Produktdetails
  • Verlag: Berlin : Reimer
  • ISBN-13: 9783496014027
  • ISBN-10: 3496014024
  • Artikelnr.: 25662206
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2009

Im Kirschkern soll die Welt sich spiegeln
Gabriele Beßler blickt auf die Wunderkammern zurück und empfiehlt deren Verfahren für die Gegenwart

Herzog Albrecht V. hatte eine, Kaiser Karl Rudolf II. ebenso und auch August der Starke: In ihren überbordenden Wunderkammern horteten die hohen Herren, wenig später auch solvente Bürger zum Beweis von Status und Bildung allerlei Rares, Kostbares und Kurioses - Silber- und Goldschmiedearbeiten mit Korallen, Perlen und Bergkristallen, dazu Elfenbeinschnitzereien, Haifischzähne, Nautiluspokale und Straußeneier. Gern auch Fossilien, Exotica und Orientalia, Bücher über Alchimie, wissenschaftliche Instrumente, Spielautomaten, Astrolabien und gelegentlich beschnitzte Kirschkerne oder andere Miniaturen.

Im Bemühen, die göttliche Ordnung der Welt möglichst anschaulich und komplett im Kleinformat zu zeigen, unterschieden die emsigen Sammler nicht zwischen Naturalien und Artefakten, Herkunft und Bestimmung, solange die Objekte beim Betrachten nur sattsam in Staunen oder Schauder versetzten. Ihre bunte Mixtur aus Kunst, Handwerk und Natur, Folklore und Technik gilt wissenschaftsgeschichtlich als bedeutsamer Vorläufer heutiger Museen.

Wie sich das vornehmlich enzyklopädische Verständnis der Welt in den Wunderkammern, Schausammlungen und Kuriositätenkabinetten der Spätrenaissance und des Barocks bis zur Kunst der Gegenwart darstellte und in Modellen formierte, untersucht Gabriele Beßler in einem weit ausholenden Buch mit vielen schönen Abbildungen. An der nebulösen Bedeutungsvielfalt von Wunderkammern interessiert die Kunsthistorikerin und Kuratorin vor allem die Frage, welche Rolle der Raum und die Erfindung des perspektivischen Sehens beim damaligen Versuch spielte, einzelne Gegenstände aus Kunst und Natur miteinander geordnet in Kabinetten, Schränken oder Kästen zu inszenieren.

Auf ihrer Spurensuche beschreibt Beßler minuziös und detailreich die disparaten Kollektionen historischer Wunderkammern als "Sammlungsräume bzw. Mikrokosmen, die vor allem auch das räumliche Sehen selbst thematisierten, in illusionistisch gemalten Räumen, durch dreidimensionale Modelle, mit beweglichen Spiegeln oder in Perspektivkästen". Erhalten oder rekonstruiert sind solche Anordnungen beispielsweise in Wunderkammern, Naturalienkabinetten oder "Studiolos" im oberitalienischen Urbino und Mantua sowie in Dresden und Halle, Stuttgart, Kassel, Landshut, Ulm und Braunschweig. Erstaunlich nahe kommen der alten Tradition nachempfundene Installationen und Environments des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, wie sie sich etwa Marcel Duchamp 1938 mit seiner berühmten "bôite-en-valise" und später Claes Oldenburg, Joseph Cornell, Joseph Beuys, Andrea Zittel oder Olafur Eliasson in der Kenntnis historischer Wunderkammern mehr oder weniger persiflierend einfallen ließen.

Als jüngstes künstlerisches Experiment solcher Art führt Beßler das von ihr selbst kuratierte Stuttgarter Galerie-Projekt "KunstRaum Wunderkammer" vor. Zwischen 2003 und 2007 entwarfen dort zeitgenössische Künstler auf dreizehn Quadratmetern verspiegelter Ladenfläche verschiedenste Mikrokosmen. Gemeinsam war diesen "Spiegelblicken" die Banalität der eingefangenen Realität. In Erinnerung unter den dreißig Einzelwerken bleibt Fabian Baurs witzige Bücherkapelle mit integriertem Monitor, ebenso die bizarre Menagerie von Präparatzylindern des Künstler-Duos Nils Tofahrn und Ralf Drolshagen unter dem kuscheligen Titel "Oh Heimat, liebe Heimat", aber auch das Gemeinschaftsopus von objets trouvés der zehn Neo-Dadaisten aus Daniel Spoerris Kölner Werkkunstschulklasse.

Die Stuttgarter Erfahrung zeigt, dass das alte Erfolgsrezept der Wunderkammern von Verblüffung und Staunen, das mit der Aufklärung außer Mode geriet, selbst in der reizüberfluteten Welt unserer Tage neue Seherfahrungen beschert. "Mag sein", so Beßler, "dass den zunehmend durch Internet und Virtualität reglementierten Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts der Sinn nach realen Bildern und haptisch greifbaren Dingen steht, die möglicherweise eher noch durch ihre machtvolle Unmittelbarkeit bestechen und erst in zweiter Linie in ihrer Merkwürdigkeit auffallen." Tatsächlich macht der künstlerische Ansatz bei historischen Wunderkammern inzwischen die Welt im Kabinett neuerlich als ästhetische Erfahrung interessant. Man versteht den Rat der Autorin an Museumsleute und Ausstellungskuratoren, vom Prinzip der alten Wunderkammern zu lernen.

ULLA FÖLSING.

Gabriele Beßler: "Wunderkammern". Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart. Reimer Verlag, Berlin 2009. 251 S., 55 Farb- u. 92 S/W-Abb., geb., 39,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Recht eingenommen zeigt sich Ulla Fölsing von Gabriele Beßlers Buch, das sie als eine "weit ausholende" Untersuchung von Wunderkammern, Schausammlungen und Kuriositätenkabinetten der Spätrenaissance und des Barocks würdigt, eine Untersuchung mithin, die den Bogen schlägt bis zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Interessant findet sie besonders die Frage der Kunsthistorikerin nach der Rolle des Raums und der Erfindung des perspektivischen Sehens bei der Inszenierung der Gegenstände aus Kunst und Natur. Sie bescheinigt der Autorin, verschiedene Sammlungen historischer Wunderkammern detailliert zu beschreiben und mit aktuellen künstlerischen Experimenten in Beziehung zu setzen, etwa mit dem von Beßler selbst kuratierten Stuttgarter Galerie-Projekt "KunstRaum Wunderkammer". Dieses macht für die Rezensentin deutlich, "dass alte Erfolgsrezept der Wunderkammern von Verblüffung und Staunen, das mit der Aufklärung außer Mode geriet, selbst in der reizüberfluteten Welt unserer Tage neue Seherfahrungen beschert."

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