Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 30,00 €
Produktdetails
  • Beiträge zur Geschichtskultur
  • Verlag: Böhlau
  • Seitenzahl: 196
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 298g
  • ISBN-13: 9783412037956
  • Artikelnr.: 25115980
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1995

Stiftung Warentest im historischen Supermarkt
Literatur, Film, Werbung: Die Geschichtswissenschaft macht Stichproben im Angebot der medial aufbereiteten Vergangenheit

Der Begriff "Geschichte" ist untrennbar mit dem Wirken des Menschen verknüpft. Erst die humane Existenz läßt die Zeit im allgemeinen Sinne entstehen, alles Vorherige fällt unter das Oxymoron der "Vorzeit". Etwas weniger widersprüchlich wird dieser Anthropozentrismus auch vom Begriff der "Prähistorie" zum Ausdruck gebracht: Außerhalb der von Menschen bevölkerten Epochen finden sich nur das Präludium zum großen Spektakel der eigentlichen, der Menschheitsgeschichte.

Erklärbar ist dieses Verständnis von Geschichte durch die scheinbar singuläre Begabung des Menschen zur Sprache. Nur durch die Überlieferung kann historisches Denken entstehen. Was erzählte Geschichte denn auch anderes als Geschichten? Die Wortverwandtschaft verweist bereits auf das narrative Element der Historie: Ohne Darstellung bleibt Geschichte stumm. Aber auch ohne Zuhörer. Zwar können, wie der Volksmund weiß, auch Steine sprechen und natürlich nicht minder Dokumente, Kunstwerke oder sonstige Relikte. Aber ihnen zuhören kann nur der Mensch, er allein versteht sie als geschichtliche Artikulationen.

Diese vom Zuhörer verliehene Sprachbegabung, die jedem Objekt der Welt latent gegeben ist, macht die Begegnung mit Geschichte zu einem elementar menschlichen Vorgang. Die Intensität des Kontakts ist dabei zweitrangig. Ein Bewohner des Bonner Kaiser-Karl-Rings wird durch den Straßennamen täglich nicht minder häufig mit Geschichte konfrontiert als derjenige, der einen alten Bauernhof in Oberhessen restauriert. Ein Vielgereister sieht auf einem Foto des Markusplatzes vielleicht nur die Tauben, während sein Gast im Hintergrund den historischen Glanz Venedigs erkennt, ohne je dort gewesen zu sein. Entscheidend für die Wahrnehmung der historischen Sprache der Umgebung ist allein die Neugier auf Geschichte.

Deshalb ist es falsch, lediglich dem Geschichtsunterricht zu vertrauen, um historisches Interesse auszubilden. Wesentlich mehr dürften Jugendliche aus alltäglichen Begegnungen mit Geschichte gewinnen. Dieser "außerwissenschaftliche Umgang mit Historie" ist von der Geschichtswissenschaft bislang weitgehend vernachlässigt worden. Eine rühmenswerte Ausnahme bildet jedoch Rolf Schörken. Der emeritierte Duisburger Professor für Geschichtsdidaktik hatte bereits 1981 sein Buch "Geschichte in der Alltagswelt" vorgelegt, das er nunmehr unter dem Titel "Begegnungen mit Geschichte" grundlegend überarbeitet hat.

Schörken beschränkt seine Erörterung auf die Vermittlung von Geschichte in Literatur und Medien. Auch ist das Buch noch ganz ein Kind der frühen achtziger Jahre: Von Computern, Privatfernsehen oder Comics findet sich keine Spur. Allzu konservativ erscheint ebenfalls die Auswahl von Schörkens Beispielen, die aber des Autors These eindrucksvoll stützen: Der entscheidende Faktor beim Umgang mit Geschichte ist der Brückenschlag von der Gegenwart in die Vergangenheit. "Das Vergangene muß eine Art neuer Gegenwart erhalten, zu neuem Leben erweckt werden . . ., dessen Ort unser Bewußtsein ist."

Diese Vergegenwärtigung kann eine erzählende Geschichtsschreibung in Literatur, Film und Massenmedien selbstverständlich effektiver leisten als die an das Gerüst des Faktischen gekettete Historiographie. Daraus auch resultieren die ungebrochene Popularität von historischen Romanen und Spielfilmen sowie der Erfolg von Rückblicken in Presse und Fernsehen. Schörken hat diese Chance für die Geschichte am Beispiel von "Schindlers Liste" anschaulich belegt. Gleichzeitig jedoch weichen die Darstellungsformen literarischer oder anderer künstlerischer Geschichtsschreibung von den tradierten wissenschaftlichen Gepflogenheiten ab. Für Schörken bleibt aber die "Wahrheitsnorm aller rekonstruierenden Arbeit" verbindlich - auch und gerade im Bemühen um Vergegenwärtigung.

Durch dieses Dogma beschränkt Schörken die eigentliche Stärke der außerwissenschaftlichen Geschichtsvermittlung, ihre Nähe zum Rezipienten. Gerade ein zweites Paradebeispiel des Buchs, Umberto Ecos "Name der Rose", verdeutlicht dieses Dilemma, das aus "der Absicht der liebenden Annäherung" - so bezeichnet Schörken die generelle Autorintention - entsteht: Dem Leser wird bei aller ausgebreiteten Sachkenntnis Ecos vorrangig der Blickwinkel des Protagonisten William von Baskerville im konfessionellen Streit der Mönchsorden vermittelt. Das historische Prinzip der Unparteilichkeit muß im historischen Roman auf der Strecke bleiben.

