Aus Anlass des 100. Geburtstages von Sadek Hedayat veröffentlichen wir erneut und unverändert Gerd Hennigers Übersetzung der Blinden Eule aus dem Französischen, die erstmalig 1961 in Berlin veröffentlicht worden war. Dieser Übersetzung fügen wir einen Essay von Youssef Ishaghpour hinzu.Der deutschsprachige Leser hat hier die Möglichkeit, einen der Schriftsteller des Irans kennen zu lernen, der die Literatur seines Landes maßgeblich geprägt hat und noch immer prägt.Ishaghpours Essay macht u.a. auch die Komplexität der heutigen Lage im Iran deutlich. Die Illustrationen von Shahram Karimi, die er speziell für diese Ausgabe gezeichnet hat, sollen die Lektüre der Blinden Eule begleiten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1999Allein gegen einen Drachen mit siebzig Köpfen
Ein Leser Kafkas und ein Opfer seiner eigenen Hellsicht: Der große iranische Schriftsteller Sadeq Hedayat erlebt eine Renaissance
Manchmal siegt die Literatur doch. Manchmal hält sie den periodisch eintretenden Stürmen stand, bleibt einfach stehen, wo sie ist, und am Ende hat sie alle moralisierenden Mahnungen überdauert, sich gegen alle dogmatischen Einwände behauptet und versammelt auch in der vierten und fünften Generation ihre Anhänger um sich, bis schließlich kaum noch jemand wagt, die Stimme zu erheben, nur hier und da einzelne Protestrufe sich verlieren, selbst die Zensoren ein Auge zudrücken, weil ein Werk zum Denkmal geworden ist. Der iranische Schriftsteller Sadeq Hedayat, geboren 1903 in Teheran, freiwillig aus dem Leben geschieden 1951 in Paris, ist so ein Fall.
Man hat Hedayat als drogensüchtig und dekadent gebrandmarkt, als unverbesserlichen Pessimisten abgeschrieben und von seiten der Kommunisten, Monarchisten und Islamisten gleichermaßen zum politisch verdächtigen Nihilisten abgestempelt. Man hat seinen Einfluß auf die Jugend zu unterbinden gesucht und seine Bücher immer wieder verboten. Doch studiert man die Hedayat-Kritik der vergangenen sechs Jahrzehnte, so stößt man auf den erstaunlichen Umstand, daß die Qualität seiner Prosa so gut wie nie in Abrede gestellt worden ist. In einem Land wie Iran, das sich seiner dichterischen Tradition rühmt und in dem die Literatur tatsächlich so etwas wie ein heiliger, aber sich immer erneuernder Kanon ist, kommt das fast einer Immunitätserklärung gleich. Anders ist kaum zu erklären, daß Hedayat immer unter den ersten ist, die von einer zeitweisen Liberalisierung der harten Zensurbestimmungen profitieren. Gegenwärtig erlebt er in Iran abermals eine Renaissance; die meisten seiner Bücher erscheinen wieder, zahlreiche literaturwissenschaftliche Abhandlungen widmen sich ihm, während vieles von dem, was immer noch verboten ist, sich im Vergleich zu Hedayat wie Erbauungslektüre ausnimmt.
Die Anziehungskraft dieses Schriftstellers ist ein Phänomen. Weder sind seine Texte leicht zugänglich, noch vermögen sie auf seichte Art zu unterhalten. Sie sind sprachlich virtuos und größtenteils kühn in ihrer formalen Anlage. Sie laden nicht zur Identifikation ein, bieten keine sympathischen Helden, verstören durch die Unerbittlichkeit, mit der sie aus der Welt das Grauen destillieren. Das Bild, das sie von der Heimat zeichnen, ist abweisend und düster, provozierend in seiner Einseitigkeit und der Darstellung traditioneller Autoritäten. Seine bissigsten Attacken richtete Hedayat gegen den Islam, dessen ganze Weisheit "auf Unrat gegründet" und dessen Logik "das scharfe Schwert und die Bettelschale" sei: "Er ist ein Übelkeit verursachendes Gemisch aus unverdauten und sich widersprechenden Meinungen und Überzeugungen, die aus anderen Konfessionen, Religionen und dem alten Aberglauben in panischer Eile stibitzt und zusammengekittet worden sind."
Überhaupt gehe die Entstehung des Islams auf eine "Verschwörung" zurück, welche jüdische Agenten "angezettelt haben, um das persische und byzantinische Imperium zu Fall zu bringen"; die Araber, "diese heuschreckenfressenden, aus dem Mund stinkenden Bettelkönige" seien für eine solche Untat viel zu unbedeutend. "Aber wie der Stock Mose, der sich in einen Drachen verwandelte, so daß Moses sich selbst vor ihm fürchtete, ist auch dieser siebzigköpfige Drachen (der Islam) dabei, die Welt zu verschlingen." So urteilte der Mann, der bei Leserumfragen in der Islamischen Republik regelmäßig als populärster Erzähler der modernen iranischen Literatur ermittelt wird.
