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Produktdetails
  • Verlag: JACOB
  • ISBN-13: 9782415003227
  • Artikelnr.: 69455551
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2024

Der Erreger denkt mit und weiter

Keine Impfkampagne wird das Virus der Dekonstruktion in den Griff bekommen, ministeriellen Appellen zum Trotz: Zwei Lager französischer Wissenschaftler streiten über die Ätiologie des minoritären Forschens.

Die französische Universität glaubte sich lange gefeit gegen antiintellektuelle Auswüchse der Ethnic-, Postcolonial-, Gender- oder Queer-Studies. Halb belustigt, halb überheblich blickte man über den Ozean und den Ärmelkanal. Die spinnen, die Angelsachsen. Die Republik Frankreich wachte übers Universelle, keiner brauchte jäh als Mitglied einer missachteten Community zu erwachen. Dachte man.

Mit Aufrufen zu Denkmalschleifungen in Nantes oder Bordeaux, dem Boykott als monokulturell verdächtigter Lehrveranstaltungen, dem Streit über die Realität eines "Islamo-Gauchismus" oder der mit Pünktchen und Sternchen sich verbreitenden Gendersprache hielt das Thema aber schließlich auch im französischen Akademikerparadies Einzug. Eine Großveranstaltung an der Sorbonne mit einem Aufgebot von fünfzig Rednern aus allen Disziplinen wollte im Januar 2022 zum Gegenangriff blasen. "Die Herausforderung der Universität durch die Ideologie" lautete der Untertitel des Kolloquiums. Die akademische Freiheit sollte gegen das moralische Diktat des Zeitgeists verteidigt werden. Noch vor der Eröffnung überschlugen sich die Wellen des Protests wie der Zustimmung. Neue Inquisition, Revanche der Rechtsextremen, Hexenjagd mit Samthandschuhen und so ähnlich lauteten die Anschuldigungen.

Entsprechend gespannt war die Stimmung am Tag der Eröffnung im Saal. Die akademische Courage gegen ideologischen Meinungsdruck zeigte dreifarbig Flagge. Einige ursprünglich vorgesehene Teilnehmer sollen aus Angst um ihren Ruf bei Kollegen und Studenten ihre Zusage zurückgezogen haben. Unter dem Titel "Après la déconstruction. L'université au défi des idéologies" liegen die Beiträge des Kolloquiums seit Frühjahr 2023 als Buch vor, herausgegeben von Emmanuelle Hénin, Xavier-Laurent Salvador und Pierre-Henri Tavoillot (Verlag Odile Jacob, Paris, 528 Seiten, 28,90 Euro).

Das im Buchtitel genannte Stichwort der "Dekonstruktion" bietet den Fluchtpunkt einer Polemik, die seither nicht mehr abflaut. Im Visier der Verteidiger einer ihrer Ansicht nach ideologisch bedrohten Lehr- und Forschungsfreiheit steht jenes Denkmodell, das der Philosoph Jacques Derrida mit dem von Paul de Man übernommenen Ausdruck des Dekonstruierens entwickelt hat. Durch eine kritisch stets auf die eigenen Denkvoraussetzungen gerichtete Betrachtung sollten damit alle Formen von "logo"-, "euro"- und "phallozentrischer" Hegemonie untergraben werden.

Die Antwort auf das Sorbonne-Kolloquium ließ nicht lange auf sich warten. Sie kam von einer Gegeninstitution: der geisteswissenschaftlichen Eliteschule École Normale Supérieure, an der Derrida selbst gelehrt hatte. "Wer hat Angst vor der Dekonstruktion?" hieß dort eine Tagung im Januar 2023, deren Akten nun ebenfalls publiziert wurden ("Qui a peur de la déconstruction?", herausgegeben von Isabelle Alfandary, Anne Emmanuelle Berger und Jacob Rogozinski, Presses Universitaires de France, Paris, 336 Seiten, 22 Euro). Die Debattenlage ist klar. Sechs Dutzend Forscher stehen einander in zwei Lagern gegenüber und stimmen in dem einen Punkt überein, dass die akademische Freiheit gefährdet sei. Durchs Postulat einer um sich greifenden politisch-ideologischen Korrektheit, finden die einen. Durch den Versuch einer autoritären Rückeroberung der traditionellen Definitionsgewalt, meinen die anderen.

Interessant und zugleich problematisch ist die Strategie, mit der die Sorbonne-Riege gegen den moralischen Anspruch der militant ethnischen, kulturellen, sexuellen oder sonstigen Minoritätenforschung ins Feld zog. Das Vorhaben, die Vielfalt dieser Tendenzen auf einen Nenner zu bringen, eben die "Dekonstruktion", wirkt wie ein Versuch, die in der gegenwärtigen Debatte herumschwimmenden Brocken von undifferenziert aktivistischem Antirassismus, Antikolonialismus, Antisexismus mit der Pipette einer ausgeklügelten Theorie zu sortieren. Die wenigsten Autoren von "Après la déconstruction" haben offensichtlich Derrida im Detail gelesen, verwenden das Titelwort eher als Deckbegriff für eine vage ideologische Strömung. Sie geraten damit in die Nähe von Rechtsextremisten wie dem Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2022, Éric Zemmour, der schon 2014 in seinem Buch "Le Suicide français" dazu aufrief, "die Dekonstrukteure zu dekonstruieren".

