Produktdetails
- Verlag: Turia & Kant
- Seitenzahl: 207
- Deutsch
- Abmessung: 240mm
- Gewicht: 442g
- ISBN-13: 9783851321944
- ISBN-10: 3851321944
- Artikelnr.: 25216518
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2000Ein Zombie geht durch die Stadt
Die Wissenschaft spielt nicht mehr mit Puppen, sondern deutet mit ihr das Körperbild
Puppen sind unsere Doppelgänger, sind uns vertraut und fremd zugleich. Nicht nur Kinder versuchen, sie durch magische Praktiken verschiedenster Art zu beleben. Sei es durch die Tätigkeit der Phantasie, sei es durch fetischistische Besetzung - der Puppenbalg wird zum unheimlichen Double, das entgegen allem Anschein des Lebendigen die Markierung unseres eigenen Todes trägt. In der Puppe materialisieren sich imaginäre Bilder, meist Bilder weiblicher Schönheit, nahe und entrückt zugleich. Oft als Ideal entworfen, das frei von den Mängeln der "echten" Frau ist, durchkreuzt die Puppe dennoch die Intentionen ihres Schöpfers. Statt ein Bild natürlicher, Ganzheit und Identität versprechender Vollkommenheit zu sein, bezeugt der Puppenkörper gerade das Gegenteil: Wie kunstvoll er auch hergestellt sein mag, er ist und bleibt ein Konstrukt.
Manchmal, wie zur Bestrafung des schönen Scheins, ist die glatte Oberfläche zerschnitten, die künstliche Haut beiseite geschoben und das Innere freigelegt. Diese Schnitte durch den Puppenkörper betrachtet Christina Lammer als Zeichen der gewaltsamen Eingriffe, die der Mensch am eigenen Körper vornimmt. Wissenschaftliche Neugierde habe, so die unausgesprochene Sorge der Soziologin, den Menschen mortifiziert, um ihn im Puppenkörper, als Objektivierung menschlichen Seins, auferstehen zu lassen. Erst das Sezieren menschlicher Leichen, im Abendland seit der Renaissance praktiziert, erbrachte die notwendigen Kenntnisse zur Herstellung anthropomorpher, ja täuschend ähnlicher Kunstwesen. Das neue Wissen diente, wie Lammer mit Foucault argumentiert, gleichermaßen der Selbstvergewisserung und der Kontrolle, der Disziplinierung des Körpers.
Die Zergliederung des menschlichen Körpers erfolgte bis weit in das zwanzigste Jahrhundert ausschließlich durch männlichen Blick und männliche Hand. Aufgeschnitten wurden Körper beiderlei Geschlechts. Meist waren es Leichen von Delinquenten, deren Strafe sich auf diese Weise in die Ewigkeit fortsetzte. In den für anatomische Studien angefertigten Bildern der geöffneten Körper jedoch sieht Lammer einen geschlechtsspezifischen Unterschied. Den "Muskelmännern", wie sie seit der frühen Neuzeit gezeichnet wurden, ist buchstäblich die Haut abgezogen. Sie erscheinen aber als Melancholiker oder auch als Schmerzensmann und vermitteln die Vorstellung von körperlicher Ganzheit und Identität. Ihr weibliches Gegenstück, die anatomische Wachspuppe, hingegen ist grausam fragmentiert. Gleich unter dem schönen Hals setzt der Schnitt an und reißt den Leib auf. Gerahmt von seidigem Haar und gerafftem Stoff ist der weibliche Körper zweifach enthüllt. Solche fetischisierten Bilder waren es auch, die die Künstler zur idealen Darstellung der weiblichen Figur anleiteten: Geburt der Venus aus dem toten, geöffneten und zergliederten Körper.
Dem gnadenlosen wissenschaftlichen Umgang mit dem Körper stellt Lammer die künstlerische Praxis entgegen. Die Fragmentierung eines geschlechtlich nicht eindeutig determinierten Körpers, die Barbara Graf in ihren Zeichnungen vornimmt, diene nicht einem versachlichten Voyeurismus, sondern dem Ausdruck von Körpergefühlen. Hier gelingt es Lammer fast, ihre eigene intelligente Verschränkung von lebendigem Körper und Puppe aufzubrechen mit der Vorstellung eines authentischen, durch machtvolle Eingriffe verstellten Körperbildes, mit der Gegenüberstellung von enteignender Wissenschaft und Identität stiftender Kunst. Doch zum Glück setzt sich ihr Interesse für die Herstellungsweisen ganz und gar nicht authentischer Körper im Wechselspiel von Mortifizierung und Verlebendigung durch. Lammers leidenschaftlich engagierte Studie endet mit der bangen Frage, ob wir unseren Körper nur noch durch Schnitte, wie Piercing oder Tattoos, als real erfahren können - also durch den Akt, der den Puppenkörper konstituiert.