Schon zu Lebzeiten eckte Hedayat an. Daß er den Islam kritisierte, erregte in den dreißiger und vierziger Jahren, als die Religion noch nicht von Denkern wie Al-e Ahmad, Bazargan oder Schariati in den Diskurs der iranischen Intellektuellen eingeführt worden war, zwar kaum Anstoß, aber auch von den beiden dominierenden Gedankenströmungen seiner Zeit mochte Hedayat sich nicht mitziehen lassen. Den Nationalismus und Modernisierungseifer des Diktators Reza Schah, der anfangs viele Intellektuelle begeistert hatte, empfand er als oberflächlich und totalitär. Zum dogmatischen Kommunismus der Tudeh-Partei, der bis in die fünfziger Jahre hinein das intellektuelle Klima des Landes prägte, ging er ebenfalls auf Distanz. Zum Bruch kam es, nachdem Hedayat vehement für Kafka eingetreten war, den die kommunistischen Intellektuellen als pessimistisch und weltfern ablehnten. Die Reaktion, die er bei ihnen auslöste, war heftig und der Art nach nicht so sehr verschieden von der sich religiös gebenden Entrüstung, durch die kritische Geister in der islamischen Welt auch heutzutage eingeschüchtert werden.
Es war eine andere Zeit. Es war die Zeit chauvinistischer oder linker Ideologien, der nationalen Selbstbehauptung und des Drucks der Kolonialmächte, des Aufbruchs und der Illusionen. Die Zeit Hedayats war es nicht. Eher lebte er mit Tschechow, Guy de Maupassant oder Omar Chayyam, als sich auf die hitzigen Debatten unter den Intellektuellen einzulassen. Er flüchtete sich in das verklärte Bild einer vorislamischen Vergangenheit oder träumte von einem Iran als Mitglied einer transnationalen Weltkultur. Iran war ihm ein "schrecklicher und schmerzender Albtraum".
Hedayat blieb zeit seines Lebens eine Randfigur. Er fügte sich in die Anonymität, die ihm Menschenschicksal zu sein schien, und erregte sich kaum über die Mißachtung, die seinem literarischen Werk entgegengebracht wurde. Zu einem vorzeigbaren Beruf, einer gesicherten Existenz, einer Familie brachte er es nie. "Der Nachfahre Adams ist einsam und allein, hilflos und ohne Zuflucht, namenlos fristet er sein Dasein in einem unwirtlichen Land, fern seiner gewohnten Umgebung", schrieb er in einem Essay über Kafka. "Mit niemandem vermag er eine Verbindung einzugehen, niemandem sein Herz hinzugeben, und er ist sich darüber im klaren, weil sein Blick und seine äußeren Züge es nach außen tragen. Er sucht es zu verbergen und sich zwanghaft einzurichten im Leben, aber im Zweifel entlarvt er sich selbst, wissend, daß er überzählig ist."
Hedayats Leben blieb provisorisch, immer im Aufbruch begriffen, nicht weil er hoffte, sondern weil nichts ihn hielt. Folgerichtig ist seine Biographie ein Buch der Unruhe. Exemplarisch ist sein erster Aufenthalt im Ausland. Als er 1926 mit dem begehrten staatlichen Stipendium für ein Ingenieurstudium nach Europa reist, beginnt eine Tour de force: Von Brüssel nach Gent, wo er - anstatt sich auf das Studium zu konzentrieren - einen Essay über den Tod schreibt, von Gent nach Paris, Reims und Besançon. Dann versucht er es noch einmal in Paris.
Unschlüssig ist Hedayat während all dieser Jahre nicht nur über den Ort seines Studiums, sondern auch über das Fach. Mal beginnt er ein Zahnarztstudium, dann entscheidet er sich für Architektur, bevor er sich doch wieder auf einen Ingenieurstudiengang besinnt, wobei er währenddessen auch mit dem Gedanken spielt, Kunsthistoriker zu werden oder Maler. Im Juni 1930 kehrt er nach Teheran zurück, ohne Abschluß, ohne jede Perspektive.
Es waren nicht nur die existentiellen oder politischen Probleme der Zeit, an denen Hedayat litt. Schon die Infamien des Alltags überforderten ihn. Glaubt man seinen eigenen Bekundungen, hat er sich wegen einer Wanduhr in einer Pariser Pension, deren Läuten ihn nachts stündlich aus dem Schlaf riß, sogar das Leben nehmen wollen. Von einer einsamen Brücke springt er, ein Nichtschwimmer, in die Marne, ohne zu wissen, daß sich genau unterhalb von ihm ein Liebespaar in einem Boot vergnügt. Es dauert nur wenige Sekunden, da ist Hedayat schon von dem jungen Mann gerettet. "Gewöhnlich sagt man einem Menschen, dessen Zustand aussichtslos ist: ,Gib es auf, leg dich hin und stirb!'" notiert Hedayat nicht sehr viel später in der Erzählung "Lebendig begraben". "Aber was geschieht, wenn der Tod dich nicht haben will, wenn er dir den Rücken zukehrt, wenn er einfach nicht zu dir kommt, nicht zu dir kommen will?"
Vielleicht ist diese tragikomische Situation bezeichnend für das Leben dieses iranischen Künstlers: Es war ein fortwährendes Scheitern, aber es hatte nichts Heroisches. Niemand konnte darüber nüchterner Auskunft geben als er selbst: "Insgesamt existiert in der Geschichte meines Lebens nichts, was es wert gewesen wäre, Aufmerksamkeit zu erregen. Nichts geschah, was hätte Beachtung finden können. Ich habe weder eine wichtige Position noch ein beeindruckendes Zeugnis. Niemals war ich ein herausragender Student. Im Gegenteil: Mein Los war immer die Erfolglosigkeit. Egal, was ich tat, ich blieb unbekannt und unbedeutend."
