Produktdetails
- Edition Deutsch
- Verlag: Klett
- Artikelnr. des Verlages: 675242
- Nachdr.
- Seitenzahl: 151
- Deutsch
- Abmessung: 280mm
- Gewicht: 480g
- ISBN-13: 9783126752428
- ISBN-10: 312675242X
- Artikelnr.: 03538035
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Jorge Semprúns Essays über Deutschland und die Deutschen
Drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer sagte der spanische Schriftsteller Jorge Semprún bei den Römerberggesprächen in Frankfurt: "Die Wiedervereinigung Deutschlands muß Ergebnis eines entscheidenden Fortschritts der Demokratie in Europa sein. In allen Europas - dem westlichen, dem südlichen, dem östlichen. Vor allem in Mitteleuropa." Viel eher als Entspannung und Abrüstung könne die Demokratisierung die Wiedervereinigung zum Ergebnis haben. Die Geschichte gab Semprúns gewagter Vorhersage recht.
Aber nicht nur deswegen lohnt es sich, die Rede Semprúns von 1986 zu lesen. Bis dahin hatte der Schriftsteller und Politiker noch nicht öffentlich in Deutschland gesprochen. Im Oktober 1983, als sein Roman "Was für ein schöner Sonntag" auf deutsch erschien, war er zum ersten Mal überhaupt in die Bundesrepublik Deutschland eingeladen worden. Die Deutschen hatten lange Zeit kaum Notiz genommen von diesem Mann, der, obwohl von der Gestapo nach Buchenwald deportiert, nie Aversionen gegenüber Deutschland und den Deutschen gezeigt hatte, sich vielmehr als einer der wichtigen Fürsprecher und Vermittler deutscher Literatur und Philosophie sowohl in Frankreich wie in Spanien hervorgetan hatte. Später wurde Semprún dann häufig als Redner nach Deutschland eingeladen, so 1991 als Laudator zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an György Konrád und fünf Jahre später in der gleichen Funktion bei der Preisverleihung an Mario Vargas Llosa. Semprún selbst hatte den Friedenspreis 1994 in der Paulskirche überreicht bekommen.
Vor einem Jahr hielt Jorge Semprún vor dem Bundestag die Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Zwischen dem Römerbergvortrag und der Rede im Bundestag stehen andere Ansprachen, in denen es um Deutschland und die Deutschen geht - um Buchenwald und die Kristallnacht ebenso wie um Kant oder Husserl. Michi Strausfeld hat die Vorträge gesammelt und die meisten davon - einige davon waren bereits in dieser Zeitung erstmals auf deutsch erschienen - in ein klares und trotz der manchmal komplexen Thematik leicht eingängiges Deutsch übersetzt.
In den über zweihundert Seiten Redetext ist kein einziger überflüssiger Satz zu finden. Semprún setzt sich scharfsinnig und mit großer Präzision mit den totalitären Ideologien, wie dem Faschismus und dem Stalinismus, auseinander; er zeigt aber auch die Irrtümer und Fehlentwicklungen innerhalb der Sozialdemokratie und des liberalen Kapitalismus auf. Bei seiner Ideologiekritik kommt Semprún seine genaue Kenntnis der deutschen Philosophie zugute, auf die sich ja fast alle modernen politischen Ideologien berufen. Semprún bewundert den analytischen Teil im Werk von Karl Marx; die Grundrisse der "Kritik der Politischen Ökonomie" nennt er ein erstaunliches, bemerkenswertes, in einigen Aspekten sogar geniales Werk. An die Prophetien von Marx hat Semprún nie geglaubt, nicht einmal, als er Mitglied der Kommunistischen Partei war. Wenige Autoren haben so überzeugend die Pervertierung der Marxschen Theorien vom Scheitern des Leninismus hinweg bis zum stalinistischen Gewaltregime dargestellt.
Jorge Semprún hat eine Zeitlang kommunistischen Organisationen angehört und ihre Arbeit aktiv, wenn auch zunehmend kritischer begleitet. Wie Marx hatte er in seinen jungen Jahren den demokratischen Weg zum Kommunismus für möglich gehalten. Es gibt wahrscheinlich wenige Autoren, die sich so intensiv wie Semprún theoretisch mit den großen politischen Bewegungen unserer Zeit beschäftigt und gleichzeitig für deren Ziele in höchst gefährlichen Situationen gekämpft haben. Mehrere Jahre war er der Verantwortliche einer Widerstandsorganisation gegen die Rechtsdiktatur des Generals Franco im spanischen Untergrund. Er hat diese gefährliche Mission überlebt; sein Nachfolger Julián Grimau hatte weniger Glück. Er wurde nach einigen Wochen in Madrid verhaftet, von der politischen Polizei Francos gefoltert, in einem Schauprozeß von einem Militärgericht zu Tode verurteilt und hingerichtet. In der französischen Résistance gegen die Deutschen und dann im KZ Buchenwald hatte Semprún sein Leben im Kampf gegen eine andere faschistische Diktatur riskiert.
Später hat er sich dann in vielen Publikationen kritisch mit den kommunistischen Diktaturen, ihren Verirrungen und Verstößen gegen Freiheit und Menschenwürde auseinandergesetzt. Semprún hat sich oft selbst gefragt, ob er nun eigentlich ein Mann der Tat oder ein die Tat analysierender Intellektueller sei. Fasziniert ihn die Aktion an sich - ist sie so vielleicht doch vorwiegend ein Abenteuer -, oder benutzt er die Aktion, ja das eigene Leben, um sich selbst politische Theorien zu beweisen oder zu widerlegen?
Jorge Semprún hat seine Bücher auf französisch, seiner Schul- und Studiensprache, und auf spanisch geschrieben. Mit Blick auf Deutschland liegt nun ein Buch von ihm ausschließlich in deutscher Sprache vor; die Redetexte wurden zwar übersetzt, doch auf deutsch von dem Autor vorgetragen. Semprún hat eine bis in die frühe Kindheit reichende Beziehung zur deutschen Sprache, zu den Dichtern und Philosophen Deutschlands. "Der kehligen primitiven Sprache der SS-Leute in Buchenwald, die sich auf wenige unflätige Beschimpfungen und Drohungen beschränkte", schreibt er, "setzte ich innerlich in meinem Gedächtnis augenblicklich die Musik der deutschen Sprache entgegen, ihre komplexe, schillernde Genauigkeit." Dem Suhrkamp Verlag ist zu danken, daß er diesen, an die Deutschen gerichteten Band eines großen ausländischen Autors herausgebracht hat. Vielleicht lernt der Verlag ja irgendwann noch einmal, Semprúns Namen richtig - nämlich mit einem Betonungsakzent auf der letzten Silbe - zu schreiben. Daß die Franzosen grundsätzlich oder aus Bequemlichkeit keinen Akzent auf ausländische Namen setzen, so auch nicht auf den Semprúns, sollte für einen großen deutschen Verlag kein Beispiel sein.
WALTER HAUBRICH
Jorge Semprún: "Blick auf Deutschland". Aus dem Spanischen und Französischen übersetzt von Michi Strausfeld u. a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 227 S., br., 10,- [Euro].
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