Ein Bauernhof an der Ostsee um das Jahr 1000: Vergeblich wartet der Wikingerjunge Erik auf die Rückkehr seines großen Bruders Leif, der sich vor vielen Monaten auf Vikingfahrt begeben hat. Als ein Skalde, ein reisender Dichter, des Weges kommt, macht Erik sich mit ihm auf nach Haithabu, der großen Hafenstadt, um dort nach seinem Bruder zu suchen. In diesem atmosphärischen Sachbilderbuch begleiten wir Erik auf seiner Reise und lernen das Leben der sagenumwobenen Nordmänner kennen, die entgegen ihrem Ruf nicht nur gefürchtete Plünderer, sondern zuallererst Bauern, Händler, Seeleute und Entdecker waren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2018Wo bleiben die Wikinger?
Frank Schwieger schickt einen Jungen nach Haithabu
Wenn über eine mittelalterliche Siedlung buchstäblich Gras wächst, ohne dass in den folgenden Jahrhunderten irgendjemand dort neue Gebäude hinstellt, dann ist das ein Glücksfall: nicht nur für die archäologische Forschung, die dort ausgezeichnete Grabungsbedingungen vorfindet, sondern auch für jene, die das Gelände besuchen und es in ihrer Phantasie mit den früheren Bewohnern bevölkern können, ungestört von modernen Gebäuden oder Gerätschaften. Wovon sich diese Phantasie nährt, hängt wiederum davon ab, wie die Ergebnisse der Forscher für das Publikum aufbereitet werden, und wer etwa das Gelände der untergegangenen Wikingerstadt Haithabu bei Schleswig besucht, eine große Weidefläche im Halbrund eines Erdwalls, findet dazu in einem nahen, reichbestückten Museum außerhalb des Walls ausreichend Anregung (F.A.Z. vom 30. Juni): Da werden Werkzeuge für den täglichen Gebrauch und kostbare Schmuckstücke ausgestellt, Münzen, Waffen, Musikinstrumente und Spiele, da ist eine Glocke zu finden und sogar der Rumpf eines vor vielen Jahrhunderten im Hafen von Haithabu gesunkenen Wikingerschiffs.
Ohne all dies wäre auch das Buch "Erik, der Wikingerjunge" undenkbar, das, wie am Ende des schmalen Bandes vermerkt wird, in Zusammenarbeit mit dem Museum in Haithabu entstanden ist. Frank Schwieger erzählt darin eine Geschichte von wenigen Tagen, in denen der Junge Erik auf die Suche nach seinem Bruder Leif geht: Der Bauernsohn aus dem südlichen Ostseegebiet war mit anderen auf eine Wikingerfahrt gegangen und nun ausgeblieben, obwohl sein Schiff längst wieder zurückerwartet worden war. Als ein Skalde namens Morten den Hof von Eriks Vater besucht, nimmt er den Jungen mit nach Haithabu, denn wenn irgendwo Nachrichten von Leifs Schiff ankommen, dann in dem großen Handelsplatz mit seinem gut frequentierten Hafen.
Der erfahrene Reisende unterwegs mit einem Jungen, der neugierig auf die Welt ist: Das ist keine besonders originelle Konstruktion, aber sie erweist sich auch hier als effektiv, um Wissen über die Lebensumstände der Wikingerzeit - vom Alltag bis hin zu den religiösen Vorstellungen - zu vermitteln. Erik fragt, Morten antwortet, und was der Vertiefung bedarf, teilt der Autor in längeren Exkursen am Seitenrand mit. Das ist notwendig knapp, manchmal ein bisschen zu knapp, aber oft genug erhellend und trotz der Flut an Wikingerliteratur auch überraschend, und das umso mehr, je detaillierter das Miteinander der Menschen von Haithabu beschrieben wird. Und wo es sich anbietet, besondere Exponate wie die berühmten Runensteine, die auf dem Gelände der Stadt gefunden worden sind, in die Handlung einzubauen und zu erklären, da ergreift der Autor diese Gelegenheit mit beiden Händen.
Die Zeichnungen von Janna Steinmann sollen über die im Buch dargestellten Realien informieren, zugleich aber die eigentliche Handlung illustrieren und schon daher den infografischen Elementen des Zeichenstils etwas anderes hinzufügen. Entsprechend nimmt auch der Leser etwa die dargestellten Menschen unter zwei Perspektiven wahr: Er sucht in ihnen die konkreten Figuren der Handlung und zugleich den Typus, also sowohl den bestimmten Händler, von dem im Text die Rede ist, wie auch den Händler, den es damals überall in Nordeuropa gegeben hat. Vor allem aber schaut man den abgebildeten Wikingern auf die Finger: Hat es ein solches Messer, wie Erik es in der Rechten hält, um einen Holzstab damit zu bearbeiten, tatsächlich gegeben, fragt man sich, oder das Angelgerät des Fischers, den Webstuhl von Eriks Schwester, das Werkzeug von Eriks Vater, das er zum Auffrischen des Reetdachs braucht, und vieles mehr?
Mitunter wird der sachliche Tenor dieser Zeichnungen durch übertrieben dramatische Akzente kontrastiert, durch überdimensionierte Gesichter oder Figuren etwa, die aus den Panoramen herausstechen, ohne ihnen zugleich ein Zentrum zu geben. Wettgemacht wird das aber durch die gekonnt aufs Wesentliche reduzierten Karten, die etwa die Handelswege der Wikinger, ihre Siedlungsgebiete oder auch die Umgebung von Haithabu zeigen.
Für einen Besuch im dortigen Museum jedenfalls ist der Band ein ausgezeichneter Begleiter. Und die Geschichte Eriks dürfte nicht die letzte sein, die sich erzählen ließe, wenn man sich den Eindrücken der Ausstellung am Haddebyer Noor hingibt.