Nach seiner Rückkehr setzte sich die Irrfahrt Hedayats fort - mit dem Unterschied, daß nunmehr die Arbeitsplätze wechselten. Er begann bei der Nationalbank zu arbeiten, reichte aber schon 1932 seine Kündigung ein. Er wurde bei der Handelskammer angestellt, kündigte aber 1934 erneut. Sein nächster Arbeitsplatz war im Außenministerium, das er 1935 verließ, um auf Gänsejagd zu gehen. So ging es weiter. Im Jahre 1936 besuchte er einen Freund in Bombay. Sicher hatte Hedayat ein vages Interesse an der indischen Kultur und ein konkretes am Studium des Pahlavi, dem zu widmen sich anbot, weil dort eine relativ bedeutende parsische Kommune lebt, doch dürfte das nicht der eigentliche Grund für die Reise gewesen sein. Wie seine Briefe aus dieser Zeit erkennen lassen, war ihm daran gelegen, überhaupt wegzufahren, egal wohin, um diesem "verfaulten und erstickenden Friedhof, der einem ein schlechtes Omen bringt", zu entfliehen.
Hedayat, der aus einer wohlhabenden und gebildeten Beamtenfamilie stammte, fand in all den Jahren nicht die Mittel oder den Anstoß, sich vom Elternhaus zu lösen. Lebensmittelpunkt war ihm mittlerweile die Schriftstellerei geworden, und in dieser erlebte er von 1930 bis 1936 seine produktivste Phase, in der er seine wichtigsten Werke einschließlich der "Blinden Eule" verfaßte, eine verstörende, in ihrer Abgründigkeit erschreckende Novelle voller Mysterien, die zu Recht als das Meisterstück der modernen persischen Prosaliteratur gepriesen wird. Mehr noch: Wenn Iran in diesem Jahrhundert nur einen Text zum Kanon der Weltliteratur beigesteuert hat - dieser ist es.
1936 in Bombay als hektographierte Handschrift in einer Auflage von fünfzig Exemplaren erschienen, jeweils mit dem Vermerk versehen "Druck und Vertrieb in Iran verboten", ist "Die blinde Eule" die Halluzination eines Verzweifelten, in der keine Logik gilt außer der des Albtraumes, gespickt mit Motiven aus unterschiedlichen geistigen Welten, vom Sufismus bis zur modernen Psychoanalyse. Hedayat schildert einen Marsch durch die Seele, durch jenes Gestrüpp, von dessen Existenz die Spaziergänger unter den Menschen nichts ahnen. Das Ganze hat etwas von den vierzigtägigen Reisen ins Innere, welche die islamischen Mystiker in der Klausur unternehmen. Bei Hedayat jedoch gestalten sie sich als ein Horrortrip.
"Die blinde Eule" ist ein Buch der Bücher, wie es in der Bibliographie eines Autors notwendig singulär ist. Dies sollte den Blick jedoch nicht auf sein übriges Werk verstellen, das neben anderen surrealistischen Texten auch Satiren sowie realistische und sozialkritische Erzählungen aufweist. Sie fügen sich zu einem Kaleidoskop der Randgestalten: Die Protagonisten sind meist einsame, verschrobene, bisweilen lebensunfähige oder menschlich verkrüppelte Gestalten, die sich nach Nähe zu einem Mitmenschen sehnen, aber in ihren vorsichtigen Versuchen, sie zu erlangen, jämmerlich scheitern wie Davud, der Bucklige, Chodadad, der Einsiedler, oder Pat, der verwahrloste Hund. Am Ende bleibt ihnen allen nur der endgültige Rückzug in sich selbst.
Wieder öffnet der Kafka-Essay eine Tür: "Selbst in seinem Denken, Handeln und Verhalten ist er nicht frei", charakterisiert Hedayat den Menschen kafkascher Prägung und könnte damit auch denjenigen seiner eigenen Erzählungen meinen. "Befangenheit prägt seinen Umgang mit anderen. Dauernd sucht er sich zu rechtfertigen. Er brütet über Ausreden, flüchtet sich von einer Ausrede zur nächsten, aber er ist ein Gefangener seiner eigenen Ausflüchte, weil er seinen Fuß nicht über die Linie setzen kann, die um ihn herum gezogen worden ist."
"Die Botschaft Kafkas" ist nicht nur ein rezeptionsgeschichtliches Dokument von bemerkenswerter Originalität, verfaßt von einem iranischen Schriftsteller, der Kafka schon entdeckt, gepriesen und übersetzt hatte, als dieser in Europa erst allmählich bekannt wurde. 1948 als letzter Text Hedayats überhaupt erschienen, ist es zum Vermächtnis seiner selbst geworden, Selbstentblößung und Selbstrechtfertigung zugleich; indem er über Kafka schrieb, schrieb Hedayat über sich selbst, indem er dessen Werk durchdrang, sezierte er sein eigenes. "Man wird sagen, er war ein pessimistischer Schriftsteller und hat das Leben mit Absicht düsterer dargestellt, als es ist", nimmt er die Rezeptionsgeschichte Kafkas und gleichzeitig seine eigene vorweg. "Kafka läßt in seiner Kunst die räuberische Wahrheit in sein Inneres einfließen, oder, mit anderen Worten, die Wahrheiten seines Inneren sind so zahlreich, daß sie von selbst hervortreten und sein gesamtes Werk erfüllen. Er ist weder optimistisch noch pessimistisch. Alle Nöte des Menschen, die in seinen Schriften festgehalten sind, und das Unglück, das er ausgewählt und fortwährend verfolgt hat, sind Bestandteile seiner Untersuchung." Und Hedayat sagt auch dies: "Jene, die gegen Kafka den Knüppel der Verketzerung erheben, sind die nicht zu zählenden Brautjungfern, die Schminke und Bleiweiß auf das seelenlose Antlitz jenes großen Götzen auftragen, der das zwanzigste Jahrhundert ist."