Den Unterschied zwischen realen und Kunstkörpern, den Lammer aufrechterhalten möchte, sieht Katharina Sykora im fotografischen Bild verwischt. Auch sie fragt nach den Schnitt- und Nahtstellen, die die Puppe als Konstrukt ausweisen. Doch geht es ihr nicht um den im Namen der Wissenschaft zerlegten Körper, sondern um die im Zeichen der Kunst inszenierte Puppe. Sykora beschreibt die Paarung des Künstlers mit der Puppe im Medium der Fotografie als eine Begegnung auf Leben und Tod. Die Ersetzung des lebendigen Modells durch eine nach Wunsch geformte, unbegrenzt verfügbare Kunstfrau hat ihre Tücken. Im Verbund mit dem Medium, das sie wirkungsvoll ins Bild setzt, lehnt sich die Puppe gegen ihren Schöpfer auf. Beide, Puppe und Fotografie, betreiben ein täuschendes Spiel, das ins Herz der Kunst zielt und deren Gabe der Verlebendigung betrifft.
Sykora, die zusammen mit Pia Müller-Tamm die Ausstellung "Puppen Körper Automaten" für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen konzipiert hat (F.A.Z. vom 24. August 1999), verbindet in ihrer ausgreifenden Studie die Geschichte der Puppe mit einer Theorie der Fotografie. Zur Disposition steht die Figur des Künstlers. Mit ihr werden gängige Vorstellungen von Autorschaft, die per se als männliche gedacht wird, und weiblich besetzte Körperbilder irritiert. "Unheimliche Paarungen" ist ein Buch, wie es sie nur noch selten gibt. Spannend wie ein guter Krimi, verbindet es überraschende Thesen mit gründlicher Recherche. Jedes Argument ist präzise durchgeführt, jede These mit wissenschaftlicher Sorgfalt belegt.
BEATE SÖNTGEN
Christina Lammer: "Die Puppe". Eine Anatomie des Blicks. Turia und Kant, Wien 1999. 236 S/W-Abb. br., 42,- DM.
Katharina Sykora: "Unheimliche Paarungen". Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie. Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Band 14. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 1999. 252 S., S/W-Abb., br., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Wissenschaft spielt nicht mehr mit Puppen, sondern deutet mit ihr das Körperbild
Puppen sind unsere Doppelgänger, sind uns vertraut und fremd zugleich. Nicht nur Kinder versuchen, sie durch magische Praktiken verschiedenster Art zu beleben. Sei es durch die Tätigkeit der Phantasie, sei es durch fetischistische Besetzung - der Puppenbalg wird zum unheimlichen Double, das entgegen allem Anschein des Lebendigen die Markierung unseres eigenen Todes trägt. In der Puppe materialisieren sich imaginäre Bilder, meist Bilder weiblicher Schönheit, nahe und entrückt zugleich. Oft als Ideal entworfen, das frei von den Mängeln der "echten" Frau ist, durchkreuzt die Puppe dennoch die Intentionen ihres Schöpfers. Statt ein Bild natürlicher, Ganzheit und Identität versprechender Vollkommenheit zu sein, bezeugt der Puppenkörper gerade das Gegenteil: Wie kunstvoll er auch hergestellt sein mag, er ist und bleibt ein Konstrukt.
Manchmal, wie zur Bestrafung des schönen Scheins, ist die glatte Oberfläche zerschnitten, die künstliche Haut beiseite geschoben und das Innere freigelegt. Diese Schnitte durch den Puppenkörper betrachtet Christina Lammer als Zeichen der gewaltsamen Eingriffe, die der Mensch am eigenen Körper vornimmt. Wissenschaftliche Neugierde habe, so die unausgesprochene Sorge der Soziologin, den Menschen mortifiziert, um ihn im Puppenkörper, als Objektivierung menschlichen Seins, auferstehen zu lassen. Erst das Sezieren menschlicher Leichen, im Abendland seit der Renaissance praktiziert, erbrachte die notwendigen Kenntnisse zur Herstellung anthropomorpher, ja täuschend ähnlicher Kunstwesen. Das neue Wissen diente, wie Lammer mit Foucault argumentiert, gleichermaßen der Selbstvergewisserung und der Kontrolle, der Disziplinierung des Körpers.
