Wie hoch ist der Preis einer Schuld?Bianca ist erst sieben Jahre alt, als sie ihre Schwester durch ein tragisches Ereignis verliert. An jenem Unglückstag zerbricht ihre Existenz. Doch im Lauf der Zeit scheint sie mit diesem Schicksalsschlag zurechtzukommen. Sie lebt mit Carlo, einem Herzchirurgen, in einer schicken Penthousewohnung im Zentrum von Rom. Selbst die Tatsache, dass sich ihre Mutter in regelmäßigen Abständen das Leben zu nehmen versucht, ist Bianca zur Gewohnheit geworden. Doch hinter der Fassade eines normalen Lebens hat sie Zwangshandlungen entwickelt, um mit ihrem Trauma umzugehen. In ihr reift ein perfider Plan, den sie unbeirrbar verfolgt ...Nicoletta Verna legt einen aufwühlenden und beunruhigenden Roman vor und erzählt von der dunklen Hoffnung ihrer Protagonistin in einer kraftvollen und mitreißenden Sprache.- "Lobende Erwähnung" beim Premio Italo Calvino- Premio Opera Prima Severino Cesari- PLM - Premio Letterario Massarosa8 Wochen auf den italienischen Bestsellerlisten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2023Schuld essen Seele auf
Familiendrama und Gesellschaftsbild: Nicoletta Vernas spätes, spannendes Romandebüt "Der Wert der Gefühle"
Obwohl es alle gerne wissen würden, weiß niemand genau, wie und warum es passiert ist": Auch Bianca, die Icherzählerin von Nicoletta Vernas Roman "Der Wert der Gefühle", weiß es nicht. Aber sie weiß, "dass das Wissen über etwas so Schlimmes das Leben für immer zur Hölle macht". Ihre Schwester Stella, die sie geliebt und bewundert hat, ist mit vierzehn Jahren unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Bianca war damals sieben und in der Phase des magischen Denkens, in der Kinder sich einbilden, Ereignisse beeinflussen zu können, mit denen sie nicht ursächlich verbunden sind: Bianca fühlt sich für das Unglück schuldig. Jede Nacht träumt sie, dass sie Stella umbringt. Nach mehr als zwanzig Jahren immer noch.
Die Familie versank in Trauer und zerbrach. Die Mutter gab die kleine Wäscherei in Grambate, einem (fiktiven) Ort in der Brianza, auf und unternahm mehrere Suizidversuche; der Vater brannte mit der Pflegerin nach Rumänien durch. Bianca ist schwer traumatisiert und leidet unter Zwangsvorstellungen. Als sie gegen Ende ihres Studiums Serena und über diese den Kardiologen Carlo kennenlernt, erinnert der sie an ihre Schwester, und sie setzt sich in den Kopf, dass ein Kind von ihm der "einzige Weg ist, um Stella wiederzubekommen": eine Art Wiedergeburt, die ihr Leben reparieren soll. Carlo sieht umwerfend aus, kommt aus reichem Haus und steht als Pionier der Roboterchirurgie am Beginn einer internationalen Karriere. Den König trägt er schon im Namen: Del Re. Gerade erst hat die "New York Times" ihn interviewt.
Das Familiendrama wird zum Gesellschaftsbild, Biancas Aufstieg bedient das Klischee des Trivialromans: Ihre Attraktivität und eine Portion Verschlagenheit reichen aus, um sich Carlo zu angeln, und sie tut alles, um es ihm recht zu machen. Wenn er abends noch arbeiten will, guckt sie Trash-TV, in dem sie vor dem Abitur als Nummerngirl auftrat. Danach hat sie - eher zufällig - Biologie in Mailand studiert; heute jobbt sie in einem Marktforschungsinstitut, das durch groteske, von ihr zynisch kommentierte Umfragen herauszufinden versucht, wie Unternehmen ihre Produkte besser verkaufen können.
Das Paar wohnt im hippen Monti-Viertel in Rom, vom Penthouse aus ist das Kolosseum zu sehen. Weißes Sofa im Wohnzimmer, Jacuzzi auf der Terrasse, Royal Copenhagen im Schrank, Designerküche und Aufzug, Hausmädchen und Portier. La Grande Bellezza, eine Generation jünger. Ein Leben in Luxus und Konsum, Delikatessen und Markenklamotten, die Mutter im Pflegeheim. Ausflüge, Shopping, Hochzeiten, Feste. Kollegen aus Amerika kommen zu Besuch, übers Wochenende geht's mit Freunden ins Landhaus, und wie Carlo deren kleine Tochter Sofia verwöhnt, zeigt, dass er das Zeug zu einem wunderbar feinfühlenden Vater hat.
