Die Bedeutung von Menschenrechten für Debatten über »Überbevölkerung« und globale Reproduktionspolitik seit den 1940er Jahren.Ängste vor einer »Überbevölkerung« des Planeten gewannen in den vierziger Jahren rapide an Bedeutung und begleiten uns bis in die Gegenwart. Regierungen, NGOs, die Vereinten Nationen, die katholische Kirche, Völkerrechtler und Frauenorganisationen diskutierten in den vergangenen Jahrzehnten kontrovers darüber, ob das Bevölkerungswachstum zu Problemen führe, und wie darauf zu reagieren sei. Im Mittelpunkt dieser Debatte stand von Beginn an die Frage, ob individuelle Entscheidungen über die Familiengröße durch Staaten eingeschränkt werden dürfen, um mögliche negative Konsequenzen abzuwenden. Bedroht das Bevölkerungswachstum Menschenrechte und sind deshalb Programme, die auf Unfruchtbarmachungen zielen, legitim? Oder stellen solche zum Teil mit Zwang durchgesetzten Maßnahmen selbst eine Verletzung der Menschenrechte dar? Roman Birke analysiert diese internationalen Deutungskämpfe über die Auslegung von Menschenrechten und zeigt anhand der Fallbeispiele Indien, Irland, USA und Jugoslawien, welche Bedeutung sie für die Politik von Nationalstaaten haben.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Monika Remé liest mit Interesse Roman Birkes historische Darstellung zur "Geburtenkontrollbewegung", ihren Kämpfen, Erfolgen und Niederlagen. Nicht nur bietet der Autor spannende Anekdoten zur Lobbyarbeit und besonders zum Wirken John Rockefellers III. in der Sache, er verzichtet laut Remé auch auf wohlfeile Schlüsse. Dass der Historiker auf rassistische Argumente in der Diskussion um Geburtenkontrolle kaum eingeht, empfindet die Rezensentin als Mangel, wie ihr auch manch andere Seite des Problems im Buch allzu unterkomplex beleuchtet wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2020Hinter den Kulissen der Vereinten Nationen
Historische Analyse der jahrzehntelangen Bemühungen um Geburtenkontrolle
Die Thematik war heikel, die eigene Vergangenheit düster und der Diskurs geradezu hysterisch. Angesichts steigender Bevölkerungszahlen in Asien, Afrika und Lateinamerika malten sich in der Nachkriegszeit westliche Wissenschaftler und Aktivisten unterschiedlicher Disziplinen, darunter Demographen und Ökonomen, aber auch Eugeniker und Zoologen, Szenarien der Überbevölkerung aus.
In der "Geburtenkontrollbewegung" vermischten sich vermeintliche Sicherheitsbedenken mit humanitären Fragen, liberalen Idealen von Fortschritt und Entwicklung, aber auch sexualreformerischen Ideen. Dabei waren sich die Verfechter im Klaren darüber, dass bevölkerungspolitische Interventionen des Westens in ihren Zielländern auf Widerstand stoßen würden. Dass die Vereinten Nationen 1968 das Menschenrecht auf Familienplanung etablierten, kann deshalb als PR-Coup der Bewegung bezeichnet werden. In dem vorliegenden Buch führt der Historiker Roman Birke allerdings aus, dass dieser Erfolg für die Verfechter einer Geburtenreduktion nur ein kurzfristiger Etappensieg war. Er zeichnet nach, wie die Bedeutung des Rechts und seine Implementierung umkämpft blieben.
Um die Idee der Geburtenkontrolle sowohl gegen antiimperialistische und postkoloniale Ressentiments als auch gegen religiöse und kulturelle Bedenken durchzusetzen, stand am Anfang die Suche nach geeigneten Kommunikationsstrategien und Akteuren. Hier kommt dem 1952 auf Initiative der Rockefeller Foundation in den Vereinigten Staaten gegründeten Population Council eine besondere Rolle zu. Birke zeichnet nach, wie die Organisation geschickt John D. Rockefeller III. und dessen internationales Netzwerk nutzte. So erreichte sie, dass 1966 nicht nur zwölf Staaten die sogenannte "Declaration on Population" des Council unterzeichneten, sondern auch UN-Generalsekretär U Thant, der mit Rockefeller freundschaftlich verbunden war, diese am Internationalen Tag der Menschenrechte öffentlich unterstützte. Das Menschenrecht auf Familienplanung war eine der Forderungen dieser Erklärung. Nur zwei Jahre später folgten die UN-Mitgliedstaaten auf der Weltmenschenrechtskonferenz.
