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Produktdetails
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 245
  • Erscheinungstermin: 23. Dezember 2008
  • Deutsch, Englisch
  • Abmessung: 245mm x 285mm
  • Gewicht: 1692g
  • ISBN-13: 9783865217257
  • ISBN-10: 3865217257
  • Artikelnr.: 23899981
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2009

Hier ist das Fleisch nicht Wort geworden
Hintern im Mondlicht: Seit „Feuchtgebiete” sind Mädchensexbücher so erfolgreich, dass es jetzt sogar eine extra Verlagsreihe dafür gibt
Es sind die Frauen, die lesen, das ist bekannt. Allerdings bekommen die Frauen nicht immer das, was sie lesen wollen. Junge Frauen zum Beispiel lesen gerne Romane über Sex aus der Sicht von jungen Frauen, sagt zumindest Jennifer Hirte vom Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Davon gebe es allerdings viel zu wenige, und schon gar keine guten. Schwarzkopf & Schwarzkopf will diese Lücke nun mit einer eigenen Reihe schließen. Sie trägt den etwas hausbackenen Namen Anais und wird bestückt von Frauen zwischen 18 und Mitte 30, die über Sex und Erotik schreiben. Vier Romane sind gerade herausgekommen, zwei von deutschen Autorinnen, zwei Lizenzen. Weitere acht Bücher folgen im Frühjahr.
Die Bücher handeln von jungen Frauen, die Adele, Julia oder Raquel heißen und Sex mit dem Handwerker, einem Transsexuellen, dem besten Kumpel, der Nachbarin, einer Domina oder allen zusammen haben. Es kommen Peitschen, Wachskerzen, Schlagsahne, Wäscheklammern, Seidenschals, Intimpiercings und schwarze Riesendildos vor, und es geht zum Beispiel darum, dass Lippen aussehen „wie pralle, reife Beeren” oder „sein Schwanz im Takt mit ihrer viel zu lange schon vernachlässigten Muschi pochte”.
Nicht, dass das uninteressant wäre. Im Roman „Spieler wie wir” von Cornelia Jönsson, in dem sich eine junge Frau namens Pauline in der Sado-Maso-Szene umtut, erfahren wir zum Beispiel, dass Sadomasochisten kaum One-Night-Stands haben. In der kurzen Zeit eines One-Night-Stands könnten sich nämlich nicht die für S/M-Spiele erforderlichen Machtverhältnisse ausbilden. In Rebecca Martins „Frühling und so” begleiten wir eine 18-Jährige, die den besten Freund ihres Ex-Freundes verführt, außerdem den Freund ihrer Freundin, einen griechischen Barbesitzer, und einen kolumbianischen Musiker. Eine Köchin, die nichts anbrennen lässt, ist wiederum die Hauptfigur von Anna Clares Roman „Adele hat den schönsten Mund”. Und in der Geschichtensammlung „Lara, Jill & Lea” von Jaci Burton, Shannon Stacey und Ann Wesley Hardin nimmt jemand an einer Benefizveranstaltung teil, „bei der es darum ging, wie viele Stunden man masturbiert”.
Verantwortlich für das Programm von Anais ist Jennifer Hirte. Sie hat eine Magisterarbeit über Frauen und Selbstbefriedigung geschrieben und war bei Schwarzkopf & Schwarzkopf für die Lizenzen zuständig, ehe sie die Erotik-Schiene übernahm. Ihr Büro befindet sich in der Berliner Kastanienallee, die wegen des sich hier darbietenden Kreativprekariats auch Castingallee genannt wird. Auch sonst hat Jennifer Hirte einiges zu erzählen. Erotische Literatur sei seit etwa 2005 ein Wachstumsmarkt. In Großbritannien betreibt ein Verlag wie Virgin Books drei Imprints für erotische Romane, darunter eines, das sich speziell an junge Leute richtet. In Amerika, einem Land der Vielleserinnen und -schreiberinnen erotischer Romane, würden die Bücher überhaupt gleich im Supermarkt verkauft. Vor allem Frauen bestreiten dieses Genre, die paar männlichen Autoren, die es gibt, legen sich stets ein weibliches Pseudonym zu.