Man hat Hedayat immer wieder den "Kafka Irans" genannt; wahr daran ist, daß Geschichte für beide dem Fallbeil einer Guillotine gleicht, die Menschen den Verurteilten. Wahr ist auch, daß ihre Lebensläufe sich merkwürdig ähneln, das Verhältnis zu den Frauen, der Angestelltenberuf, der frühe Tod, das Schicksal ihres Werkes. Falsch aber ist es, insofern es eine zu große Nähe ihrer Erzählungen suggeriert. Hedayats Helden sind keine Namenlosen; ihre Biographie ist offenbar, ihre Umwelt konkret und identifizierbar, ihre Sprache auf unnachahmliche Weise individualisiert. Diese Eigenschaft seines literarischen Stils widerlegt übrigens auch das Vorurteil, Hedayat habe das Dasein eines weltabgewandten Eremiten geführt, der von den Dingen der Welt nicht viel verstehe. Er war ein Außenseiter, aber kein Eremit. Andernfalls hätte er kaum die Vielzahl idiomatischer Begriffe, die in keinem Wörterbuch enthalten sind, aufschnappen und sie seinen Figuren in den Mund legen können. Der große Wortschatz, der zum Teil seiner Herkunft, zum Teil seiner überragenden Beobachtungsgabe und grenzenlosen Neugier für die Sitten, Weisheiten und Ausdrücke des Volkes zu verdanken ist, verführt ihn aber nie dazu, mit seiner Sprachgewalt zu prahlen. Kennzeichnend ist im Gegenteil die völlige Schnörkellosigkeit seiner Sprache.
In den letzten zwei Jahren sind drei Bücher Hedayats auf deutsch erschienen; das wichtigste ist gewiß die von Bahman Nirumand sorgfältig übersetzte Neuauflage des Romans "Die blinde Eule" in der Bibliothek Suhrkamp. Bedauerlich ist, daß aus der 1990 bei Eichborn herausgekommenen Erstauflage nicht die neun zusätzlich übersetzten Erzählungen übernommen worden sind, die zu den stärksten Hedayats gehören. In der Neuen Orientalischen Bibliothek des Beck-Verlages ist eine Sammlung erschienen, die insbesondere das realistische Werk Hedayats vorstellt, darunter einige seiner bekanntesten, aber auch einige seiner eher belanglosen Erzählungen. Geradezu eine Frechheit ist der von Dorothea Krawulsky in der Edition Orient vorgelegte, irritierenderweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Band "Die Reise zum Imam. Kurzgeschichten und Satiren". Mit ihrem biederen Deutsch und unter zahlreichen Übersetzungs-, Tipp- und Orthographiefehlern leidend, ist die Veröffentlichung ein Beispiel dafür, wie sich bisweilen gerade besonders engagierte Verlage an der Literatur verheben und damit deren Entdeckung eher verhindern als ermöglichen.
Hedayat litt immer wieder unter Monaten der schriftstellerischen Lähmung, aber wenn er ins Schreiben kam, arbeitete er fieberhaft. Neben dem erzählerischen Werk verfaßte er Theaterstücke, Essays, Reiseberichte, Übersetzungen, volkskundliche und altiranistische Studien. In den vierziger Jahren jedoch, als auch die politischen Hoffnungen, die ihn nach dem Abgang des Monarchen Reza Schah erfüllt hatten, sich verflüchtigten, wurden die schöpferischen Phasen immer seltener. Parallel zu seinem Drogenkonsum verstärkten sich Lethargie und Einsamkeit. Zu jener Zeit war Hedayat als Übersetzer an der Hochschule der Schönen Künste angestellt. "Jeden Tag schaut er hier vorbei", berichtete ein Arbeitskollege. "Erst nimmt er den Hut ab und legt ihn in die Ecke. Dann setzt er sich auf einen Stuhl und klingelt nach einer Tasse Tee. Er starrt dann eine Zeitlang an die Wände, und falls eine Zeitung auf dem Schreibtisch liegt, schaut er auf die erste Seite - aber er liest sie nicht. Nachdem er den Tee getrunken hat, setzt er sich den Hut auf, und ohne mit irgendwem ein Wort gewechselt zu haben, geht er auf die gleiche Weise, wie er gekommen ist. Das ist Hedayats tägliche Routine. Es ist kein unwahres oder übertriebenes Wort in irgend etwas von dem, was ich gesagt habe."
Ende 1950 fliegt Hedayat noch einmal nach Paris. Mit seinem Leben in Teheran an einem Tiefpunkt angelangt, in seinem künstlerischen Schaffen erlahmt, deprimiert auch angesichts der politischen Entwicklung, versucht er noch einmal, dem Unentrinnbaren zu entkommen. Doch ist der Freund, der ihn von Frankreich aus zu der Reise bewogen hatte, todkrank, das Geld geht ihm aus, und bei seinen iranischen Bekannten findet er nicht die erhoffte Unterstützung. Nach einigen vergeblichen Bemühungen, das Visum für eine Reise nach Genf oder London zu bekommen, ohne Geld, vor der Alternative stehend, zu seinem Arbeitsplatz in Teheran zurückzukehren oder entlassen zu werden (er hatte sich dort für vier Monate beurlauben lassen), kommt er am achten oder neunten April 1951 (das genaue Datum ist unklar) in sein ärmlich eingerichtetes Appartement in der Rue de Championnet, geht in die kleine Küche, dichtet die Tür ab, dreht den Gasherd auf, legt sich auf den Boden und stirbt. "Er wurde zum Opfer seiner Hellsicht", hat er über Kafka geschrieben.