Damit gab es eine völlig neue Legitimationsgrundlage und mit dem 1967 gegründeten UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) einen Akteur, um Familienplanung international umzusetzen. Gleichzeitig blieb unklar und heftig umstritten, welche Implikationen dieses Recht für Paare, Individuen und Staaten haben würde. So deutete die Frauenbewegung das Recht auf Familienplanung in den 1970er Jahren als Voraussetzung für weibliche Selbstbestimmung. In der Auslegung des Population Council und anderer wurden dagegen die Rechte des Kollektivs, das vermeintlich stark bedroht war, höher gewertet als der Schutz der einzelnen Person. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass Indira Gandhi und der chinesische Gesundheitspolitiker, der hinter der Ein-Kind-Politik stand, 1983 gemeinsam den Population Award der Vereinten Nationen erhielten. Beide verantworteten massenhafte Zwangssterilisationen.
Im Laufe der 1980er Jahre entstand eine ernstzunehmende Gegenbewegung zu Praktiken der Familienplanung, die nur die Geburtenreduktion zum Ziel hatten und dabei Gesundheitsversorgung und Selbstbestimmung der Frauen vernachlässigten oder übergingen. Seit der Weltbevölkerungskonferenz 1994 wird das Menschenrecht auf Familienplanung deshalb als individuelles Recht gedeutet und um reproduktive Rechte ergänzt. Diese sollen Frauen vor staatlichen Eingriffen schützen und bilden die Grundlage für heutige familienplanerische Programme. Die Konferenz wird gemeinhin als Bruch in Diskurs und Praxis der Familienplanung verstanden, der durch feministische Forderungen hervorgerufen wurde. Birke gibt dagegen zu bedenken, dass Verfechter der Geburtenreduktion etwa gleichzeitig erkannt hatten, dass Frauenförderung der Schlüssel zur Senkung der Geburtenrate ist. Auch ihnen kommt der neue Menschenrechtsdiskurs gelegen.
Roman Birkes historische Analyse gibt spannende Einblicke in Lobby- und Entscheidungsprozesse der UN. Anekdoten rund um John D. Rockefeller III. sind besonders interessant. Nicht um verschwörungstheoretisch einen Kapitalisten auszumachen, der im Hintergrund die Fäden zieht, sondern um auch in der Gegenwart Legitimitätsfragen an UN-Programme zu stellen. Denn wenn das Menschenrecht auf Familienplanung "Rockefellers Baby" war, haben Bill und Melinda Gates mit den stets unterfinanzierten UN-Organisationen längst einen eigenen Kindergarten an Initiativen gegründet.
An vielen Stellen der Einführung in die komplexen, teils widersprüchlichen Deutungen des Menschenrechts auf Familienplanung versteht der Autor es, einfachen Schlussfolgerungen vorzubeugen. Er fordert eine ehrliche Diskussion über Bevölkerungspolitik, um diese unter demokratische Kontrolle zu stellen.
Anderswo hätte mehr Raum für Komplexität gutgetan. Dafür, dass die Untersuchung zentral auf der These aufbaut, die Bevölkerungspolitik sei nach dem Zweitem Weltkrieg mit dem Liberalismus fusioniert und habe dadurch eine "fundamentale Veränderung" erfahren, bleibt die Untermauerung dünn. Im Gegenteil legt er dar, dass Vertreter der Eugenik bei den beiden zentralen Akteuren der Bewegung, dem Population Council und der International Planned Parenthood Federation, anfangs stark vertreten waren. Wohl um sich innerhalb der deutschen Forschung abzugrenzen, kommen Verweise auf eugenische und rassistische Argumentationsmuster sehr kurz. Während historische problematische Aussagen über Frauen klar eingeordnet und bewertet werden, bleiben Aussagen mit eugenischem Inhalt zum Teil schmerzhaft ungerahmt. Auch die malthusianische Denktradition, die dem Bedrohungsszenario zugrunde liegt, wird wenig problematisiert.
