Naturkatastrophen und Badeanstalten, Kraftwerkprojekte und Atomdeponien, persönliche Krisen und deutsche Geschichte ... Wahnwitzig und ironisch erzählt Norbert Entfellner dreizehn rätselhafte Ereignisse von Menschen in unerfreulichen Situationen. Immer wieder kreisen die Geschichten um Bruchstücke einer unbehaglich-vertrauten Landschaft. Denn dicht unter der glatten Oberfläche des Alltäglichen brodelt die Heimat und schlummern die Monster.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2024Horrorheimat Niederbayern
Norbert Entfellners neue Erzählungen im Band "Mein widerliches Zuhause in voller Blüte" wecken das Grauen unter der Gemütlichkeit.
Passau – Mal wieder den staubigen Band acht des ewigen Brockhaus-Wissens von 1969 aus dem Regal geangelt, um abseits wikipedisierter Schwarmschlauheit zu erfahren, was das eigentlich sein soll: Heimat (althochdeutsch heimoti). Und siehe: Es sei „allgemein die Umwelt, mit der der einzelne durch Geburt oder Lebensumstände verwachsen sei“, weiß der Brockhaus und spezifiziert: „Bes. im Deutschen begreift das Wort eine Gemütsbindung ein …“.
Ach ja, die Heimat-Gemütsbindung der Deutschen … Die gibt es ja in ganz unterschiedlichen Versionen: von Eichendorffs romantisch wanderndem Taugenichts bis zu denen, die gemütvoll die, die sie für fremd halten, aus ihrer Heimat prügeln wollen. Hier noch einmal der kluge Brockhaus: „Wahlheimat hat es immer gegeben“.
Norbert Entfellner hat einst in München an der Bayerischen Theaterakademie Schauspiel studiert und dann Jahre am Ulmer Theater gearbeitet. Heute ist er nach Niederbayern zurückgekehrt, wo er 1970 geboren wurde, lebt als Autor in Passau und im Bayerischen Wald. „Mein widerliches Zuhause in voller Blüte“ heißt sein neuer Band. Untertitel: „Schauergeschichten aus der Heimat“.
Erschienen ist das Buch im Münchner Schillo Verlag, in dem Sophie Schillo gerade fast alle zentralen Aufgabenbereiche von ihrem Vater Thomas übernommen hat. Haptik, Typografie, vom Einband bis zur Bindung: Hier machen sie schöne Bücher, die man gerne in die Hand nimmt. Und die schöne Verpackung muss in diesem Fall auch wahrhaft Abgründiges fassen.
Heimat, das ist für Entfellner beispielsweise etwas, das absäuft – was ja nicht nur in und um Passau gerade und mittlerweile regelmäßig passiert. Gleich im ersten Band wird geschaufelt, bevor die Konsistenz des Schlamms zu Beton wird. Da schuften sie, immer schön im Licht der Fernsehkameras. Nur der Rudi, der dreht irgendwann durch bei all dem Instagram und Gehelfe und Prosecco – und während der schönen Rede des Bürgermeisters. Der Rudi plärrt und plärrt: „Rröcksächtslos geholfen. Seit fönf Ohr fönfonvärzig wird zurückgeholfen.“
Heimat, das ist nur auf den ersten Gedanken das, was man sieht. Auf den zweiten halt auch das, was man nicht mehr sehen kann, oder das, worüber man hinwegsieht. Von der Schulter den Oberarm hinab – wie hat er sie bis jetzt übersehen können? Diese Narbe, eine Brandnarbe. Marten ist mit Ines im Erlebnisbad. Ines hat Sorgen. Wegen der Flüchtlinge, die angeblich da oben am Einstieg der Wasserrutsche stehen und alle Frauen anfassen. Während sie so reden, scheint es Marten, als wäre Ines Impfgegnerin. Jedenfalls fällt Marten dann mit einem Mal in der Umkleide diese Narbe an ihrem Oberarm auf: „Alles Spuren des Feuers, alle Zeichen ausgestandener Schmerzen: verfärbte Narbenhaut, rote Streifen, aufgeworfene, warzenartige Stellen und eine lange Linie, wo bleiches, dünn und schwächlich aussehendes Reparaturgewebe auf die noch gesunde Sommersprossenhaut trifft.“
