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Produktdetails
  • Verlag: Taschen
  • ISBN-13: 9783822864173
  • Artikelnr.: 26679599
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2014

Als der Tiki-Pop über Amerika kam
Hula Girls, Hausbars aus Bambus und andere Südseeträume - Sven Kirsten ist der Archäologe einer untergegangenen Alltagskultur

Beim Begriff "untergegangene Kulturen" denken die meisten wohl an überwucherte Maya-Tempel im mittelamerikanischen Dschungel. Tatsächlich aber ist die Wahrscheinlichkeit, in nordamerikanischen Städten wie Los Angeles, San Francisco oder Columbus, Ohio, versunkene Tempel zu finden, wesentlich höher. Mitte des letzten Jahrhunderts nämlich wurden die Vereinigten Staaten erfasst von einer Exotikwelle. Von Alabama bis Alaska wurden Bars, Restaurants, Themenparks und Hotelanlagen im Südsee-Stil erbaut, ein Gebäude prächtiger als das andere, mit gigantischen Götterfiguren, rauschenden Wasserfällen, feuerspuckenden Vulkanen und verführerisch bekleidetem Personal. Hier feierten prüde Amerikaner rauschende Partys und holten sich Anregungen für die Verschönerung ihrer eigenen vier Wände und Gärten. Hausbars aus Bambus und dunkle, geschnitzte Möbel von Witco waren en vogue, am bekanntesten dürfte das Ensemble in Elvis' Jungle Room in Graceland sein. Marlon Brando ging noch einen Schritt weiter, heiratete eine Tahiti-Schönheit und kaufte sich eine eigene Südseeinsel. Doch dann kamen die 68er, in Vietnam brannte der Dschungel, die künstlichen Paradiese waren out, unpassend, peinlich. Die Vergnügungstempel verfielen, wurden von Palmen überwuchert und gerieten in Vergessenheit.

Hier kommt Sven Kirsten ins Spiel, eigentlich ist er Kameramann, international bekannt wurde er jedoch durch seine Leidenschaft für Tiki, wie die untergegangene Eventkultur inzwischen kurz und prägnant heißt. Sein Forschungsgebiet nennt er "urbane Archäologie", seine Studien betreibt er seit rund dreißig Jahren mit einer Ausdauer und Genauigkeit, die ihn zu einem Experten ganz eigener Art machten.

Die Tiki-Pop-Ausstellung im renommierten Musée du Quai Branly in Paris war die Krönung seiner Recherchen. Dabei hätte er sich vor fünf Jahren kaum träumen lassen, dass er hier mal als Kurator aktiv sein würde. Er war zu Dreharbeiten in der Stadt, ging ins Museum und anschließend in die hauseigene Bibliothek und staunte nicht schlecht, als er sein "Book of Tiki" an prominenter Stelle aufgestellt fand, direkt neben Klassikern der Ethnographie. Ein paar Wochen später erzählte er seinem Verleger, Benedikt Taschen, am Telefon davon, und Taschen sagte: "Ach ja, ich hatte ganz vergessen dir zu sagen: die würden gerne eine Ausstellung mit dir machen!"

Parallel zur üppig ausgestatteten Ausstellung erschien "Tiki Pop", Kirstens drittes Buch, noch umfangreicher als die vorangegangenen "The Book of Tiki" und "Tiki Modern" (allesamt bei Taschen). Wer dachte, in den beiden ersten Wälzern stehe alles über Tiki, wird eines Besseren belehrt. Kirsten reist diesmal wesentlich weiter zurück in die Vergangenheit und zeigt, dass das vermeintlich rein amerikanische Phänomen viel mehr ist als nur eine verkitschte Spielart der Südseebegeisterung, als die es lange abgetan wurde.

Sein Honorar hat Kirsten nach eigenen Aussagen "bei eBay verprasst". Sein Haus in Los Angeles war zwar bereits bis unter die Decke mit Tiki-Devotionalien vollgestopft, so dass er sich mit Ankäufen zurückhielt. Doch die Ausstellung in Paris war eine wunderbare Ausrede, Lücken jedweder Art zu schließen. Kein Wunder, dass zwei Drittel der in Paris ausgestellten Exponate direkt aus Sven Kirstens Privatsammlung stammten. Wobei es teilweise einfacher und sogar billiger war, Originale zu kaufen, als sie von anderen Sammlern auszuleihen. Richtig schwierig war es zum Beispiel, einen Tiki-Fernseher aufzutreiben, und als bei einer Haushaltsauflösung endlich einer zum Verkauf stand, kam ihm jemand zuvor. Doch Sven Kirsten spürte den Käufer auf und überredete ihn, sich von seiner Neuerwerbung wieder zu trennen. Die Verbindung zu Hollywood musste sein, denn erstens leben beide Sphären von der Inszenierung, zweitens waren die ersten Tiki-Bars beliebte Treffpunkte von Hollywood-Stars und schürten damit den Hype, drittens spielten im Tiki-Universum Filme wie "Hurricane" und "Meuterei auf der Bounty" oder Serien wie "Hawaiian Eye" eine Schlüsselrolle.