Beide Stränge sind aber wichtig, um den Fokus auf Überbevölkerung zu erklären. Macht Birke doch selbst deutlich, dass das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern zwischen 1900 und 1950 gleichauf mit oder wenig über dem Europas und Nordamerikas lag. Wenn 2020 über Bevölkerungsfragen global nachgedacht werden soll, fallen Lücken aus postkolonialer Perspektive besonders deutlich auf. Schließlich ist es im Rahmen des aktuellen Diskurses über die Klimakatastrophe genauso einfach wie verfehlt an dystopische Bilder oder "Lösungsmöglichkeiten" des Überbevölkerungsdiskurses anzuknüpfen.
MONIKA REMÉ
Roman Birke: Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 319 S., 32,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Historische Analyse der jahrzehntelangen Bemühungen um Geburtenkontrolle
Die Thematik war heikel, die eigene Vergangenheit düster und der Diskurs geradezu hysterisch. Angesichts steigender Bevölkerungszahlen in Asien, Afrika und Lateinamerika malten sich in der Nachkriegszeit westliche Wissenschaftler und Aktivisten unterschiedlicher Disziplinen, darunter Demographen und Ökonomen, aber auch Eugeniker und Zoologen, Szenarien der Überbevölkerung aus.
In der "Geburtenkontrollbewegung" vermischten sich vermeintliche Sicherheitsbedenken mit humanitären Fragen, liberalen Idealen von Fortschritt und Entwicklung, aber auch sexualreformerischen Ideen. Dabei waren sich die Verfechter im Klaren darüber, dass bevölkerungspolitische Interventionen des Westens in ihren Zielländern auf Widerstand stoßen würden. Dass die Vereinten Nationen 1968 das Menschenrecht auf Familienplanung etablierten, kann deshalb als PR-Coup der Bewegung bezeichnet werden. In dem vorliegenden Buch führt der Historiker Roman Birke allerdings aus, dass dieser Erfolg für die Verfechter einer Geburtenreduktion nur ein kurzfristiger Etappensieg war. Er zeichnet nach, wie die Bedeutung des Rechts und seine Implementierung umkämpft blieben.
Um die Idee der Geburtenkontrolle sowohl gegen antiimperialistische und postkoloniale Ressentiments als auch gegen religiöse und kulturelle Bedenken durchzusetzen, stand am Anfang die Suche nach geeigneten Kommunikationsstrategien und Akteuren. Hier kommt dem 1952 auf Initiative der Rockefeller Foundation in den Vereinigten Staaten gegründeten Population Council eine besondere Rolle zu. Birke zeichnet nach, wie die Organisation geschickt John D. Rockefeller III. und dessen internationales Netzwerk nutzte. So erreichte sie, dass 1966 nicht nur zwölf Staaten die sogenannte "Declaration on Population" des Council unterzeichneten, sondern auch UN-Generalsekretär U Thant, der mit Rockefeller freundschaftlich verbunden war, diese am Internationalen Tag der Menschenrechte öffentlich unterstützte. Das Menschenrecht auf Familienplanung war eine der Forderungen dieser Erklärung. Nur zwei Jahre später folgten die UN-Mitgliedstaaten auf der Weltmenschenrechtskonferenz.
Damit gab es eine völlig neue Legitimationsgrundlage und mit dem 1967 gegründeten UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) einen Akteur, um Familienplanung international umzusetzen. Gleichzeitig blieb unklar und heftig umstritten, welche Implikationen dieses Recht für Paare, Individuen und Staaten haben würde. So deutete die Frauenbewegung das Recht auf Familienplanung in den 1970er Jahren als Voraussetzung für weibliche Selbstbestimmung. In der Auslegung des Population Council und anderer wurden dagegen die Rechte des Kollektivs, das vermeintlich stark bedroht war, höher gewertet als der Schutz der einzelnen Person. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass Indira Gandhi und der chinesische Gesundheitspolitiker, der hinter der Ein-Kind-Politik stand, 1983 gemeinsam den Population Award der Vereinten Nationen erhielten. Beide verantworteten massenhafte Zwangssterilisationen.