TILMAN SPRECKELSEN
Frank Schwieger: "Erik, der Wikingerjunge".
Mit Illustrationen von Janna Steinmann.
Gerstenberg Verlag,
Hildesheim 2018. 48 S., geb., 15,-[Euro]. Ab 8 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Schwieger schickt einen Jungen nach Haithabu
Wenn über eine mittelalterliche Siedlung buchstäblich Gras wächst, ohne dass in den folgenden Jahrhunderten irgendjemand dort neue Gebäude hinstellt, dann ist das ein Glücksfall: nicht nur für die archäologische Forschung, die dort ausgezeichnete Grabungsbedingungen vorfindet, sondern auch für jene, die das Gelände besuchen und es in ihrer Phantasie mit den früheren Bewohnern bevölkern können, ungestört von modernen Gebäuden oder Gerätschaften. Wovon sich diese Phantasie nährt, hängt wiederum davon ab, wie die Ergebnisse der Forscher für das Publikum aufbereitet werden, und wer etwa das Gelände der untergegangenen Wikingerstadt Haithabu bei Schleswig besucht, eine große Weidefläche im Halbrund eines Erdwalls, findet dazu in einem nahen, reichbestückten Museum außerhalb des Walls ausreichend Anregung (F.A.Z. vom 30. Juni): Da werden Werkzeuge für den täglichen Gebrauch und kostbare Schmuckstücke ausgestellt, Münzen, Waffen, Musikinstrumente und Spiele, da ist eine Glocke zu finden und sogar der Rumpf eines vor vielen Jahrhunderten im Hafen von Haithabu gesunkenen Wikingerschiffs.
Ohne all dies wäre auch das Buch "Erik, der Wikingerjunge" undenkbar, das, wie am Ende des schmalen Bandes vermerkt wird, in Zusammenarbeit mit dem Museum in Haithabu entstanden ist. Frank Schwieger erzählt darin eine Geschichte von wenigen Tagen, in denen der Junge Erik auf die Suche nach seinem Bruder Leif geht: Der Bauernsohn aus dem südlichen Ostseegebiet war mit anderen auf eine Wikingerfahrt gegangen und nun ausgeblieben, obwohl sein Schiff längst wieder zurückerwartet worden war. Als ein Skalde namens Morten den Hof von Eriks Vater besucht, nimmt er den Jungen mit nach Haithabu, denn wenn irgendwo Nachrichten von Leifs Schiff ankommen, dann in dem großen Handelsplatz mit seinem gut frequentierten Hafen.
Der erfahrene Reisende unterwegs mit einem Jungen, der neugierig auf die Welt ist: Das ist keine besonders originelle Konstruktion, aber sie erweist sich auch hier als effektiv, um Wissen über die Lebensumstände der Wikingerzeit - vom Alltag bis hin zu den religiösen Vorstellungen - zu vermitteln. Erik fragt, Morten antwortet, und was der Vertiefung bedarf, teilt der Autor in längeren Exkursen am Seitenrand mit. Das ist notwendig knapp, manchmal ein bisschen zu knapp, aber oft genug erhellend und trotz der Flut an Wikingerliteratur auch überraschend, und das umso mehr, je detaillierter das Miteinander der Menschen von Haithabu beschrieben wird. Und wo es sich anbietet, besondere Exponate wie die berühmten Runensteine, die auf dem Gelände der Stadt gefunden worden sind, in die Handlung einzubauen und zu erklären, da ergreift der Autor diese Gelegenheit mit beiden Händen.
Die Zeichnungen von Janna Steinmann sollen über die im Buch dargestellten Realien informieren, zugleich aber die eigentliche Handlung illustrieren und schon daher den infografischen Elementen des Zeichenstils etwas anderes hinzufügen. Entsprechend nimmt auch der Leser etwa die dargestellten Menschen unter zwei Perspektiven wahr: Er sucht in ihnen die konkreten Figuren der Handlung und zugleich den Typus, also sowohl den bestimmten Händler, von dem im Text die Rede ist, wie auch den Händler, den es damals überall in Nordeuropa gegeben hat. Vor allem aber schaut man den abgebildeten Wikingern auf die Finger: Hat es ein solches Messer, wie Erik es in der Rechten hält, um einen Holzstab damit zu bearbeiten, tatsächlich gegeben, fragt man sich, oder das Angelgerät des Fischers, den Webstuhl von Eriks Schwester, das Werkzeug von Eriks Vater, das er zum Auffrischen des Reetdachs braucht, und vieles mehr?
Mitunter wird der sachliche Tenor dieser Zeichnungen durch übertrieben dramatische Akzente kontrastiert, durch überdimensionierte Gesichter oder Figuren etwa, die aus den Panoramen herausstechen, ohne ihnen zugleich ein Zentrum zu geben. Wettgemacht wird das aber durch die gekonnt aufs Wesentliche reduzierten Karten, die etwa die Handelswege der Wikinger, ihre Siedlungsgebiete oder auch die Umgebung von Haithabu zeigen.
Für einen Besuch im dortigen Museum jedenfalls ist der Band ein ausgezeichneter Begleiter. Und die Geschichte Eriks dürfte nicht die letzte sein, die sich erzählen ließe, wenn man sich den Eindrücken der Ausstellung am Haddebyer Noor hingibt.
TILMAN SPRECKELSEN
Frank Schwieger: "Erik, der Wikingerjunge".
Mit Illustrationen von Janna Steinmann.
Gerstenberg Verlag,
Hildesheim 2018. 48 S., geb., 15,-[Euro]. Ab 8 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main