Inhaltlich dominierten die längste Zeit historische Geschichten im Gothic-Gewand, Werwölfe und Aliens, „vermutlich weil Aliens mehr Schwänze haben und man als Werwolf länger kann”, sagt Hirte. Wenn es ein wenig hipper zugehe, handle es sich meistens um Galeristinnen, die sich in einen Künstler verlieben, „und auf den Covern dieser Bücher sind immer Silhouetten von einem Hintern im Mondlicht”. Den Hintern im Mondlicht will Anais nun etwas „Jüngeres und Cooleres” entgegensetzen. „Aufregende Storys, komplexe Charaktere und vielfältige Neigungen” verspricht der Verlagsprospekt (auf dessen Cover eine nackte Schulter auf einer Blumenwiese zu sehen ist).
Wie man das Genre erfolgreich sprengt, hat Charlotte Roche mit „Feuchtgebiete” bewiesen, dem bestverkauften Buch des Jahres 2008. Junge Frau plus Sex plus schmutzige Dinge – das gilt auf dem Literaturmarkt seither als eine Art Zauberformel, die man sich nur zunutze machen muss. In welches Verlagsprogramm man blickt, es findet sich immer eine junge Frau, die aus ihrem Sexleben erzählt. Bei Ullstein ist das Buch „Fucking Berlin – Studentin und Teilzeithure” erschienen, Kiepenheuer und Witsch (das ist der Verlag, der „Feuchtgebiete” einst ablehnte) bringt jetzt den Titel „Bitterfotze” heraus. Neues Sexspiel, neues Glück.
Und was macht einen guten erotischen Roman aus? Jennifer Hirte nennt drei Dinge: „eine interessante Protagonistin, einen nachvollziehbaren männlichen Charakter und eine eigene Sprache.” Interessante Protagonistin, nun ja, da wäre Lara aus der gleichnamigen Erzählung von Jaci Burton: „Himmel, wie schön sie war. Die Bluse offen, die Brüste bloß . . . und der Rock war weit aus der Bluse gerutscht.” Die männlichen Charaktere sind allerdings extrem nachvollziehbar. „Allein beim Gedanken, wie sich sein Schwanz in ihre enge, heiße Höhle bohrte, wurden seine Eier hart und waren kurz vorm Explodieren.” Die eigene Sprache, die Hirte einfordert, ist dagegen ein echtes Problem der Reihe. Das beginnt schon damit, wie man das Ding nennt. Spätestens beim fünften „hämmernden Schwanz”, der in eine „schmatzende Muschi fährt”, wird einem klar, warum das Medium der Pornographie nun mal das Bild ist. Bei Anais ist das Fleisch jedenfalls nicht Wort geworden.
Ganz gut hat das noch Cornelia Jönsson in „Spieler wie wir” hingekriegt. Ob sich da eine Frau bei einer Freundin ausheult, weil ihr Lebensgefährte eine andere Frau „begurkt” hat („Aber ich will auch eine begurkte Möse haben!”) oder die Wohnung vor dem Besuch der Mutter „entsext” werden muss („Gut, Peitschen und Handschellen müssen weg. Aber was ist beispielsweise mit Kochlöffeln?”) – Jönssons Sado-Maso-Welt entbehrt nicht der sprachlichen Komik. Und die Zeit zwischen den ermüdend langen Sexszenen nützt Jönsson, um sich dem Milieu Kreuzberger Akademiker in der Midlife-Crisis zu widmen. Jönsson beschreibt die depressiven Erben der sexuellen Revolution, die nicht wissen, ob sie nun ausgepeitscht werden wollen oder doch lieber zum Yoga.
Ansonsten kann man schwer sagen, was die Anais-Romane erzählen wollen. Anders als in den „Feuchtgebieten”, deren urwüchsige Sexualpraktiken in eine Art Zurück-zur-Natur-Diskurs eingebettet waren, steht Sexualität in den Anais-Romanen für nichts. Sie ist kein Spiegel von Machtverhältnissen, dazu sind die Romane zu harmlos. Es geht auch nicht um die Emanzipation weiblichen Begehrens, die Protagonistinnen sind allesamt erotische Alphamädchen, die sich nehmen oder sich nehmen lassen. Sex hat man, weil es sich gerade ergibt. Vielleicht ist das ja die Botschaft des neo-erotischen Romans: Dass weibliche Sexualität gar nichts transportieren muss, sondern für sich selbst stehen kann.