Dennoch wäre die Ausstellung in den Vereinigten Staaten undenkbar gewesen. Die Hauptkuratorin des Fowler Museums der UCLA, das mit dem Musée du Quai Branly kooperierte, besuchte Sven Kirsten in seinem Tiki-Haus in L. A.: "Sie war total entsetzt." Warum? Die Ethnologen in Amerika, meint Kirsten, würden mit einem Gefühl der Schuld gegenüber indigenen Völkern ausgebildet und lehnten daher alles ab, was auch nur im Entferntesten politisch unkorrekt sein könnte. Tiki mit seiner Lust an der Imitation, Überzeichnung und dem mitunter deftigen Humor überstieg die Kapazitäten der Kuratorin. Ähnliche Bedenken gab es seitens des Peabody Museum in Harvard. Im nationalen französischen Museum für außereuropäische Kunst in Paris hatte man dagegen keine Berührungsängste. Hier traute man sich, die Originale der Südseekunst neben ihren amerikanischen Abkömmlingen zu zeigen. Mit ein paar tausend Kilometern Abstand konnten dort erstmals der Maori Tiki aus dem De Young Museum in San Francisco und die nach seinem Vorbild gestalteten Speisekarten und Cocktailbecher der Tiki-Tempel "Kona Kai" und "Trader Vic's" zueinanderfinden.

Die schwarzen Vitrinen, in denen die Objekte präsentiert wurden, waren Kirsten besonders wichtig, da jedes Exponat auf diese Weise die Aura eines Museumsobjekts umgab. Und Tiki ist für Sven Kirsten eine eigene Kunstform, welche der sogenannten Originalkunst in nichts nachsteht. Um das zu veranschaulichen, ging Kirsten zurück in die Prä-Tiki-Ära, zu den Entdeckungsfahrten von Bougainville und Cook, den Bestseller-Romanen von Melville und Loti und zu Gauguin, der während seiner Zeit auf Tahiti einen Gehstock im Südseestil schnitzte.

"Dieser Stock ist die erste Interpretation eines westlichen Künstlers von Tiki", sagt Kirsten und schließt die Frage daran an: "Warum ist das eine große, teure Kunst - und alles andere aus den fünfziger Jahren nur Kitsch?" Zur Erinnerung: Gauguin gab 1882 seine Karriere als Börsenmakler auf, ließ Frau und Kinder sitzen, zog durch die Welt und landete 1891 erstmals auf Tahiti, das seit 1880 französische Kolonie war. Tahiti entsprach schon damals nicht mehr dem Idyll, das er sich erträumt hatte, was ihn nicht davon abhielt, das untergegangene Paradies in seinen Bildern zu beschwören. Von seiner Kunst konnte Gauguin zu Lebzeiten kaum leben, teuer gehandelt wurden seine Werke erst nach seinem Tod. Auch bei Tiki stößt man auf diesen Zwiespalt zwischen spontaner Ablehnung und später Anerkennung, vermischt mit einer Sehnsucht nach paradiesischen Zuständen, die jedoch nicht einfach da sind, sondern erst über ästhetische Mittel konstruiert werden müssen.

Doch vor der Rekonstruktion kommt die Dekonstruktion. Das Tiki-Phänomen wird von Kirsten in seine Einzelteile zerlegt: das Hula-Girl, Palmen, Materialien wie Bambus, Rattan, Tapa-Rindenbaststoffe. Und dann, plötzlich, fanden sich zumindest die Ausstellungsbesucher in einer Tiki-Bar wieder, im "Mai Tai Room", der zwar klein, aber so detailreich und überzeugend ausfiel, dass er für zeitgenössische Tiki-Künstler wie Moritz Reichelt glatt als "beste Tiki-Bar der Welt" durchgehen konnte - eine Bar ohne Drinks allerdings, was angesichts der Niedrigstpreise auf der Tafel sehr schade war.

Wer bisher nie von Tiki gehört hat, der begreift aus Kirstens Büchern mit einem Schlag, worum es geht. Tiki ist eine ganzheitliche Erfahrung, ein raumgreifendes Erlebnis. All die Kugelfische, Grasmatten, Bambusstangen, Schnitzereien und Cocktailbecher ergeben einen Sinn: Entertainment. Am besten in Gesellschaft, garniert mit tropischen Drinks und der passenden Musik von Martin Denny und Arthur Lyman.

Gestaltet wurde die Bar in der Ausstellung im Übrigen von Cheeky Tiki, einem Bar-Ausstatter in London. Als die beiden Gründer, Jamie Wilson und Anjy Cameron, 2005 ihre erste Bar bauten, gab es keine Regeln, wie genau eine moderne Tiki-Bar auszusehen hat, und es war schwierig, die nötigen Materialien zu beschaffen. Sie ließen ihrer Phantasie freien Lauf, und das Ergebnis gefiel nicht nur den Auftraggebern, sondern auch dem Publikum. Als das Londoner "Mahiki" dann regelmäßig von Popstars und Mitgliedern des Königshauses besucht wurde, gab es kein Halten mehr. Jeder wollte eine Tiki-Bar eröffnen. Inzwischen importiert Cheeky Tiki Bambus und andere Materialien im großen Stil, stellt eigene Cocktailbecher her und hat von London bis Paris mehr als zwanzig Bars ausgestattet. Ein Auftrag führte sie unlängst sogar nach Indien. In der Erfolgsgeschichte von Cheeky Tiki wiederholt sich der Erfolg der Tiki-Pioniere Victor Bergeron alias Trader Vic und Don the Beachcomber, die in den dreißiger Jahren in Kalifornien Bars eröffneten, die zu Zentren des gesellschaftliche Lebens von Hollywood wurden.

Die Tiki-Ausstellung wird man in Deutschland wohl nicht erleben. Es gibt zwar durchaus Interesse an einer Übernahme aus dem Musée du Quai Branly, doch bislang sind die Pläne am Geld gescheitert. Dem Hamburger Völkerkundemuseum steht gerade mal ein Zehntel des Etats vom Branly zur Verfügung. Aber es besteht ja die Möglichkeit, im Tiki-Pop-Bildband zu schwelgen - oder einfach eine in der Nähe gelegene Tiki-Bar zu besuchen.

KATJA SCHMID.

Sven Kirsten: "Tiki Pop. America Imagines Its Own Polynesian Paradise". Taschen-Verlag, 384 Seiten, 39,99 Euro

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