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Statt des Staates regieren im Norden Mexikos seit Jahren Angst und Schrecken. Die Zivilgesellschaft hat privatisiert, die Akteure auf dem Drogenmarkt - hier heißen sie Narcos - haben ihren Anspruch auf das Gewaltmonopol durchgesetzt. Heute ist die Region ein Krisengebiet. Die Ethnologin Jeanette Erazo Heufelder hat die Gegend in den Jahren 2010 und 2011 für mehrere Wochen besucht. An jeder der knapp zehn Stationen von Culiacan bis in die Grenzstadt Ciudad Juarez trifft sie auf die Spuren von Gewalt und spricht mit Opfern. Manche Kinder, so berichtet sie, gewöhnen sich an die nächtliche Geräuschkulisse eines Kriegsgebiets. Tagsüber gilt es, im Straßenverkehr besondere Vorsicht zu üben. Wenn der Vordermann an einer grünen Ampel stehen bleibt, sollte man sich das Hupen verkneifen. Vielleicht hat der Verkehrssünder mit seinem Beifahrer gewettet, ob überhaupt jemand hupt. Dann steigt er aus und schießt auf den Störenfried. Die Schilderung ständiger Todesangst durch nüchtern aneinandergereihte Geschichten überzeugt zwar, doch mit Hintergrundinformationen geizt die Autorin. Eigentlich möchte man nicht erst auf einer der letzten Seiten erfahren, dass siebenundachtzig Prozent aller illegalen Waffen, die in Mexiko in den vergangenen Jahren beschlagnahmt wurden, aus den Vereinigten Staaten stammen. Die liberale Waffenpolitik des großen Nachbarn ist in Kombination mit seiner restriktiven Drogenpolitik für die Entfesselung dieser absoluten kriminellen Ökonomie mitverantwortlich. Doch immerhin: Während in der Wirklichkeit die Bevölkerung entmündigt wird, gibt Erazo Heufelder den Opfern die Hauptrolle. (Jeanette Erazo Heufelder: "Drogenkorridor Mexiko". Eine Reportage. Transit Verlag, Berlin 2011. 240 S., geb., Abb., 19,80 [Euro]). gran
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Wie der Rauschgifthandel in Mexiko den Rechtsstaat besiegt hat: Zwei Reportagen
Dies ist die Geschichte einer Grenze. Sie beginnt in Culiacán, der Hauptstadt des Bundesstaats Sinaloa im Nordwesten Mexikos, und endet in Ciudad Juárez, der für Tausende Tote berüchtigten Metropole in unmittelbarer Nachbarschaft zu den USA. Diese Grenze führt durch Gegenden, wo das Drogengeschäft zum Kult und die Politik zum Feind geworden sind. Die Grenze erstreckt sich durch die Heimat einer Gesellschaft, die nicht protestiert, weil sie noch nie angehört worden ist. Am Drogenkorridor Mexikos sind alle vergessen worden.
Diese Grenze haben zwei mutige Frauen bereist: die deutsch-ecuadorianische Ethnologin Jeanette Erazo Heufelder und die mexikanische investigative Journalistin Anabel Hernández. Offenbar ohne voneinander zu wissen, haben beide dort recherchiert und Bücher geschrieben, die die Öffentlichkeit erschüttern wollen. Was steckt hinter den Bildern von Massakrierten und Enthaupteten? Den Orten, wo der Ausnahmezustand zur Normalität geworden ist, geben beide Autorinnen ein Gesicht.
Erazo Heufelder lernte eine „ihrer Poesie beraubten Landschaft“ kennen. Weil die deutsche Presse nur Momentaufnahmen einer unterbelichteten Realität liefere, reiste sie dorthin und sprach mit Bewohnern der Kriegszonen, mit den Frauen von Gefängnisinsassen und mit Schulkindern, die Schießereien überlebt haben. So entstand ihre Reportage „Drogenkorridor Mexiko“. Anabel Hernández ihrerseits hat Quellen im Herzen der polizeilichen und politischen Korruption aufgetan und Unterlagen gesammelt, wo niemand sonst Einblick gewinnt. Den Verwicklungen zwischen Kartellen und Staat ist sie nachgegangen. Ihr Buch „Los señores del narco“ handelt vom Untergang des Rechtsstaats. 2011 war es das meistverkaufte Buch in Mexiko.