Entfellners Sprachkunst ist von einem ungeheuren Detailreichtum, ein sprachlicher Hyperrealismus, den er ähnlich, aber in historischem Ambiente schon 2008 in seinem Roman „Beckford“ entfaltete. Erschienen in einem Vorläufer des Schillo Verlags, dem Kunst- und Textwerkverlag, kreiste Entfellner hier um die Biografie von William Beckford, der an der Wende zum 19. Jahrhundert mit Fonthill Abbey in England ein gigantisches Anwesen erbauen ließ und in die Literaturgeschichte einging mit seinem einzigen, dunkel-magischen Roman „Vathek“. Entfellners Faszination für das Abgründige begegnet man in seinen Kurzgeschichten immer wieder neu und überraschend camoufliert. Das „Erlebnisbad“ gibt es in zwei Versionen. In der ersten verzweifelt Marten schier ob der Masse fast nackter, gerne tätowierter, mehr oder weniger gewaschener Körper, von denen man nur das Schlimmste annehmen darf. Reichsbürger? Und landet, als ihn das Rohr der Rutsche ausspuckt, in einer ebenso grausam detailrealistischen Zombieapokalypse – ein Verwesungsalbtraum als erzählter Horrorfilm mit Splattermomenten. In seiner Grässlichkeit irr und witzig.
Diese Erzählungen brauchen allerdings den Boden des Realen, um abzuheben. „Saldenburg“, eine atomverstrahlte Science-Fiction im Setting einer postzivilisatorischen, durch Riten und mystisches Raunen geprägten Gesellschaft, ist eher konventionelle Fantasy-Fantasie, weil der Bruch zwischen dem Bekannten und dem Verdrängten nicht mehr gefährlich in den Text ragt. So wie in „Fettabscheider“, einer Geschichte, verortet in einer langen Straße an einem Steinbruch, über dessen Abbruchkante einst ein Panzer ins dunkle Wasser gestürzt sein soll. Ein Detail, das einem in einer anderen Geschichte noch einmal begegnen wird, was wichtig ist, weil es bei Entfellner auf Details ankommt. Um Andi Weinmann geht es, einen reichen Industriellensohn, den der Ich-Erzähler mit der Aussicht auf ein eigentlich nur geliehenes Karnickel in sein sozial eher nicht so vorzeigbares Zuhause lockt. Als das verschwundene Karnickel, dann wieder auftaucht, tut es das auf eine Weise, die an das Finale eines Stephen-King-Romans erinnert und eine ähnlich große Zerstörungskraft zeitigt.
Die Heimat. Erst einmal ist das die Sicherheit des Bekannten, in die man sich eingelebt hat, wie in einen ausgebeulten Wollpulli, der einen so vertraut kratzt. Aber was, wenn das, was man zu wissen glaubt, nur Firnis ist? Das ist die wirklich beunruhigende Frage, die Entfellner stellt. Ein Szenenreigen von den letzten Kriegstagen bis in die Gegenwart um den Stausee Oberilzmühle, wenige Kilometer nördlich von Passau. Eine Wirtschaft, davor ein Steinbruch, Schotterfläche. „,Da ist nichts‘, sagt der junge Mann. ,Zirkus. Übern Winter war einmal ein Zirkus da. Sonst nichts. Bloß G’schpenster’.“
Die Staumauer gebaut haben, das erfährt man erst im Anhang des Textes, Häftlinge eines Außenlagers des KZ Mauthausen. Wo sich diese Außenstelle genau befand, kann man heute nicht mehr genau sagen. Wohl irgendwo unter der schönen Heimat.
