Was wird in Familien "ganz normaler" Deutscher über Nationalsozialismus und Holocaust überliefert? Die Autoren haben in Familiengesprächen und Interviews untersucht, was Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen und was davon an die Kinder- und Enkelgeneration weitergegeben wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2002Kurz und knapp
HARALD WELZER, SABINE MOLLER, KAROLINE TSCHUGGNALL: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2002. 246 Seiten, 10,90 Euro.
Es ist paradox: Wenn in deutschen Familien vom Dritten Reich erzählt wird, dann bergen die Geschichten darüber, wie man sich verhalten hat, was einzelnen Familienmitgliedern widerfahren ist, gewöhnlich unauflösbare Widersprüche. Der bekannteste lautet, dass man von den Lagern nichts gewusst habe, aber ständig davon bedroht war, ins Lager zu kommen. Oder dass man einer Vergewaltigung durch Russen nur entging, weil Kinder dabei waren. Dass aber der Russe auf nichts und niemand Rücksicht nahm.
Die drei Herausgeber des überaus spannenden Bandes „Opa war kein Nazi”, allesamt Spezialisten des Themas „Tradierung von Geschichtsbewusstsein”, haben in 40 deutschen Familien zugehört, wenn über Hitler und den Holocaust geredet wurde. Sie interessierten sich für „den Stoff und die Textur des Geschichtsbewusstseins vom Dritten Reich”. Regelmäßig wurden in diesen Gesprächen Familienmitglieder als Opfer oder aber als Helden dargestellt, inkorrekt verhielten sich immer nur andere, nach den Ursachen für Gräueltaten wurde selten gefragt, Widersprüche und Paradoxien wurden nicht hinterfragt.
Es sei die wahrheitsverbürgende Situation des Familiengespräches selbst, in der Zeitzeugen mit einem „Authentizitätsvorteil” ihre Sicht der Dinge wiedergäben, folgern die Autoren und stellen fest: In deutschen Familien wird ein Geschichtsbewusstsein tradiert, in dem die Vernichtung der deutschen Juden nur ein „Nebenereignis” ist. Meist hört die Darstellung der Begegnung mit Juden bei der Reichskristallnacht auf oder befasst sich mit Juden, denen man geholfen habe. Sie beginnt erst wieder, als jüdische Mitbürger nach dem Krieg vereinzelt nach Deutschland zurückkehrten. Unterschieden werde, bis heute, zwischen „den Deutschen” und „den Juden”; Deportationen und Judenvernichtung würden gewöhnlich ausgespart.
Der Holocaust, stellen die Wissenschaftler fest, „hat keinen Platz im deutschen Familiengedächtnis”. Die Erinnerung an ihn wird vermittelt über Filme, über den Geschichtsunterricht in der Schule, über Gedenkstätten. In ge-
wisser Weise sei das sogar nachvollziehbar, schließen sie: In Familien erzählt man gewöhnlich von den eigenen
Opfern, aber nur selten von fremden Toten.
CATHRIN
KAHLWEIT
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
HARALD WELZER, SABINE MOLLER, KAROLINE TSCHUGGNALL: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2002. 246 Seiten, 10,90 Euro.
Es ist paradox: Wenn in deutschen Familien vom Dritten Reich erzählt wird, dann bergen die Geschichten darüber, wie man sich verhalten hat, was einzelnen Familienmitgliedern widerfahren ist, gewöhnlich unauflösbare Widersprüche. Der bekannteste lautet, dass man von den Lagern nichts gewusst habe, aber ständig davon bedroht war, ins Lager zu kommen. Oder dass man einer Vergewaltigung durch Russen nur entging, weil Kinder dabei waren. Dass aber der Russe auf nichts und niemand Rücksicht nahm.
Die drei Herausgeber des überaus spannenden Bandes „Opa war kein Nazi”, allesamt Spezialisten des Themas „Tradierung von Geschichtsbewusstsein”, haben in 40 deutschen Familien zugehört, wenn über Hitler und den Holocaust geredet wurde. Sie interessierten sich für „den Stoff und die Textur des Geschichtsbewusstseins vom Dritten Reich”. Regelmäßig wurden in diesen Gesprächen Familienmitglieder als Opfer oder aber als Helden dargestellt, inkorrekt verhielten sich immer nur andere, nach den Ursachen für Gräueltaten wurde selten gefragt, Widersprüche und Paradoxien wurden nicht hinterfragt.
Es sei die wahrheitsverbürgende Situation des Familiengespräches selbst, in der Zeitzeugen mit einem „Authentizitätsvorteil” ihre Sicht der Dinge wiedergäben, folgern die Autoren und stellen fest: In deutschen Familien wird ein Geschichtsbewusstsein tradiert, in dem die Vernichtung der deutschen Juden nur ein „Nebenereignis” ist. Meist hört die Darstellung der Begegnung mit Juden bei der Reichskristallnacht auf oder befasst sich mit Juden, denen man geholfen habe. Sie beginnt erst wieder, als jüdische Mitbürger nach dem Krieg vereinzelt nach Deutschland zurückkehrten. Unterschieden werde, bis heute, zwischen „den Deutschen” und „den Juden”; Deportationen und Judenvernichtung würden gewöhnlich ausgespart.
Der Holocaust, stellen die Wissenschaftler fest, „hat keinen Platz im deutschen Familiengedächtnis”. Die Erinnerung an ihn wird vermittelt über Filme, über den Geschichtsunterricht in der Schule, über Gedenkstätten. In ge-
wisser Weise sei das sogar nachvollziehbar, schließen sie: In Familien erzählt man gewöhnlich von den eigenen
Opfern, aber nur selten von fremden Toten.
CATHRIN
KAHLWEIT
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der Sozialpsychologe Harald Welzer und seine Forschergruppe haben ein wichtiges und überaus aufschlussreiches Projekt durchgeführt, das "weitreichende Fragen" für die Vermittlung von Geschichte und für die politische Bildung aufwirft, ist Mascha Jacobs überzeugt. Welzer und andere haben die Enkelgeneration der Menschen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, über ihre Wahrnehmung und ihr Wissen über diese Zeit befragt, und zwar einmal über das Wissen innerhalb der Familie und zum anderen über das von Außen vermittelte Wissen, berichtet die Rezensentin. Aus 142 Einzelinterviews und vierzig Familiengeschichten ließen sich, so Jacobs, einige interessante Tendenzen ableiten. Einerseits mache diese Studie deutlich, dass der emotionale Zugang zur NS-Zeit über die Familie erfolge, nicht über die "abstrakte Beschäftigung", andererseits ließe sich eine frappierende Neigung bei den Enkeln feststellen, ihre Familienmitglieder als Opfer oder Widerstandskämpfer "zu schützen". Jaocbs hält das für ein hochinteressantes Ergebnis, denn schließlich stünde diese Sicht in eklatantem Widerspruch zur offiziellen Geschichtsschreibung, in der nicht "Leid, Verzicht, Krieg und Heldentum" der "ganz normalen Deutschen" vermerkt werde, sondern vielmehr die Rede von "Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung" sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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