Eine helle, perfekte Ordnung und das Gegenteil zu Biancas Innenleben, in dem das Chaos tobt. Denn mit der Schwangerschaft will es nicht klappen. Der Kinderwunsch wird zur Obsession, und Bianca versucht, ihre Aggression mit Zwangshandlungen zu bändigen. Sie arrangiert Abfälle und sortiert sie fachgerecht, noch die Verluste unterliegen ihrer Kontrollsucht. Auch frisch gekaufte Lebensmittel, neue Kleider und Geschenke kloppt sie in die Tonnen. Bianca krümmt sich unter den Schmerzen der Endometriose, ihr Gynäkologe möchte ihr helfen, doch hält er eine In-vitro-Fertilisation für zu riskant. Ihr Schwiegervater, der, von seiner Frau getrennt und von Carlo verachtet, durch das Geschäft mit künstlichen Befruchtungen zum Millionär geworden ist, hat weniger Skrupel. Der Eingriff misslingt.
Die Chronologie wird mit Rückblenden und Traumsequenzen unterbrochen, die Biancas Leben und ihre Traumatisierung aufnehmen: Kindheitserlebnisse und Erinnerungen, der erste Ausflug ans Meer, wo der schüchterne Rodolfo sich in Stella verliebte, um später ihre im Rollstuhl sitzende Freundin Liliana zu heiraten; als bei ihm ein Herztumor festgestellt wird, ist er der "hoffnungslose Fall", bei dem Carlo erstmals den Roboter einsetzt. Das wirkt etwas konstruiert und fügt sich doch ein in die Logik des Romans, mit dem Nicoletta Verna, die mit Sachbüchern über Medien und Massenkultur bekannt geworden ist, ein erstaunlich reich orchestriertes literarisches Debüt hinlegt. Indem sie Biancas Schuldgefühle und Wahnvorstellungen erzählend auffächert, zeichnet sie ein eindringliches Krankheitsbild, und indem sie immer wieder auf den Hergang des Unglücks zurückkommt, baut sie Krimi-Spannung auf.
Schuld essen Seele auf. Auch Carlo ist nicht frei davon, die Lichtgestalt, so stellt sich heraus, hat im Trüben gefischt. Am Ende kehrt Bianca in das verlassene Haus der Familie zurück, das Geheimnis um Stellas Unfalltod wird aufgeklärt, Ausgang aber offen. Die Ambivalenz des Titels "Il valore affettivo", also Gefühls- oder Erinnerungswert, fällt in der Übersetzung flach: "Der Wert der Gefühle" klingt, so allgemein und nominal formuliert, nach Sachbuch oder psychologischem Ratgeber. Aber das ist eher dem Verlag anzukreiden als der bis auf kleine Ungereimtheiten soliden Übersetzerin Ingrid Ickler. ANDREAS ROSSMANN
Nicoletta Verna: "Der Wert der Gefühle". Roman.
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio Verlag, Wien 2022. 284 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familiendrama und Gesellschaftsbild: Nicoletta Vernas spätes, spannendes Romandebüt "Der Wert der Gefühle"
Obwohl es alle gerne wissen würden, weiß niemand genau, wie und warum es passiert ist": Auch Bianca, die Icherzählerin von Nicoletta Vernas Roman "Der Wert der Gefühle", weiß es nicht. Aber sie weiß, "dass das Wissen über etwas so Schlimmes das Leben für immer zur Hölle macht". Ihre Schwester Stella, die sie geliebt und bewundert hat, ist mit vierzehn Jahren unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Bianca war damals sieben und in der Phase des magischen Denkens, in der Kinder sich einbilden, Ereignisse beeinflussen zu können, mit denen sie nicht ursächlich verbunden sind: Bianca fühlt sich für das Unglück schuldig. Jede Nacht träumt sie, dass sie Stella umbringt. Nach mehr als zwanzig Jahren immer noch.
Die Familie versank in Trauer und zerbrach. Die Mutter gab die kleine Wäscherei in Grambate, einem (fiktiven) Ort in der Brianza, auf und unternahm mehrere Suizidversuche; der Vater brannte mit der Pflegerin nach Rumänien durch. Bianca ist schwer traumatisiert und leidet unter Zwangsvorstellungen. Als sie gegen Ende ihres Studiums Serena und über diese den Kardiologen Carlo kennenlernt, erinnert der sie an ihre Schwester, und sie setzt sich in den Kopf, dass ein Kind von ihm der "einzige Weg ist, um Stella wiederzubekommen": eine Art Wiedergeburt, die ihr Leben reparieren soll. Carlo sieht umwerfend aus, kommt aus reichem Haus und steht als Pionier der Roboterchirurgie am Beginn einer internationalen Karriere. Den König trägt er schon im Namen: Del Re. Gerade erst hat die "New York Times" ihn interviewt.
Das Familiendrama wird zum Gesellschaftsbild, Biancas Aufstieg bedient das Klischee des Trivialromans: Ihre Attraktivität und eine Portion Verschlagenheit reichen aus, um sich Carlo zu angeln, und sie tut alles, um es ihm recht zu machen. Wenn er abends noch arbeiten will, guckt sie Trash-TV, in dem sie vor dem Abitur als Nummerngirl auftrat. Danach hat sie - eher zufällig - Biologie in Mailand studiert; heute jobbt sie in einem Marktforschungsinstitut, das durch groteske, von ihr zynisch kommentierte Umfragen herauszufinden versucht, wie Unternehmen ihre Produkte besser verkaufen können.