NAVID KERMANI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Leser Kafkas und ein Opfer seiner eigenen Hellsicht: Der große iranische Schriftsteller Sadeq Hedayat erlebt eine Renaissance
Manchmal siegt die Literatur doch. Manchmal hält sie den periodisch eintretenden Stürmen stand, bleibt einfach stehen, wo sie ist, und am Ende hat sie alle moralisierenden Mahnungen überdauert, sich gegen alle dogmatischen Einwände behauptet und versammelt auch in der vierten und fünften Generation ihre Anhänger um sich, bis schließlich kaum noch jemand wagt, die Stimme zu erheben, nur hier und da einzelne Protestrufe sich verlieren, selbst die Zensoren ein Auge zudrücken, weil ein Werk zum Denkmal geworden ist. Der iranische Schriftsteller Sadeq Hedayat, geboren 1903 in Teheran, freiwillig aus dem Leben geschieden 1951 in Paris, ist so ein Fall.
Man hat Hedayat als drogensüchtig und dekadent gebrandmarkt, als unverbesserlichen Pessimisten abgeschrieben und von seiten der Kommunisten, Monarchisten und Islamisten gleichermaßen zum politisch verdächtigen Nihilisten abgestempelt. Man hat seinen Einfluß auf die Jugend zu unterbinden gesucht und seine Bücher immer wieder verboten. Doch studiert man die Hedayat-Kritik der vergangenen sechs Jahrzehnte, so stößt man auf den erstaunlichen Umstand, daß die Qualität seiner Prosa so gut wie nie in Abrede gestellt worden ist. In einem Land wie Iran, das sich seiner dichterischen Tradition rühmt und in dem die Literatur tatsächlich so etwas wie ein heiliger, aber sich immer erneuernder Kanon ist, kommt das fast einer Immunitätserklärung gleich. Anders ist kaum zu erklären, daß Hedayat immer unter den ersten ist, die von einer zeitweisen Liberalisierung der harten Zensurbestimmungen profitieren. Gegenwärtig erlebt er in Iran abermals eine Renaissance; die meisten seiner Bücher erscheinen wieder, zahlreiche literaturwissenschaftliche Abhandlungen widmen sich ihm, während vieles von dem, was immer noch verboten ist, sich im Vergleich zu Hedayat wie Erbauungslektüre ausnimmt.
Die Anziehungskraft dieses Schriftstellers ist ein Phänomen. Weder sind seine Texte leicht zugänglich, noch vermögen sie auf seichte Art zu unterhalten. Sie sind sprachlich virtuos und größtenteils kühn in ihrer formalen Anlage. Sie laden nicht zur Identifikation ein, bieten keine sympathischen Helden, verstören durch die Unerbittlichkeit, mit der sie aus der Welt das Grauen destillieren. Das Bild, das sie von der Heimat zeichnen, ist abweisend und düster, provozierend in seiner Einseitigkeit und der Darstellung traditioneller Autoritäten. Seine bissigsten Attacken richtete Hedayat gegen den Islam, dessen ganze Weisheit "auf Unrat gegründet" und dessen Logik "das scharfe Schwert und die Bettelschale" sei: "Er ist ein Übelkeit verursachendes Gemisch aus unverdauten und sich widersprechenden Meinungen und Überzeugungen, die aus anderen Konfessionen, Religionen und dem alten Aberglauben in panischer Eile stibitzt und zusammengekittet worden sind."
Überhaupt gehe die Entstehung des Islams auf eine "Verschwörung" zurück, welche jüdische Agenten "angezettelt haben, um das persische und byzantinische Imperium zu Fall zu bringen"; die Araber, "diese heuschreckenfressenden, aus dem Mund stinkenden Bettelkönige" seien für eine solche Untat viel zu unbedeutend. "Aber wie der Stock Mose, der sich in einen Drachen verwandelte, so daß Moses sich selbst vor ihm fürchtete, ist auch dieser siebzigköpfige Drachen (der Islam) dabei, die Welt zu verschlingen." So urteilte der Mann, der bei Leserumfragen in der Islamischen Republik regelmäßig als populärster Erzähler der modernen iranischen Literatur ermittelt wird.
Schon zu Lebzeiten eckte Hedayat an. Daß er den Islam kritisierte, erregte in den dreißiger und vierziger Jahren, als die Religion noch nicht von Denkern wie Al-e Ahmad, Bazargan oder Schariati in den Diskurs der iranischen Intellektuellen eingeführt worden war, zwar kaum Anstoß, aber auch von den beiden dominierenden Gedankenströmungen seiner Zeit mochte Hedayat sich nicht mitziehen lassen. Den Nationalismus und Modernisierungseifer des Diktators Reza Schah, der anfangs viele Intellektuelle begeistert hatte, empfand er als oberflächlich und totalitär. Zum dogmatischen Kommunismus der Tudeh-Partei, der bis in die fünfziger Jahre hinein das intellektuelle Klima des Landes prägte, ging er ebenfalls auf Distanz. Zum Bruch kam es, nachdem Hedayat vehement für Kafka eingetreten war, den die kommunistischen Intellektuellen als pessimistisch und weltfern ablehnten. Die Reaktion, die er bei ihnen auslöste, war heftig und der Art nach nicht so sehr verschieden von der sich religiös gebenden Entrüstung, durch die kritische Geister in der islamischen Welt auch heutzutage eingeschüchtert werden.