CHRISTIAN JOOSS-BERNAU
Norbert Entfellner: Mein widerliches Zuhause in voller Blüte. Schillo Verlag, 360 Seiten, 26 Euro
Haptik, Typografie,
Einband und Bindung –
die Verpackung stimmt
Was ist, wenn das,
was man zu wissen
glaubt, nur Firnis ist?
Norbert Entfellner lebt in Passau und im Bayerischen Wald.
Foto: Schillo Verlag
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Norbert Entfellners neue Erzählungen im Band "Mein widerliches Zuhause in voller Blüte" wecken das Grauen unter der Gemütlichkeit.
Passau – Mal wieder den staubigen Band acht des ewigen Brockhaus-Wissens von 1969 aus dem Regal geangelt, um abseits wikipedisierter Schwarmschlauheit zu erfahren, was das eigentlich sein soll: Heimat (althochdeutsch heimoti). Und siehe: Es sei „allgemein die Umwelt, mit der der einzelne durch Geburt oder Lebensumstände verwachsen sei“, weiß der Brockhaus und spezifiziert: „Bes. im Deutschen begreift das Wort eine Gemütsbindung ein …“.
Ach ja, die Heimat-Gemütsbindung der Deutschen … Die gibt es ja in ganz unterschiedlichen Versionen: von Eichendorffs romantisch wanderndem Taugenichts bis zu denen, die gemütvoll die, die sie für fremd halten, aus ihrer Heimat prügeln wollen. Hier noch einmal der kluge Brockhaus: „Wahlheimat hat es immer gegeben“.
Norbert Entfellner hat einst in München an der Bayerischen Theaterakademie Schauspiel studiert und dann Jahre am Ulmer Theater gearbeitet. Heute ist er nach Niederbayern zurückgekehrt, wo er 1970 geboren wurde, lebt als Autor in Passau und im Bayerischen Wald. „Mein widerliches Zuhause in voller Blüte“ heißt sein neuer Band. Untertitel: „Schauergeschichten aus der Heimat“.
Erschienen ist das Buch im Münchner Schillo Verlag, in dem Sophie Schillo gerade fast alle zentralen Aufgabenbereiche von ihrem Vater Thomas übernommen hat. Haptik, Typografie, vom Einband bis zur Bindung: Hier machen sie schöne Bücher, die man gerne in die Hand nimmt. Und die schöne Verpackung muss in diesem Fall auch wahrhaft Abgründiges fassen.
Heimat, das ist für Entfellner beispielsweise etwas, das absäuft – was ja nicht nur in und um Passau gerade und mittlerweile regelmäßig passiert. Gleich im ersten Band wird geschaufelt, bevor die Konsistenz des Schlamms zu Beton wird. Da schuften sie, immer schön im Licht der Fernsehkameras. Nur der Rudi, der dreht irgendwann durch bei all dem Instagram und Gehelfe und Prosecco – und während der schönen Rede des Bürgermeisters. Der Rudi plärrt und plärrt: „Rröcksächtslos geholfen. Seit fönf Ohr fönfonvärzig wird zurückgeholfen.“
Heimat, das ist nur auf den ersten Gedanken das, was man sieht. Auf den zweiten halt auch das, was man nicht mehr sehen kann, oder das, worüber man hinwegsieht. Von der Schulter den Oberarm hinab – wie hat er sie bis jetzt übersehen können? Diese Narbe, eine Brandnarbe. Marten ist mit Ines im Erlebnisbad. Ines hat Sorgen. Wegen der Flüchtlinge, die angeblich da oben am Einstieg der Wasserrutsche stehen und alle Frauen anfassen. Während sie so reden, scheint es Marten, als wäre Ines Impfgegnerin. Jedenfalls fällt Marten dann mit einem Mal in der Umkleide diese Narbe an ihrem Oberarm auf: „Alles Spuren des Feuers, alle Zeichen ausgestandener Schmerzen: verfärbte Narbenhaut, rote Streifen, aufgeworfene, warzenartige Stellen und eine lange Linie, wo bleiches, dünn und schwächlich aussehendes Reparaturgewebe auf die noch gesunde Sommersprossenhaut trifft.“