Die Zergliederung des menschlichen Körpers erfolgte bis weit in das zwanzigste Jahrhundert ausschließlich durch männlichen Blick und männliche Hand. Aufgeschnitten wurden Körper beiderlei Geschlechts. Meist waren es Leichen von Delinquenten, deren Strafe sich auf diese Weise in die Ewigkeit fortsetzte. In den für anatomische Studien angefertigten Bildern der geöffneten Körper jedoch sieht Lammer einen geschlechtsspezifischen Unterschied. Den "Muskelmännern", wie sie seit der frühen Neuzeit gezeichnet wurden, ist buchstäblich die Haut abgezogen. Sie erscheinen aber als Melancholiker oder auch als Schmerzensmann und vermitteln die Vorstellung von körperlicher Ganzheit und Identität. Ihr weibliches Gegenstück, die anatomische Wachspuppe, hingegen ist grausam fragmentiert. Gleich unter dem schönen Hals setzt der Schnitt an und reißt den Leib auf. Gerahmt von seidigem Haar und gerafftem Stoff ist der weibliche Körper zweifach enthüllt. Solche fetischisierten Bilder waren es auch, die die Künstler zur idealen Darstellung der weiblichen Figur anleiteten: Geburt der Venus aus dem toten, geöffneten und zergliederten Körper.
Dem gnadenlosen wissenschaftlichen Umgang mit dem Körper stellt Lammer die künstlerische Praxis entgegen. Die Fragmentierung eines geschlechtlich nicht eindeutig determinierten Körpers, die Barbara Graf in ihren Zeichnungen vornimmt, diene nicht einem versachlichten Voyeurismus, sondern dem Ausdruck von Körpergefühlen. Hier gelingt es Lammer fast, ihre eigene intelligente Verschränkung von lebendigem Körper und Puppe aufzubrechen mit der Vorstellung eines authentischen, durch machtvolle Eingriffe verstellten Körperbildes, mit der Gegenüberstellung von enteignender Wissenschaft und Identität stiftender Kunst. Doch zum Glück setzt sich ihr Interesse für die Herstellungsweisen ganz und gar nicht authentischer Körper im Wechselspiel von Mortifizierung und Verlebendigung durch. Lammers leidenschaftlich engagierte Studie endet mit der bangen Frage, ob wir unseren Körper nur noch durch Schnitte, wie Piercing oder Tattoos, als real erfahren können - also durch den Akt, der den Puppenkörper konstituiert.
Den Unterschied zwischen realen und Kunstkörpern, den Lammer aufrechterhalten möchte, sieht Katharina Sykora im fotografischen Bild verwischt. Auch sie fragt nach den Schnitt- und Nahtstellen, die die Puppe als Konstrukt ausweisen. Doch geht es ihr nicht um den im Namen der Wissenschaft zerlegten Körper, sondern um die im Zeichen der Kunst inszenierte Puppe. Sykora beschreibt die Paarung des Künstlers mit der Puppe im Medium der Fotografie als eine Begegnung auf Leben und Tod. Die Ersetzung des lebendigen Modells durch eine nach Wunsch geformte, unbegrenzt verfügbare Kunstfrau hat ihre Tücken. Im Verbund mit dem Medium, das sie wirkungsvoll ins Bild setzt, lehnt sich die Puppe gegen ihren Schöpfer auf. Beide, Puppe und Fotografie, betreiben ein täuschendes Spiel, das ins Herz der Kunst zielt und deren Gabe der Verlebendigung betrifft.
Sykora, die zusammen mit Pia Müller-Tamm die Ausstellung "Puppen Körper Automaten" für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen konzipiert hat (F.A.Z. vom 24. August 1999), verbindet in ihrer ausgreifenden Studie die Geschichte der Puppe mit einer Theorie der Fotografie. Zur Disposition steht die Figur des Künstlers. Mit ihr werden gängige Vorstellungen von Autorschaft, die per se als männliche gedacht wird, und weiblich besetzte Körperbilder irritiert. "Unheimliche Paarungen" ist ein Buch, wie es sie nur noch selten gibt. Spannend wie ein guter Krimi, verbindet es überraschende Thesen mit gründlicher Recherche. Jedes Argument ist präzise durchgeführt, jede These mit wissenschaftlicher Sorgfalt belegt.
BEATE SÖNTGEN
Christina Lammer: "Die Puppe". Eine Anatomie des Blicks. Turia und Kant, Wien 1999. 236 S/W-Abb. br., 42,- DM.
Katharina Sykora: "Unheimliche Paarungen". Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie. Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Band 14. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 1999. 252 S., S/W-Abb., br., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main