Es war eine andere Zeit. Es war die Zeit chauvinistischer oder linker Ideologien, der nationalen Selbstbehauptung und des Drucks der Kolonialmächte, des Aufbruchs und der Illusionen. Die Zeit Hedayats war es nicht. Eher lebte er mit Tschechow, Guy de Maupassant oder Omar Chayyam, als sich auf die hitzigen Debatten unter den Intellektuellen einzulassen. Er flüchtete sich in das verklärte Bild einer vorislamischen Vergangenheit oder träumte von einem Iran als Mitglied einer transnationalen Weltkultur. Iran war ihm ein "schrecklicher und schmerzender Albtraum".
Hedayat blieb zeit seines Lebens eine Randfigur. Er fügte sich in die Anonymität, die ihm Menschenschicksal zu sein schien, und erregte sich kaum über die Mißachtung, die seinem literarischen Werk entgegengebracht wurde. Zu einem vorzeigbaren Beruf, einer gesicherten Existenz, einer Familie brachte er es nie. "Der Nachfahre Adams ist einsam und allein, hilflos und ohne Zuflucht, namenlos fristet er sein Dasein in einem unwirtlichen Land, fern seiner gewohnten Umgebung", schrieb er in einem Essay über Kafka. "Mit niemandem vermag er eine Verbindung einzugehen, niemandem sein Herz hinzugeben, und er ist sich darüber im klaren, weil sein Blick und seine äußeren Züge es nach außen tragen. Er sucht es zu verbergen und sich zwanghaft einzurichten im Leben, aber im Zweifel entlarvt er sich selbst, wissend, daß er überzählig ist."
Hedayats Leben blieb provisorisch, immer im Aufbruch begriffen, nicht weil er hoffte, sondern weil nichts ihn hielt. Folgerichtig ist seine Biographie ein Buch der Unruhe. Exemplarisch ist sein erster Aufenthalt im Ausland. Als er 1926 mit dem begehrten staatlichen Stipendium für ein Ingenieurstudium nach Europa reist, beginnt eine Tour de force: Von Brüssel nach Gent, wo er - anstatt sich auf das Studium zu konzentrieren - einen Essay über den Tod schreibt, von Gent nach Paris, Reims und Besançon. Dann versucht er es noch einmal in Paris.
Unschlüssig ist Hedayat während all dieser Jahre nicht nur über den Ort seines Studiums, sondern auch über das Fach. Mal beginnt er ein Zahnarztstudium, dann entscheidet er sich für Architektur, bevor er sich doch wieder auf einen Ingenieurstudiengang besinnt, wobei er währenddessen auch mit dem Gedanken spielt, Kunsthistoriker zu werden oder Maler. Im Juni 1930 kehrt er nach Teheran zurück, ohne Abschluß, ohne jede Perspektive.
Es waren nicht nur die existentiellen oder politischen Probleme der Zeit, an denen Hedayat litt. Schon die Infamien des Alltags überforderten ihn. Glaubt man seinen eigenen Bekundungen, hat er sich wegen einer Wanduhr in einer Pariser Pension, deren Läuten ihn nachts stündlich aus dem Schlaf riß, sogar das Leben nehmen wollen. Von einer einsamen Brücke springt er, ein Nichtschwimmer, in die Marne, ohne zu wissen, daß sich genau unterhalb von ihm ein Liebespaar in einem Boot vergnügt. Es dauert nur wenige Sekunden, da ist Hedayat schon von dem jungen Mann gerettet. "Gewöhnlich sagt man einem Menschen, dessen Zustand aussichtslos ist: ,Gib es auf, leg dich hin und stirb!'" notiert Hedayat nicht sehr viel später in der Erzählung "Lebendig begraben". "Aber was geschieht, wenn der Tod dich nicht haben will, wenn er dir den Rücken zukehrt, wenn er einfach nicht zu dir kommt, nicht zu dir kommen will?"
Vielleicht ist diese tragikomische Situation bezeichnend für das Leben dieses iranischen Künstlers: Es war ein fortwährendes Scheitern, aber es hatte nichts Heroisches. Niemand konnte darüber nüchterner Auskunft geben als er selbst: "Insgesamt existiert in der Geschichte meines Lebens nichts, was es wert gewesen wäre, Aufmerksamkeit zu erregen. Nichts geschah, was hätte Beachtung finden können. Ich habe weder eine wichtige Position noch ein beeindruckendes Zeugnis. Niemals war ich ein herausragender Student. Im Gegenteil: Mein Los war immer die Erfolglosigkeit. Egal, was ich tat, ich blieb unbekannt und unbedeutend."
Nach seiner Rückkehr setzte sich die Irrfahrt Hedayats fort - mit dem Unterschied, daß nunmehr die Arbeitsplätze wechselten. Er begann bei der Nationalbank zu arbeiten, reichte aber schon 1932 seine Kündigung ein. Er wurde bei der Handelskammer angestellt, kündigte aber 1934 erneut. Sein nächster Arbeitsplatz war im Außenministerium, das er 1935 verließ, um auf Gänsejagd zu gehen. So ging es weiter. Im Jahre 1936 besuchte er einen Freund in Bombay. Sicher hatte Hedayat ein vages Interesse an der indischen Kultur und ein konkretes am Studium des Pahlavi, dem zu widmen sich anbot, weil dort eine relativ bedeutende parsische Kommune lebt, doch dürfte das nicht der eigentliche Grund für die Reise gewesen sein. Wie seine Briefe aus dieser Zeit erkennen lassen, war ihm daran gelegen, überhaupt wegzufahren, egal wohin, um diesem "verfaulten und erstickenden Friedhof, der einem ein schlechtes Omen bringt", zu entfliehen.