Das Paar wohnt im hippen Monti-Viertel in Rom, vom Penthouse aus ist das Kolosseum zu sehen. Weißes Sofa im Wohnzimmer, Jacuzzi auf der Terrasse, Royal Copenhagen im Schrank, Designerküche und Aufzug, Hausmädchen und Portier. La Grande Bellezza, eine Generation jünger. Ein Leben in Luxus und Konsum, Delikatessen und Markenklamotten, die Mutter im Pflegeheim. Ausflüge, Shopping, Hochzeiten, Feste. Kollegen aus Amerika kommen zu Besuch, übers Wochenende geht's mit Freunden ins Landhaus, und wie Carlo deren kleine Tochter Sofia verwöhnt, zeigt, dass er das Zeug zu einem wunderbar feinfühlenden Vater hat.
Eine helle, perfekte Ordnung und das Gegenteil zu Biancas Innenleben, in dem das Chaos tobt. Denn mit der Schwangerschaft will es nicht klappen. Der Kinderwunsch wird zur Obsession, und Bianca versucht, ihre Aggression mit Zwangshandlungen zu bändigen. Sie arrangiert Abfälle und sortiert sie fachgerecht, noch die Verluste unterliegen ihrer Kontrollsucht. Auch frisch gekaufte Lebensmittel, neue Kleider und Geschenke kloppt sie in die Tonnen. Bianca krümmt sich unter den Schmerzen der Endometriose, ihr Gynäkologe möchte ihr helfen, doch hält er eine In-vitro-Fertilisation für zu riskant. Ihr Schwiegervater, der, von seiner Frau getrennt und von Carlo verachtet, durch das Geschäft mit künstlichen Befruchtungen zum Millionär geworden ist, hat weniger Skrupel. Der Eingriff misslingt.
Die Chronologie wird mit Rückblenden und Traumsequenzen unterbrochen, die Biancas Leben und ihre Traumatisierung aufnehmen: Kindheitserlebnisse und Erinnerungen, der erste Ausflug ans Meer, wo der schüchterne Rodolfo sich in Stella verliebte, um später ihre im Rollstuhl sitzende Freundin Liliana zu heiraten; als bei ihm ein Herztumor festgestellt wird, ist er der "hoffnungslose Fall", bei dem Carlo erstmals den Roboter einsetzt. Das wirkt etwas konstruiert und fügt sich doch ein in die Logik des Romans, mit dem Nicoletta Verna, die mit Sachbüchern über Medien und Massenkultur bekannt geworden ist, ein erstaunlich reich orchestriertes literarisches Debüt hinlegt. Indem sie Biancas Schuldgefühle und Wahnvorstellungen erzählend auffächert, zeichnet sie ein eindringliches Krankheitsbild, und indem sie immer wieder auf den Hergang des Unglücks zurückkommt, baut sie Krimi-Spannung auf.
Schuld essen Seele auf. Auch Carlo ist nicht frei davon, die Lichtgestalt, so stellt sich heraus, hat im Trüben gefischt. Am Ende kehrt Bianca in das verlassene Haus der Familie zurück, das Geheimnis um Stellas Unfalltod wird aufgeklärt, Ausgang aber offen. Die Ambivalenz des Titels "Il valore affettivo", also Gefühls- oder Erinnerungswert, fällt in der Übersetzung flach: "Der Wert der Gefühle" klingt, so allgemein und nominal formuliert, nach Sachbuch oder psychologischem Ratgeber. Aber das ist eher dem Verlag anzukreiden als der bis auf kleine Ungereimtheiten soliden Übersetzerin Ingrid Ickler. ANDREAS ROSSMANN
Nicoletta Verna: "Der Wert der Gefühle". Roman.
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio Verlag, Wien 2022. 284 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die italienische Autorin Nicoletta Verna wurde vor allem durch Sachbücher über Medien und Massenkultur bekannt, aber auch ihr Romandebüt gelingt, meint Rezensent Andreas Rossmann. Dabei klingt die Story zunächst recht trivial: Bianca leidet seit dem frühen Unfalltod ihrer Schwester an Schuldgefühlen, die Mutter landet nach unzähligen Suizidversuchen im Pflegeheim, während Bianca im Studium einen Star-Chirurgen heiratet und mit diesem ein Luxusleben in einem römischen Penthouse führt. Allerdings scheitert ihr Kinderwunsch trotz künstlicher Befruchtung, ihre Aggressionen versucht sie dabei durch Zwangshandlungen zu kanalisieren, resümiert der Rezensent. Wie Verna Rückblenden und Traumsequenzen einflicht und Biancas Schuldgefühle "eindringlich" zeichnet, imponiert Rossmann. Ein "reich orchestriertes" Debüt, das sich durchaus auch als Krimi lesen lässt, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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