Entfellners Sprachkunst ist von einem ungeheuren Detailreichtum, ein sprachlicher Hyperrealismus, den er ähnlich, aber in historischem Ambiente schon 2008 in seinem Roman „Beckford“ entfaltete. Erschienen in einem Vorläufer des Schillo Verlags, dem Kunst- und Textwerkverlag, kreiste Entfellner hier um die Biografie von William Beckford, der an der Wende zum 19. Jahrhundert mit Fonthill Abbey in England ein gigantisches Anwesen erbauen ließ und in die Literaturgeschichte einging mit seinem einzigen, dunkel-magischen Roman „Vathek“. Entfellners Faszination für das Abgründige begegnet man in seinen Kurzgeschichten immer wieder neu und überraschend camoufliert. Das „Erlebnisbad“ gibt es in zwei Versionen. In der ersten verzweifelt Marten schier ob der Masse fast nackter, gerne tätowierter, mehr oder weniger gewaschener Körper, von denen man nur das Schlimmste annehmen darf. Reichsbürger? Und landet, als ihn das Rohr der Rutsche ausspuckt, in einer ebenso grausam detailrealistischen Zombieapokalypse – ein Verwesungsalbtraum als erzählter Horrorfilm mit Splattermomenten. In seiner Grässlichkeit irr und witzig.
Diese Erzählungen brauchen allerdings den Boden des Realen, um abzuheben. „Saldenburg“, eine atomverstrahlte Science-Fiction im Setting einer postzivilisatorischen, durch Riten und mystisches Raunen geprägten Gesellschaft, ist eher konventionelle Fantasy-Fantasie, weil der Bruch zwischen dem Bekannten und dem Verdrängten nicht mehr gefährlich in den Text ragt. So wie in „Fettabscheider“, einer Geschichte, verortet in einer langen Straße an einem Steinbruch, über dessen Abbruchkante einst ein Panzer ins dunkle Wasser gestürzt sein soll. Ein Detail, das einem in einer anderen Geschichte noch einmal begegnen wird, was wichtig ist, weil es bei Entfellner auf Details ankommt. Um Andi Weinmann geht es, einen reichen Industriellensohn, den der Ich-Erzähler mit der Aussicht auf ein eigentlich nur geliehenes Karnickel in sein sozial eher nicht so vorzeigbares Zuhause lockt. Als das verschwundene Karnickel, dann wieder auftaucht, tut es das auf eine Weise, die an das Finale eines Stephen-King-Romans erinnert und eine ähnlich große Zerstörungskraft zeitigt.
Die Heimat. Erst einmal ist das die Sicherheit des Bekannten, in die man sich eingelebt hat, wie in einen ausgebeulten Wollpulli, der einen so vertraut kratzt. Aber was, wenn das, was man zu wissen glaubt, nur Firnis ist? Das ist die wirklich beunruhigende Frage, die Entfellner stellt. Ein Szenenreigen von den letzten Kriegstagen bis in die Gegenwart um den Stausee Oberilzmühle, wenige Kilometer nördlich von Passau. Eine Wirtschaft, davor ein Steinbruch, Schotterfläche. „,Da ist nichts‘, sagt der junge Mann. ,Zirkus. Übern Winter war einmal ein Zirkus da. Sonst nichts. Bloß G’schpenster’.“
Die Staumauer gebaut haben, das erfährt man erst im Anhang des Textes, Häftlinge eines Außenlagers des KZ Mauthausen. Wo sich diese Außenstelle genau befand, kann man heute nicht mehr genau sagen. Wohl irgendwo unter der schönen Heimat.
CHRISTIAN JOOSS-BERNAU
Norbert Entfellner: Mein widerliches Zuhause in voller Blüte. Schillo Verlag, 360 Seiten, 26 Euro
Haptik, Typografie,
Einband und Bindung –
die Verpackung stimmt
Was ist, wenn das,
was man zu wissen
glaubt, nur Firnis ist?
Norbert Entfellner lebt in Passau und im Bayerischen Wald.
Foto: Schillo Verlag
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