Hedayat, der aus einer wohlhabenden und gebildeten Beamtenfamilie stammte, fand in all den Jahren nicht die Mittel oder den Anstoß, sich vom Elternhaus zu lösen. Lebensmittelpunkt war ihm mittlerweile die Schriftstellerei geworden, und in dieser erlebte er von 1930 bis 1936 seine produktivste Phase, in der er seine wichtigsten Werke einschließlich der "Blinden Eule" verfaßte, eine verstörende, in ihrer Abgründigkeit erschreckende Novelle voller Mysterien, die zu Recht als das Meisterstück der modernen persischen Prosaliteratur gepriesen wird. Mehr noch: Wenn Iran in diesem Jahrhundert nur einen Text zum Kanon der Weltliteratur beigesteuert hat - dieser ist es.
1936 in Bombay als hektographierte Handschrift in einer Auflage von fünfzig Exemplaren erschienen, jeweils mit dem Vermerk versehen "Druck und Vertrieb in Iran verboten", ist "Die blinde Eule" die Halluzination eines Verzweifelten, in der keine Logik gilt außer der des Albtraumes, gespickt mit Motiven aus unterschiedlichen geistigen Welten, vom Sufismus bis zur modernen Psychoanalyse. Hedayat schildert einen Marsch durch die Seele, durch jenes Gestrüpp, von dessen Existenz die Spaziergänger unter den Menschen nichts ahnen. Das Ganze hat etwas von den vierzigtägigen Reisen ins Innere, welche die islamischen Mystiker in der Klausur unternehmen. Bei Hedayat jedoch gestalten sie sich als ein Horrortrip.
"Die blinde Eule" ist ein Buch der Bücher, wie es in der Bibliographie eines Autors notwendig singulär ist. Dies sollte den Blick jedoch nicht auf sein übriges Werk verstellen, das neben anderen surrealistischen Texten auch Satiren sowie realistische und sozialkritische Erzählungen aufweist. Sie fügen sich zu einem Kaleidoskop der Randgestalten: Die Protagonisten sind meist einsame, verschrobene, bisweilen lebensunfähige oder menschlich verkrüppelte Gestalten, die sich nach Nähe zu einem Mitmenschen sehnen, aber in ihren vorsichtigen Versuchen, sie zu erlangen, jämmerlich scheitern wie Davud, der Bucklige, Chodadad, der Einsiedler, oder Pat, der verwahrloste Hund. Am Ende bleibt ihnen allen nur der endgültige Rückzug in sich selbst.
Wieder öffnet der Kafka-Essay eine Tür: "Selbst in seinem Denken, Handeln und Verhalten ist er nicht frei", charakterisiert Hedayat den Menschen kafkascher Prägung und könnte damit auch denjenigen seiner eigenen Erzählungen meinen. "Befangenheit prägt seinen Umgang mit anderen. Dauernd sucht er sich zu rechtfertigen. Er brütet über Ausreden, flüchtet sich von einer Ausrede zur nächsten, aber er ist ein Gefangener seiner eigenen Ausflüchte, weil er seinen Fuß nicht über die Linie setzen kann, die um ihn herum gezogen worden ist."
"Die Botschaft Kafkas" ist nicht nur ein rezeptionsgeschichtliches Dokument von bemerkenswerter Originalität, verfaßt von einem iranischen Schriftsteller, der Kafka schon entdeckt, gepriesen und übersetzt hatte, als dieser in Europa erst allmählich bekannt wurde. 1948 als letzter Text Hedayats überhaupt erschienen, ist es zum Vermächtnis seiner selbst geworden, Selbstentblößung und Selbstrechtfertigung zugleich; indem er über Kafka schrieb, schrieb Hedayat über sich selbst, indem er dessen Werk durchdrang, sezierte er sein eigenes. "Man wird sagen, er war ein pessimistischer Schriftsteller und hat das Leben mit Absicht düsterer dargestellt, als es ist", nimmt er die Rezeptionsgeschichte Kafkas und gleichzeitig seine eigene vorweg. "Kafka läßt in seiner Kunst die räuberische Wahrheit in sein Inneres einfließen, oder, mit anderen Worten, die Wahrheiten seines Inneren sind so zahlreich, daß sie von selbst hervortreten und sein gesamtes Werk erfüllen. Er ist weder optimistisch noch pessimistisch. Alle Nöte des Menschen, die in seinen Schriften festgehalten sind, und das Unglück, das er ausgewählt und fortwährend verfolgt hat, sind Bestandteile seiner Untersuchung." Und Hedayat sagt auch dies: "Jene, die gegen Kafka den Knüppel der Verketzerung erheben, sind die nicht zu zählenden Brautjungfern, die Schminke und Bleiweiß auf das seelenlose Antlitz jenes großen Götzen auftragen, der das zwanzigste Jahrhundert ist."