Das geht dann so: Junge Frau trifft einen Busfahrer und hat Sex; junge Köchin schnappt sich einen Bisexuellen in der Restaurantküche und wird fast erwischt; junge Frau hat Sex auf einem Autositz und klemmt dabei fest. Sex ist für jede dieser jungen Frauen eine Art Abenteuer, das es zu bestehen gilt. Am Ende geht sie (sexuell) gestärkt daraus hervor, vielleicht wird eines Tages auch geheiratet. Und mit einem Mal wird einem klar, warum sich dieses Genre an junge Frauen richtet. Die Geschichten erinnern einen an die naive Fröhlichkeit von Pony-Romanen. Nur dass das Mädchen nicht mit seinem Pferd durch Dick und Dünn geht, sondern mit dem Klempner oder Busfahrer durch Peitschensex und Gruppenorgasmen. Schon die Titel klingen wie die Fortsetzung von Wendy- und Conny-Büchern: „Anna und ihre Männer”, „Lucy früh am Morgen”, „Charlottes heißer Sommer”.
„Ich lauere Ida vor der Badezimmertür auf und mein Leben ist ein rosa-silber Barbieglitzer-Pony”, heißt es in Rebecca Martins Roman „Frühling und so.” Rebecca Martin ist eine 18-jährige Abiturientin aus Berlin-Kreuzberg und hat noch das interessanteste Mädchensexbuch geschrieben. Es geht um junge Leute in Berlin, die von Party zu Party ziehen, ständig miteinander telefonieren und sämtliche Codes des Großstadtlebens kennen. So sicher sich diese Jugendlichen durch die unterschiedlichsten Subkulturen bewegen, so verloren wirken sie auf der anderen Seite. Sex ist etwas, das sich ergibt oder auch nicht, so wie man eine Einladung zu einem Casting bekommt oder sich auf einer Party betrinkt. „Dann tanze ich mit Tobias. Vielleicht flirte ich mit Tobias, so genau weiß ich das nicht. Jedenfalls sagt er irgendwann: ‚Das geht nicht, ich habe eine Freundin‘ . . . und ich antworte irgendetwas Blödes wie: ‚Okay dann tanzen wir halt‘, weil ich einerseits enttäuscht bin, andererseits sowieso nicht existiere.”
Anders als es in den meist lüsternen Porträts der jungen Autorin zu lesen war, stellt Rebecca Martin Sexualität nicht in den Vordergrund. „Frühling und so” ist das Porträt einer Jugend, die von ihren Eltern alle Freiheiten bekommen hat und trotzdem nicht aus ihrer Haut kann. Sex ist nur eine von vielen verschiedenen Möglichkeiten, sich dem behüteten Leben für einen Moment zu entziehen. Der Schlüsselsatz lautet: „Wenn ich dagegen Dinge unternehme, die aus dem Alltag herausfallen, einen Film drehen zum Beispiel, an einem Workshop teilnehmen, eine Reise machen, mit einem Mann schlafen – ja, mit Männern schlafen gehört auch dazu –, bilde ich mir ein, glücklich zu sein.” Rebecca Martins Debüt wird ihre weibliche Zielgruppe finden. Und wenn es nur Mütter sind, die wissen wollen, wie ihre jugendlichen Töchter ticken. VERENA MAYER
Wenn es hipper zugeht, handelt es sich meistens um Galeristinnen, die sich in einen Künstler verlieben.
Die eigene Sprache ist ein echtes Problem. Das beginnt schon damit, wie man das Ding nennt.
Die Soziologie war in den sechziger Jahren eines der beliebtesten Studienfächer und auch der Schulabbrecher Jerry Berndt war fasziniert. Statt ein Studium zu absolvieren, wurde er Fotograf. In den Kaschemmen des Rotlichtviertels von Boston entstand der Kern einer Arbeit, die das Fotozentrum C/O Berlin nun als erste eigene Buchpublikation herausgab (JERRY BERNDT: „Insight”, Steidl Verlag, Göttingen 2008, 248 Seiten, 42 Euro, die gleichnamige Ausstellung läuft bis 15.2., Info: www.co-berlin.info). Berndts Blicke in die Nacht sind heftig und schließen die Lücke zwischen Robert Franks „Americans” und Larry Clarks „Tulsa”. eye
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2009