Im Laufe der 1980er Jahre entstand eine ernstzunehmende Gegenbewegung zu Praktiken der Familienplanung, die nur die Geburtenreduktion zum Ziel hatten und dabei Gesundheitsversorgung und Selbstbestimmung der Frauen vernachlässigten oder übergingen. Seit der Weltbevölkerungskonferenz 1994 wird das Menschenrecht auf Familienplanung deshalb als individuelles Recht gedeutet und um reproduktive Rechte ergänzt. Diese sollen Frauen vor staatlichen Eingriffen schützen und bilden die Grundlage für heutige familienplanerische Programme. Die Konferenz wird gemeinhin als Bruch in Diskurs und Praxis der Familienplanung verstanden, der durch feministische Forderungen hervorgerufen wurde. Birke gibt dagegen zu bedenken, dass Verfechter der Geburtenreduktion etwa gleichzeitig erkannt hatten, dass Frauenförderung der Schlüssel zur Senkung der Geburtenrate ist. Auch ihnen kommt der neue Menschenrechtsdiskurs gelegen.
Roman Birkes historische Analyse gibt spannende Einblicke in Lobby- und Entscheidungsprozesse der UN. Anekdoten rund um John D. Rockefeller III. sind besonders interessant. Nicht um verschwörungstheoretisch einen Kapitalisten auszumachen, der im Hintergrund die Fäden zieht, sondern um auch in der Gegenwart Legitimitätsfragen an UN-Programme zu stellen. Denn wenn das Menschenrecht auf Familienplanung "Rockefellers Baby" war, haben Bill und Melinda Gates mit den stets unterfinanzierten UN-Organisationen längst einen eigenen Kindergarten an Initiativen gegründet.
An vielen Stellen der Einführung in die komplexen, teils widersprüchlichen Deutungen des Menschenrechts auf Familienplanung versteht der Autor es, einfachen Schlussfolgerungen vorzubeugen. Er fordert eine ehrliche Diskussion über Bevölkerungspolitik, um diese unter demokratische Kontrolle zu stellen.
Anderswo hätte mehr Raum für Komplexität gutgetan. Dafür, dass die Untersuchung zentral auf der These aufbaut, die Bevölkerungspolitik sei nach dem Zweitem Weltkrieg mit dem Liberalismus fusioniert und habe dadurch eine "fundamentale Veränderung" erfahren, bleibt die Untermauerung dünn. Im Gegenteil legt er dar, dass Vertreter der Eugenik bei den beiden zentralen Akteuren der Bewegung, dem Population Council und der International Planned Parenthood Federation, anfangs stark vertreten waren. Wohl um sich innerhalb der deutschen Forschung abzugrenzen, kommen Verweise auf eugenische und rassistische Argumentationsmuster sehr kurz. Während historische problematische Aussagen über Frauen klar eingeordnet und bewertet werden, bleiben Aussagen mit eugenischem Inhalt zum Teil schmerzhaft ungerahmt. Auch die malthusianische Denktradition, die dem Bedrohungsszenario zugrunde liegt, wird wenig problematisiert.
Beide Stränge sind aber wichtig, um den Fokus auf Überbevölkerung zu erklären. Macht Birke doch selbst deutlich, dass das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern zwischen 1900 und 1950 gleichauf mit oder wenig über dem Europas und Nordamerikas lag. Wenn 2020 über Bevölkerungsfragen global nachgedacht werden soll, fallen Lücken aus postkolonialer Perspektive besonders deutlich auf. Schließlich ist es im Rahmen des aktuellen Diskurses über die Klimakatastrophe genauso einfach wie verfehlt an dystopische Bilder oder "Lösungsmöglichkeiten" des Überbevölkerungsdiskurses anzuknüpfen.
MONIKA REMÉ
Roman Birke: Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 319 S., 32,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»wie aus einem reinen Diskurs zu Überbevölkerung eine rechtebasierte Politik wurde, diesen langen Weg zeichnet Roman Birke in seinem Buch akribisch nach« (Friederike Bauer, Süddeutsche Zeitung, 17.08.2020) »Wer sich einlässt, versteht umso besser, warum Geburtenkontrolle ein geradezu absurd komplexes Problem ist - erst recht mit Blick auf die gesamte Menschheit.« (Arno Orzessek, Deutschlandfunk Kultur, 22.06.2020) »Roman Birkes historische Analyse gibt spannende Einblicke in Lobby- und Entscheidungsprozesse der UN.« (Monika Remé, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.2020) »Birke legt eine wichtige Studie vor und ergänzt die boomende Forschung zum Komplex der Menschenrechte der letzten Jahrzehnte um einen zentralen Aspekt« (Isabel Heinemann, H-Soz-Kult, 20.09.2021) »höchst aktuell« (Marina Hilber, sehepunkte, 15.10.2021)