Beide Autorinnen enthüllen ein Mexiko, das in Europa nahezu niemand kennt. Die Reise beginnt in Culiacán, der Wiege der Opiumproduktion, wo das Rauschgiftgeschäft bereits Ende des 19. Jahrhunderts blühte und schon immer die Gewalt geherrscht hat. Dort reist Erazo Heufelder mit dem Bus, sie erreicht Baridaguato, „tiefes Mafialand“ und Rückzugsgebiet von Joaquín „El Chapo“ Guzmán, dem Boss des Sinaloa-Kartells. Erazo Heufelders Darstellung ist mitreißend, sie schildert die befremdende Stille, in der diese verarmten Städtchen des Kriegs leben. Sie fährt durch Horte der Straflosigkeit wie Creel, Namiquipa und Ciudad Juárez, wo selbst sie überfallen wird. In Cuauhtémoc erfährt sie, wie Jugendliche nach dem Motto „Auffallen-um-jeden-Preis“ dem schnellen Geld hinterherjagen und sich stolz als Staatsfeinde gerieren.
Das Mexiko der Narco-Mode kann bunt sein: „Männer tragen Stetsons, Cowboystiefel und Rodeohemden, und in den Schaufensterauslagen sieht man noch mehr Stetsons, Cowboystiefel und Rodeohemden.“ Eine Frage drängt sich auf: „Was ist los in einem Land, das die mit Smaragden und Brillanten besetzte goldene Pistole eines verstorbenen Drogenbosses mit Sicherheitsaufwand ausstellt, als handle es sich um die englischen Kronjuwelen?“ Erazo Heufelder hat ein Mexiko kennengelernt, das sich selbst belügt, eine „zutiefst konservative, verschlossene Mentalität“, die dazu anhält, zu verdrängen. „Alles ruhig. Hier passiert nichts. Es gibt keine Probleme. Keine Gewalt. Nirgendwo. Das soll heißen: Alles soll bleiben wie es ist. Nur die Kritik soll endlich verebben“, so Erazo Heufelder.
Wer sich mit ihr auf diese Reise durch die Anbau- und Schmuggelparadiese des Westens begibt, weiß freilich, dass die mexikanische Gesellschaft erst dann begann unterzugehen, als der Staat in Sachen Bildung, Justiz und Institutionalisierung gescheitert war. Hätte Mexiko die Kartelle nicht über Jahrzehnte, vor allem während der siebzig Jahre der Alleinherrschaft der korrupten PRI-Partei, toleriert, wäre das Schicksal des Landes heute ein anderes. Aber seit 2006 findet ein blutiger Krieg statt, buchstäblich ein Krieg zwischen Brüdern, zwischen armen Brüdern. Ein Krieg der Armen.
So bleibt die Frage: Wer profitiert von dem ganzen Blut? Die Bevölkerung jedenfalls nicht: Mehr als 40 000 Tote hat der Krieg bis heute gefordert. Auch die USA und Europa profitieren nicht, denn der Drogenhandel floriert nach wie vor. Und schließlich auch nicht die Drogenorganisationen selbst, die in aller Stille effizienter operieren würden. Wem bringt dieser Krieg also irgendetwas?
Von der Grenze zwischen Rechtsstaat und Anarchie hat Anabel Hernández eine Antwort mitgebracht. Auch sie bereiste Dörfer, die von den „sozialen Programmen stets vergessen“ werden. Doch sie war nicht als Reporterin dort, sondern fünf Jahre auf investigativer Recherche. Sie hat Verbindungsmänner getroffen, Staatsanwälte, Agenten von DEA und CIA. Anhand Dutzender Nachweise attackiert sie nun die Spitzen von Politik und Sicherheit: Der Präsident Felipe Calderon schütze das Sinaloa-Kartell. Der Ex-Präsident Vicente Fox habe die Kartelle am Pazifik geschont – gegen Schmiergeld. Und der Polizei-Chef Genaro García Luna würde die Sicherheitsverwaltung am liebsten „El Chapo“ überlassen.
„Los señores del narco“ ist ein Buch darüber, wie die Herren des Staates zu Dienern der Narcos geworden sind – wie sie die Kontrolle über eine der größten Handelsrouten der Welt in deren Hände gelegt haben.
Die Behörden vom Drogenkorridor wollten nicht verstehen, klagt Anabel Hernández, dass hier nicht nur die Pflanzen für den Drogenhandel herangezüchtet werden, sondern auch die Kapos der Zukunft: kleine Jungs, die weder Richter noch Ärzte, sondern Drogenhändler werden wollen.
CAMILO JIMÉNEZ
JEANETTE ERAZO HEUFELDER: Drogenkorridor Mexiko. Eine Reportage. Transit Verlag, Berlin 2011. 240 Seiten. 19,80 Euro.
ANABEL HERNÁNDEZ: Los señores del narco. Grijalbo, Mexiko-Stadt 2011 588 S., 15,95 Euro (Taschenbuch).
Mexikos Politiker, schreibt
Anabel Hernández, seien
Diener der Drogenbosse.
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