Irgendwo in Amerika
Jerry Berndt und Stephen Shore wollen die Welt anders sehen. Jetzt entdeckt man ihre Fotos neu

Es war eine schlechte Gegend, in die Jerry Berndt hineingeboren wurde, und es war eine schlechte Zeit. 1943 kam er in Milwaukee zur Welt, sein Vater betrieb eine Kneipe in der South Side, dem Arbeiter- und Einwandererbezirk. Berndt schloss sich früh der Antivietnamkriegsbewegung an, arbeitete mit dem Pazifisten Paul Goodman zusammen und wurde, anfangs eher als fotografierender Soziologe, zu einem der wenigen Fotografen, die die Studentenproteste von Anfang an aus der Innensicht zeigten - was ihm größeren Ärger mit dem FBI einhandelte, das Chefredakteure davor warnte, ihn als Fotografen zu beschäftigen, und an einem Ruf arbeitete, der sogar Museumsleute verschreckte.

Jerry Berndt, Stephen Shore: Die beiden Fotografen, die gerade in zwei Büchern und einer Ausstellung wiederentdeckt werden, sind fast gleich alt, aber ihre Biographien und die Gründe dafür, warum sie immer noch weniger bekannt sind als andere fotografierende Generationsgenossen, sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können. Denn während sich Berndt mit dem FBI und verängstigten Chefredakteuren herumschlug, war der vier Jahre jüngere Shore schon ein berühmter Mann - und das mit Mitte zwanzig. Shore ist das Wunderkind der Farbfotografie, mit vierzehn Jahren hatte er dem Museum of Modern Art seine ersten drei Fotos verkauft, mit siebzehn trieb er sich in Andy Warhols Factory herum, mit dreiundzwanzig bekam er als erster lebender Fotograf überhaupt eine Einzelausstellung im New Yorker Metropolitan Museum of Art - und das mit Fotografien, die wenig mit dem zu tun hatten, was sonst ausgestellt wurde. Shore, das erkennt man vor allem in der konzeptuellen Fotoserie "American Surfaces", zoomte sich in die Oberflächen der Dinge, bis man sie mehr fühlte als sah: Der weiche, kalte Hamburger, ein verschmutzter Kühlschrank, ein verschwitztes, wie auch immer eingesautes Bett, die genoppte Bluse einer Frau, die geriffelten Pommes frites im Diner, eine mit Fettfingerabdrücken überzogene Holzwand . . . all das fügt sich zu einer Bildgeschichte des Tastens und Riechens zusammen - und zu einer Fotografie, der es um eine größere Nähe und Unmittelbarkeit geht, als es die distanzierende, den Moment historisierende Fotografie eigentlich erlaubt. Shores Fotos der Alltagsdinge sind eher der Versuch, zu zeigen, wie sich das Amerika der frühen siebziger Jahre anfühlte, wie es roch, weniger, wie es aussah.

Diese Bilder der "American Surfaces" sind dabei nur ein Teil seines Werks - obwohl einer, der eine ganze Fotokultur auslöste; ihre Ausläufer sind noch in der digitalen Amateurfotografie zu spüren, in den Momentaufnahmen, die aussehen, als seien sie halb unbewusst aus dem, wie Wolfgang Tillmans das einmal nannte, "Rauschen des Lebens" herausgerissen: das Kotelett in der Pfanne, eine blonde Frau im Hotel, das Gesicht des Tankwarts - jeder Moment des eigenen Lebens kann ein Fotokunstwerk werden.

Und dann gibt es die ganz anderen Bilder von Shore, die eher an die Gemälde von Edward Hopper erinnern. Eins zeigt einen verregneten Sommertag in Philadelphia (es ist, wie die Beschriftung verrät, der 21. Juni 1974). Warum wurde dieses Bild gemacht? Es ist kein Mensch darauf zu sehen, auch kein besonderes Gebäude; das Bild hat keinen lexikalischen Sinn, es dokumentiert kein erkennbares Ereignis. Und je länger man auf das Foto schaut (so, wie man aus einem Fenster starrt, obwohl draußen nichts passiert), desto surrealer beginnen die Dinge auszusehen: Der rote Hydrant wird ein seltsamer Soldat, der blaue Audi ein seltsamer Tiefseefisch, der in den nassen Teer starrt.

Wenn es in diesen Stadtbildern von Shore ein Geheimnis gibt, dann eins, das sie mit den meisten Gemälden von Edward Hopper teilen: Es ist eine gegenläufige Bewegung in ihnen, wie eine Unterströmung, die anderswohin zieht, als die Oberfläche denken lässt.