Man hat Hedayat immer wieder den "Kafka Irans" genannt; wahr daran ist, daß Geschichte für beide dem Fallbeil einer Guillotine gleicht, die Menschen den Verurteilten. Wahr ist auch, daß ihre Lebensläufe sich merkwürdig ähneln, das Verhältnis zu den Frauen, der Angestelltenberuf, der frühe Tod, das Schicksal ihres Werkes. Falsch aber ist es, insofern es eine zu große Nähe ihrer Erzählungen suggeriert. Hedayats Helden sind keine Namenlosen; ihre Biographie ist offenbar, ihre Umwelt konkret und identifizierbar, ihre Sprache auf unnachahmliche Weise individualisiert. Diese Eigenschaft seines literarischen Stils widerlegt übrigens auch das Vorurteil, Hedayat habe das Dasein eines weltabgewandten Eremiten geführt, der von den Dingen der Welt nicht viel verstehe. Er war ein Außenseiter, aber kein Eremit. Andernfalls hätte er kaum die Vielzahl idiomatischer Begriffe, die in keinem Wörterbuch enthalten sind, aufschnappen und sie seinen Figuren in den Mund legen können. Der große Wortschatz, der zum Teil seiner Herkunft, zum Teil seiner überragenden Beobachtungsgabe und grenzenlosen Neugier für die Sitten, Weisheiten und Ausdrücke des Volkes zu verdanken ist, verführt ihn aber nie dazu, mit seiner Sprachgewalt zu prahlen. Kennzeichnend ist im Gegenteil die völlige Schnörkellosigkeit seiner Sprache.
In den letzten zwei Jahren sind drei Bücher Hedayats auf deutsch erschienen; das wichtigste ist gewiß die von Bahman Nirumand sorgfältig übersetzte Neuauflage des Romans "Die blinde Eule" in der Bibliothek Suhrkamp. Bedauerlich ist, daß aus der 1990 bei Eichborn herausgekommenen Erstauflage nicht die neun zusätzlich übersetzten Erzählungen übernommen worden sind, die zu den stärksten Hedayats gehören. In der Neuen Orientalischen Bibliothek des Beck-Verlages ist eine Sammlung erschienen, die insbesondere das realistische Werk Hedayats vorstellt, darunter einige seiner bekanntesten, aber auch einige seiner eher belanglosen Erzählungen. Geradezu eine Frechheit ist der von Dorothea Krawulsky in der Edition Orient vorgelegte, irritierenderweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Band "Die Reise zum Imam. Kurzgeschichten und Satiren". Mit ihrem biederen Deutsch und unter zahlreichen Übersetzungs-, Tipp- und Orthographiefehlern leidend, ist die Veröffentlichung ein Beispiel dafür, wie sich bisweilen gerade besonders engagierte Verlage an der Literatur verheben und damit deren Entdeckung eher verhindern als ermöglichen.
Hedayat litt immer wieder unter Monaten der schriftstellerischen Lähmung, aber wenn er ins Schreiben kam, arbeitete er fieberhaft. Neben dem erzählerischen Werk verfaßte er Theaterstücke, Essays, Reiseberichte, Übersetzungen, volkskundliche und altiranistische Studien. In den vierziger Jahren jedoch, als auch die politischen Hoffnungen, die ihn nach dem Abgang des Monarchen Reza Schah erfüllt hatten, sich verflüchtigten, wurden die schöpferischen Phasen immer seltener. Parallel zu seinem Drogenkonsum verstärkten sich Lethargie und Einsamkeit. Zu jener Zeit war Hedayat als Übersetzer an der Hochschule der Schönen Künste angestellt. "Jeden Tag schaut er hier vorbei", berichtete ein Arbeitskollege. "Erst nimmt er den Hut ab und legt ihn in die Ecke. Dann setzt er sich auf einen Stuhl und klingelt nach einer Tasse Tee. Er starrt dann eine Zeitlang an die Wände, und falls eine Zeitung auf dem Schreibtisch liegt, schaut er auf die erste Seite - aber er liest sie nicht. Nachdem er den Tee getrunken hat, setzt er sich den Hut auf, und ohne mit irgendwem ein Wort gewechselt zu haben, geht er auf die gleiche Weise, wie er gekommen ist. Das ist Hedayats tägliche Routine. Es ist kein unwahres oder übertriebenes Wort in irgend etwas von dem, was ich gesagt habe."
Ende 1950 fliegt Hedayat noch einmal nach Paris. Mit seinem Leben in Teheran an einem Tiefpunkt angelangt, in seinem künstlerischen Schaffen erlahmt, deprimiert auch angesichts der politischen Entwicklung, versucht er noch einmal, dem Unentrinnbaren zu entkommen. Doch ist der Freund, der ihn von Frankreich aus zu der Reise bewogen hatte, todkrank, das Geld geht ihm aus, und bei seinen iranischen Bekannten findet er nicht die erhoffte Unterstützung. Nach einigen vergeblichen Bemühungen, das Visum für eine Reise nach Genf oder London zu bekommen, ohne Geld, vor der Alternative stehend, zu seinem Arbeitsplatz in Teheran zurückzukehren oder entlassen zu werden (er hatte sich dort für vier Monate beurlauben lassen), kommt er am achten oder neunten April 1951 (das genaue Datum ist unklar) in sein ärmlich eingerichtetes Appartement in der Rue de Championnet, geht in die kleine Küche, dichtet die Tür ab, dreht den Gasherd auf, legt sich auf den Boden und stirbt. "Er wurde zum Opfer seiner Hellsicht", hat er über Kafka geschrieben.
NAVID KERMANI
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