Weitmaschig extrapolierend unterscheiden die Herausgeber des Sorbonne-Bandes historisch drei Phasen der Dekonstruktion. Nach der Dekonstruktion der religiös fundierten Wahrheiten durch den methodischen Zweifel bei Descartes und die Kant'sche Kritik hätten Autoren wie Marx, Nietzsche und Freud das "Dekonstruieren" auch auf gesellschaftliche und psychische Bereiche ausgeweitet, und im Zug der Achtundsechziger-Bewegung habe es bei Derrida und Michel Foucault schließlich das gesamte Wissenspanorama erfasst. Als "French Theory" sei diese, alle Phänomene auf Herrschaftsausübung zurückführende Auffassung in den Vereinigten Staaten antirassistisch, antikapitalistisch, antispeziezistisch und öko-feministisch aufgeladen worden, um heute in Form der Woke-Bewegung nach Europa zurückzukehren. Was ursprünglich als ein kritisches Verfahren zur Emanzipation präsentiert worden sei, schließen die Autoren, sei als Dogma in eine Sackgasse geraten und sperre mit der Illusion der Vielfalt alle Individualitäten in eine kategorisch determinierte Identität ein: Schwarze in ihr Schwarzsein, Kolonialopfer in ihre Kolonialvergangenheit, Frauen in ihre strukturelle Benachteiligung, Queers in ihr programmatisches Anderssein. Angesichts solcher Einschränkungen des freien Forschens und Denkens gelte es, "den Geist der Kritik vor dem Dogma der kritischen Studien zu retten".

Diese lose um den Dekonstruktionsbegriff gelegte Kampffront machte es dem Lager der Derrida-Nachkommen leicht, mit präzisen Textzitaten nachzuweisen, wie vorsichtig der Philosoph selbst mit seinem Begriff umging und wie systematisch er vor Verallgemeinerungen warnte. Den Ausdruck Dekonstruktion habe Derrida stets nur mit impliziten Anführungszeichen verwendet, und die Verabschiedung aus der abendländischen Metaphysik und "Logozentrik" habe wenig mit dem kulturellen Allerlei zu tun, für das er im Alltagsgespräch heute verantwortlich gemacht werde, schreibt Denis Kambouchner in "Qui a peur de la déconstruction?". Die Rationalität, welche die "Schrift" beherrsche, präzisierte Derrida 1967 in seiner "Grammatologie", beginne mit der "Destruktion, nicht der Demolition, sondern der De-Sedimentation, der De-Konstruktion aller Bedeutungen, die aus jener des 'logos' hervorgehen".

Ginette Michaud entkräftet im selben Band prägnant auch die häufig wiederkehrende Metapher vom Virus, mit welcher die Dekonstruktion gern belegt wird. Frankreich habe mit der "French Theory" gewissermaßen sich selbst das Virus eingepflanzt, hatte Bildungsminister Jean-Michel Blanquer in seiner Eröffnungsrede des Sorbonne-Kolloquiums erklärt: Nun gelte es, den geeigneten Impfstoff dagegen zu finden. Auch der kürzlich verstorbene Intellektuelle Jacques Julliard hatte bei jenem Kolloquium die Krankheitsmetapher bemüht. Wenn der Marxismus und Maoismus mit ihrem binären Denken die Kinderkrankheit des Sozialismus gewesen seien, sagte er, dann sei der Antirassismus, Antispeziezismus und Antisexismus heute die Alterskrankheit der individualistischen Bürgerlichkeit.

Michauds Antwort darauf ist, dass diese Kritiker gar nicht wüssten, wie richtig und zugleich grundverkehrt sie mit ihren Metaphern lägen. Derrida selbst nämlich habe sein ganzes philosophisches Denken mit einem Virus verglichen, das heißt mit einem Parasiten, der vorhandene Kodierungs- und Dekodierungssysteme zu stören vermöge, der als weder lebendiges, noch totes Ding jedoch nicht zerstört werden könne, sondern wohl eines Tages ganz von selbst verschwinde. Ganz unnötig also, nach einem Impfstoff gegen die Dekonstruktion zu suchen. Bei ihr ist der Wiederaufbau im Abbau stets schon im Gang. Und umgekehrt. Dem Kampf gegen die dogmatische Verhärtung der Postcolonial-, Cultural- und Subaltern-Studies ist mit konkreten Begriffen besser geholfen als mit Spekulationen im theoretischen Impflabor der Philosophie. JOSEPH HANIMANN

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