vampir von Sussex" in die Kurzgeschichtensammlung "The Case-Book of Sherlock Holmes" aufgenommen wurde.
Die Vampirismus-Diagnose stellt sich als Missverständnis heraus - die besorgte Frau Ferguson hatte nur Gift aus dem Blutkreislauf ihres Neugeborenen gesaugt, konnte dies dem entsetzten Gatten aber nicht mitteilen. Obgleich Sir Arthur Conan Doyle den Fall 1924 veröffentlichte, also lange Zeit nachdem er selbst sich für Spiritismus zu begeistern begonnen hatte, bleibt sein berühmter literarischer Held mit den Ermittlungsmethoden auf dem Boden wissenschaftlicher Tatsachen. Die Auftritte des weltbekannten Detektivs sind durchaus überschaubar: vier längere Erzählungen zwischen 1887 und 1915 sowie sechsundfünfzig Kurzgeschichten, in "The Strand Magazine" veröffentlicht zwischen 1891 und 1927, dazu vier kurze Erzählungen, in denen entweder Sherlock Holmes erwähnt wird oder einen Gastauftritt hat, sowie eine im Nachlass entdeckte Skizze ("The Adventure of the Tall Man").
Anders als Charles Dickens bei seinem unvollendeten Roman "The Mystery of Edwin Drood" starb Doyle nicht während der Niederschrift; diese wird um 1900 datiert, Doyle lebte noch dreißig Jahre länger. Ähnlich aber wie im Falle Dickens' versuchten sich nachgeborene Schriftsteller daran, den Plot kongenial fortzusetzen. Und nicht nur das: Der Privatdetektiv aus der Baker Street 221B fand seit der Veröffentlichung der ersten Geschichten im "Strand" - die beiden früheren Erzählungen "A Study in Scarlet" und "The Sign of Four" blieben bis dahin Ladenhüter - derart viele Anhänger, dass sich nicht nur Doyle seinen größten Triumph zeitweise vom Hals schaffen wollte. Er ließ Holmes in die Reichenbachfälle stürzen, was er später als nur vorgetäuscht wegerklärte.
Zahlreiche Adaptionen anderer Autoren waren die Folge: Schon Doyles Sohn und Biograph Adrian und der Kriminalschriftsteller John Dickson Carr entwickelten 1954 aus einigen, in den originalen Geschichten meist nur kurz erwähnten übrigen Fällen des Privatdetektivs unter dem Titel "The Exploits of Sherlock Holmes" zwölf weitere Abenteuer. Spätestens seit damals sind die neuen Fälle für das Baker-Street-Duo Legion. Mit der Eröffnung des Sherlock Holmes Museums im Jahre 1990 ist "221B" übrigens keine rein fiktive Anschrift mehr. Wenn die Berechnungen der Holmes-Biographen stimmen, wurde er um 1854 geboren und starb entweder im Ersten Weltkrieg, wie manche behaupten, oder um 1950, folgt man Michael Chabon in "Das letzte Rätsel" (2004) oder Mitch Cullin in "A Slight Trick of the Mind" (2005, verfilmt 2015 als "Mr. Holmes")
Unzählige Male traten Holmes und Watson, bereits zu Lebzeiten von Arthur Conan Doyle und bis heute, im Theater, Kino, Fernsehen und im Hörspiel auf. Aktuell läuft die von der BBC produzierten Serie "Sherlock", in der Titelrolle der seltsam geschlechtslos wirkende Benedict Cumberbatch, ihm zur Seite als resigniert-skeptischer Dr. Watson und mehr als ein "Sidekick" Martin Freeman. Außerdem die amerikanische CBS-Reihe "Elementary", den Detektiv gibt dort der schlampig erscheinende Londoner Johnny Lee Miller, Dr. Watson heißt hier mit Vornamen Joan und wird von Lucy Liu verkörpert. Zwei erfolgreiche Formate, in denen Sherlock Holmes im einundzwanzigsten Jahrhundert ermittelt.
Aus der kaum zu überblickenden Reihe der Pastiches seien zuerst die Bücher von Nicholas Meyer erwähnt. "The Seven-Per-Cent Solution" (Kein Koks für Sherlock Holmes, dt. 1976) berichtet, wieder einmal nach einem angeblich eben erst aufgefundenen Manuskript von Dr. Watson, von der Begegnung des Detektivs mit Sigmund Freud und der Aufdeckung eines kaiserlich-deutschen Spionagerings in Wien. Die Verfilmung mit Laurence Olivier als Professor Moriarty brachte dem Werk größere Bekanntheit, die die Folgebände "The West End Horror" (1976) und "The Canary Trainer" (1993) nicht mehr erreichten. Der im Jahr 2011 von Anthony Horowitz verfasste Roman "Das Geheimnis des weißen Bandes" über Ermittlungen in einem zwielichtigen Waisenheim, in Wahrheit einem Bordell für Pädophile, wurde vom Nachlassverwalter, dem Sir Arthur Conan Doyle Literary Estate, unterstützt, was einem Ritterschlag gleichkam.
Wieso schreibt man die Abenteuer eines genialen, wenig sympathischen Sonderlings überhaupt weiter? Barbara Büchner, österreichische Autorin von Horror- und Fantasyromanen, arbeitet an Sherlock-Holmes-Geschichten. Zuletzt erschien 2014 der Pastiche-Roman "Sherlock Holmes und die seltsamen Särge" im Fabylon Verlag. Dass ihre Detektivgeschichten einen mystischen oder auch paranormalen Einschlag haben, führt sie auf Conan Doyle zurück, der "exzellente Geistergeschichten wie ,The Captain of the Polestar' oder ,Playing With Fire'" geschrieben habe.
Holmes tritt in Büchners Abenteuern eher als bornierter Realist auf, dem so etwas wie die zweite Gehirnhälfte, das Emotionale, fehlt. Dafür hat er Doktor Watson. Barbara Büchner ist sich nicht sicher, warum immer weitere Geschichten um Holmes erscheinen: "Eigentlich war das eine Zeit geprägt von Habgier, Imperialismus, Scheinmoral und einer grausamen Kluft zwischen Reich und Arm. Einerseits herrschte ein ,aufgeklärter' Materialismus, der das Universum in recht kindlicher Weise als simples Uhrwerk sah, andererseits war das die Hochblüte des Spiritismus." Für Pastiche-Autoren, die penibel Hintergründe recherchieren, ist und bleibt Arthur Conan Doyle eine Goldmine.
MARTIN LHOTZKY
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