Über Hopper wurde oft geschrieben, er zeige die Trostlosigkeit des modernen Großstadtmenschen, seine Isolation, den schleichenden Zerfall seiner Welt. Das ist einerseits richtig - aber andererseits (und das unterscheidet Hopper und Shore von den ganzen schlechten Foto- und Pinselmelancholikern) gibt es in diesen Bildern immer ein Außen, das einen Aufbruch verspricht: Der Tankwart schaut in die Ferne, dort wartet eine Großstadt mit ihren Versprechen; die Menschen in der Bar werden sich vielleicht kennenlernen; das Morgenlicht bringt eine größere, leuchtende Welt ins muffige Zimmer. Shore fotografiert eine düstere, trostlose Backsteinfassade, davor steht aber, abreisebereit, wie eine Einladung, ein schnelles Auto. Es könnte anders werden: Das ist das Versprechen dieser Bilder.

Immer wieder nimmt Shore Holzmaserungen auf: Holztische, auf denen Fastfood serviert wird, Holztäfelungen, vor denen futuristische Plastikfernseher thronen. Der Gegensatz erzählt von den zwei Amerikas: dem ländlichen, selbstgezimmerten Siedlerglück der ersten Tage und dem des Mondzeitalters. Manchmal fotografiert Shore Szenen am Stadtrand: Man sieht Brick Buildings, die industrielle Stadt des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts - aber dahinter, in einer Lücke, taucht wie eine Fata Morgana das alte, ländliche Amerika der Siedlerzeit auf: der dichte Wald, das weiße Holzhaus im Nebel. Wobei man diese Idylle - was, wie Christy Lange in ihrem brillanten Katalogessay schreibt, Beweis für den sehr speziellen, "erbarmungslosen Humor" von Shore ist - nie allein gezeigt bekommt: Das klassisch Schöne, der alte Traum, ist immer nur im verdorbenen Rahmen einer unromantischen, vollkommen schiefgegangenen Realität zu sehen - mit der es sich zu einer neuen, sehr amerikanischen Schönheit verbindet.

Das gilt auch für Berndts Aufnahmen. Auch er fotografiert Serien, die eher an die Konzeptkunst seiner Zeit als an Vorbilder wie Robert Frank erinnern. In seinen leeren Nachtbildern sieht die Stadt aus wie eine leere Theaterbühne, bei der man nicht weiß, ob sie schon verlassen wurde von den echten Menschen oder noch auf sie wartet. Was er Ende der sechziger Jahre aufnahm, erinnert eigenartig an das, was heute an Bildern aus Amerika kommt: Aufnahmen eines Landes, das sozial und ökonomisch ins Schleudern geraten ist, sich in einem Krieg verrannt hat und auf einen großen Umschwung hofft. Berndt fotografierte den Wahlkampf von Nixon, die Bürgerrechtler und immer wieder die Nacht in Bostons schlechteren Vierteln: die Zusammengeschlagenen, Zusammengebrochenen, Prostituierten. Ein vom Leben zerzaustes Paar tanzt in einer Bar, und es sieht eher aus, als klammerten die beiden sich aneinander, um nicht zu stürzen. Manchmal, wenn er Betrunkene fotografiert, wird seine Kamera so unscharf, als sei sie selbst betrunken oder wolle einen schützenden Nebel über diejenigen legen, die ihm bewusstlos vors Objektiv kippen - und dass die körnigen, wie aus der Hüfte geschossenen Nachtszenen am Ende nicht doch zu einer edel-traurigen Bildkonfektmischung werden, liegt vor allem daran, dass der Grund des gezeigten Desasters immer mit im Bild ist: Das Konterfei des feist lächelnden Präsidenten, der Kunde der Prostituierten.

Man sieht in diesen Bildern, dass das, was sie zeigen, kein unabwendbares Schicksal, sondern menschengemachtes Elend ist - und wenn es ein Kriterium gibt, das politische Fotografie unterscheidet vom melancholischen schwarzweißen Stimmungszeugs, das die Foto-Plakatshops füllt, dann ist es genau dieses.

NIKLAS MAAK

Stephen Shore. Mit Essays von Christy Lange und Joel Sternfeld. Erschienen im Phaidon-Verlag, 30 Euro. Jerry Berndt: "Insight". Steidl-Verlag, 42 Euro. Berndts Bilder sind noch bis zum 22. März bei c/o Berlin ausgestellt.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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