Oftmals thematisieren Schriftsteller wiederum die Geschichtsschreibung selbst, doch auch dann betreiben sie eine andere Form der "Domestizierung historischer Phänomene" als der ausgebildete Historiker. Schörken kennzeichnet die Geschichtssicht dreier dafür exemplarischer Autoren: Weder Enzensbergers Erschrecken vor der Geschichte noch Grass' Hohn oder Jüngers Demaskierung können seiner Ansicht nach die Kriterien der Historiographie erfüllen: gleichwohl sind sie jeweils ein Hoffnungsschimmer in der geschichtsliterarischen Strafkolonie, wo uns, wie Schörken als Skeptiker seiner Zunft ausführt, "Geschichte auf die Haut" geschrieben wird.

Aber auch die alltägliche Begegnung mit Geschichte spielt sich immerhin in einem "historischen Supermarkt" ab, aus dessen Überangebot der Interessent zu wählen hat. Um die Einkaufsliste aufs Nützliche beschränken zu können, täte hier die Geschichtswissenschaft als Stiftung Warentest not. Dazu aber müßte sie aufhören, immer nur längst vertraute Produkte zu testen. Zur medialen Vermittlung von Geschichte zählen ja nicht allein Arbeiten von explizit historischer Thematik, sondern auch Anleihen anderer Genres beim Fundus der Geschichte. Solche Angebote geschichtlicher Reminiszenz sind bisher eher stiefmütterlich untersucht worden, doch ist nun eine exemplarische Studie erschienen: In seinem Buch "Werbung mit Geschichte" widmet sich der junge Bochumer Historiker Mike Seidensticker der Thematisierung von Geschichte in Zeitschriftenanzeigen. Hierzu wertete er für vier Jahrzehnte die Annoncen im "Spiegel" und der "Neuen Illustrierten Revue" aus.

Besonders interessant ist Seidenstickers Arbeit durch die Einbeziehung des Instrumentariums der Rhetorik. Ein Medium, das wie die Werbung ganz auf Überzeugung aus ist, kann nur aus rhetorischer Perspektive adäquat analysiert werden. Und mag man auch dem rhetorischen Verständnis eines Autors etwas mißtrauen, der Neologismen wie "Forschungsdesign" verwendet und sich allgemein zu geschwollen ausdrückt, so ist seine Topik der "historisierenden Werbung" jedenfalls von größtem Interesse - zumal die empirische Untermauerung der Theorie beeindruckt.

Von Jörn Rüsens Modell der Formen des historischen Erzählens ausgehend, unterscheidet der Autor vier Intentionen von historisierender Werbung: Einmal die Einbindung des beworbenen Produkts in Traditionen, dann den Verweis auf das Beispiel geschichtlicher Autoritäten für die Nutzung, ferner der Hinweis auf die Behebung althergebrachter Defizite durch die angepriesene Ware und schließlich die Verklärung des Produkts zur Krönung eines historischen Prozesses. Seidenstickers Buch macht deutlich, welche Branchen mit Geschichte werben, bei welchen Topoi ihre Prioritäten liegen und wie sich die jeweiligen Werbestrategien gewandelt haben.

Zusätzliche Bedeutung erhält seine Studie durch die rhetorische Lektüre einzelner Anzeigen. Es gelingt dem Autor dabei, anknüpfend an Hayden Whites Identifikation der historischen "master tropes", auch in der Werbung die dominante Rolle von Metapher, Synekdoche, Metonymie und Ironie zu belegen: "Übertragen wir dieses Schema tropologischer Formen auf die historisierende Werbung, so wird deutlich, daß es sich hier überwiegend um sich überlagernde und mehrfach geschichtete Substrate rhetorischer Modi handelt." Oder kürzer: Bei den meisten untersuchten Anzeigen findet sich ein Marketing-Mix der vier Tropen.

Seidensticker wirft in seinem Buch einen Seitenblick von der Geschichtsschreibung auf die historische Prägung des Alltags. Er gesteht Bild und Wort der Anzeigen gleichermaßen ihren Rang zu und löst sich damit von der üblichen Textorientierung seiner Zunft. Leider sind seine eigenen theoretischen Erörterungen überlang geraten, während einige weitere Beispiele und allgemein eine intensivere fallspezifische Analyse durchaus erwünscht gewesen wären.

Immerhin sind Schörkens und Seidenstickers Arbeiten Beweis für eine neue Offenheit der Geschichtswissenschaft für ihre Randgebiete. Und gerade diese Randgebiete liefern die Mehrzahl derjenigen Produkte, die die Regale des alltäglichen historischen Supermarkts füllen. Wenn der Historiker als Warentester seine Aufmerksamkeit vermehrt einigen dieser Produkte zuwenden wollte, käme dies auch der Information der gewöhnlichen Konsumenten zugute. ANDREAS PLATTHAUS

Rolf Schörken: "Begegnungen mit Geschichte". Vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in Literatur und Medien. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1995. 178 S., geb., 38,- DM.

Mike Seidensticker: "Werbung mit Geschichte". Ästhetik und Rhetorik des Historischen. Beiträge zur Geschichtskultur, Band 10. Böhlau Verlag, Köln 1995. 196 S., 22 Abb., br., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr