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  • Hersteller: Eurodisc,
  • EAN: 0035626903022
  • Artikelnr.: 27677204
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021

Prometheus heißt das Losungswort des Widerstands
Es kommt auf englische Bühnen, was der Pandemie wegen lange warten musste: "Fidelio" in Glyndebourne und "Jenüfa" an der Royal Opera / Von Gina Thomas, London

Im Umgang mit Beethovens "Fidelio" beziehen sich Regisseure gern auf die Unzufriedenheit des Komponisten mit seinem "Sorgenkind", als gäben die ungelösten Brüche zwischen Singspiel, heroischer Oper und symphonischem Oratorium einen Freibrief zur künstlerischen Intervention. Der junge Brite Frederic Wake-Walker, der unlängst die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, ist bloß der Jüngste in einer langen Reihe derer, die meinen, an diesem Werk herumdoktern zu müssen. Wake-Walker ist freilich auch nicht der Erste, der auf die problematischen gesprochenen Dialoge zwischen den Musiknummern verzichtet. Dabei belässt er es jedoch nicht. Im Glauben, die universelle politische Botschaft und deren aktuelle Relevanz zu bekräftigen, dichtet er der Rettungsgeschichte vielmehr eine neue Figur in der Gestalt der politisch erwachten Volksschullehrerin Estella hinzu.

Seine Inszenierung war ursprünglich als Beitrag des Glyndebourne-Festivals zum Beethoven-Jahr 2020 vorgesehen. Wegen der Pandemie konnte sie erst jetzt zum Start der jährlichen Tournee durch die englische Provinz realisiert werden. Die Dimensionen des für das Hauptprogramm des Opernhauses konzipierten Bühnenbildes sprengen jedoch den Rahmen einer Gastspielreise, sodass "Fidelio" unter Hausarrest bleiben wird, während die anderen beiden Opern, Donizettis "Don Pasquale" und Strawinskys "The Rake's Progress" mit dem herrlichen Bühnenbild von David Hockney von Mitte der Siebzigerjahre, durch die Lande ziehen. Glyndebourne stellt etwas vage eine spätere, reisetaugliche Adaption in Aussicht.

Eine Lehrerin wird bekehrt

Das Bühnenbild von Anna Jones wird von einer gigantischen siloartigen Struktur aus Maschendraht beherrscht, der wohl Michel Foucaults Deutung von Jeremy Benthams Panopticum als Überwachungsmechanismus der Disziplinargesellschaft zugrunde liegt. Diesen Gedanken unterstreicht Wake-Walker durch den ständigen Einsatz von Videobildern der Darsteller, die, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen, riesig groß auf die Zaunwände projiziert werden. Schwarzgekleidete Kameraleute schleichen vor den Sängern herum, ihre Objektive auf deren Gesichter richtend. Als seien die Herausforderungen von "Gott! Welch Dunkel hier" nicht schon genug, muss der an eine vom Bühnenhimmel hängende Kette gefesselte Adam Smith bei der Florestan-Arie ein schwindelerregendes Selfie drehen. Umso beachtlicher, dass es ihm dennoch gelingt, Verzweiflung und fieberhafte Erregung mit reinem, bronzenem Klang zu erfassen. Die unruhig bewegten Bilder wirken umso irritierender, da die Mundbewegungen auf den Projektionen nicht zu den Stimmen passen.

Im ersten Akt sitzt Estella am linken Bühnenrand vor ihrem Computer und sinniert über einen Brief Leonores an Florestan, der ihr in die Hände gekommen ist. Er hat der Lehrerin nach Jahrzehnten der Indoktrinierung die Augen geöffnet für das Böse um sie herum und für die Macht der Liebe, Menschen zu großen Taten zu bewegen. Das veranlasst sie, der geheimen Widerstandsgruppe mit Namen Prometheus beizutreten, der auch Leonore und Florestan angehören. Die von Gertrude Thoma mitverfasste und exaltiert vorgetragene Suada über das idealistische Engagement gegen das Unterdrückungsregime ist derart banal und prätentiös, dass man sich ein Gefühl der Erleichterung verkneifen muss, wenn die Ordnungskräfte sie fortschleppen.

Das Tourneeprogramm von Glyndebourne ist nicht zuletzt dazu gedacht, das Opernpublikum zu erweitern. Doch dürften Neueinsteiger Mühe haben, sich bei der Kombination aus fremder Erfindung und fehlenden Dialogen einen Reim auf die jeweiligen Täuschungen, Hoffnungen und Motivationen der Handelnden zu machen, deren Konturen in der Düsternis der schwarz gehaltenen Bühne verschwimmen. Der Chor und einige der meist jungen Stimmen, die für die Tournee beschäftigt werden, treten leuchtend hervor, auch wenn es unter der symphonisch gedachten, füllig klingenden musikalischen Leitung Ben Glassbergs nicht immer reibungslos zwischen Bühne und Orchestergraben abgeht. Als Leonore überzeugt Dorothea Herbert mit lyrisch-dramatischer Inbrunst. Eindrucksvoll auch der dunkel timbrierte Rocco Callum Thorpes und Dingle Yandells Pizarro. Wake-Walker bringt die Figuren allerdings kaum in Beziehung zueinander, sodass das Drama seltsam gefühllos erscheint. Wenn sich beim Finale der Zuschauerraum erhellt, die Bühne einschließlich der Besetzung mit Lamé bedeckt wird und die wie auf den Rängen des Kolosseums über verschiedene Ebenen des Silos verteilte Menge die Befreiung von der Tyrannei mit erhobenen Fäusten bejubelt, meint man sich in die Persiflage eines Hollywood-Spektakels über das römische Kaiserreich verirrt zu haben.

An der Londoner Royal Opera Covent Garden wird der pandemiebedingte Rückstau ebenfalls abgebaut. Dort stand die erste Neuinszenierung des Hauses von Leos Janáceks "Jenüfa" seit zwanzig Jahren im März 2020 wenige Tage vor der Premiere, als der Lockdown kam. Nun ist sie mit etwas anderer Besetzung und Henrik Nánási statt Vladimir Jurowski am Pult in der symbolträchtigen surrealistischen Konzeption von Claus Guth zu einem triumphalen Erfolg geführt worden. Selbst wenn die Symbolik mitunter etwas dick aufgetragen ist, sind die Figuren unter seiner präzisen Personenführung bis in die kleinsten Rollen feinst gezeichnet.

Auch hier eine Art Panoptikum

In gewisser Hinsicht gleicht auch die mährische Gemeinschaft, wie sie hier von Guth, seinem Bühnenbildner Michael Levine und der Kostümbildnerin Gesine Völlm eindringlich präsentiert wird, einer Art von Panoptikum, in dem jeder jeden im Blick hat. Die ländliche Mühle wird durch einen fabrikartigen Raum ersetzt, der die ganze Spielfläche ausfüllt und zugleich als Geburtsstation, Kaserne, Arbeits- und Armenhaus zu dienen scheint, über den Elena Zilios furchtsame alte Großmutter Burya mit der Peitsche waltet. Die synchronisierten Bewegungen der an den Rändern der Bühne in lauter symmetrische Einheiten von Mutter, Vater, Wiegenkind eingeteilten Dorfbewohner bringen den moralischen Konformismus zum Ausdruck, der keine Abweichungen duldet. Er zwingt Jenüfa, ihre uneheliche Schwangerschaft zu verbergen, und veranlasst ihre Ziehmutter, die Küsterin, das neugeborene Kind heimlich zu töten, um die Schande abzuwehren.

Wie die Mägde in Margaret Atwoods Dystopie tragen die Dorffrauen große scheuklappenartige Hauben, bloß dass diese wie auch die Kleider schwarz sind. In Momenten der erhöhten Erregung werfen die silhouettenhaften Gestalten ein gewaltiges Schattengewirr auf die Rückwand, das das Gefühl der Beengung steigert. Im zweiten Akt setzt sich ein menschengroßer Rabe ominös auf dem Dach des aus den Metallbetten des vorhergehenden Bühnenbildes zusammengestellten Käfigs nieder, der die Küsterin und Jenüfa beherbergt. Daneben beschwören die auf dem Boden gestreuten Matratzen die Eisbrocken, in denen die Leiche von Jenüfas Kind gefunden wird. Erst im letzten Akt bringen ein Teppich gelber Blumen und die mährischen Trachten der Hochzeitsgesellschaft Farbe in diese schwermütige Welt, deren Seele Janácek in Tonbildern von glühender Intensität erfasst. Nánási lässt das Orchester zu aufregend expressiven Crescendi anschwellen, setzt die Sänger allerdings gelegentlich mit seinen üppigen, sinnlichen Klängen unter Druck.

Zwanzig Jahre nachdem sie in der Titelrolle auf dieser Bühne stand, verkörpert Karita Mattila eine Kostelnicka von subtilster Innigkeit. In ihrer elektrisierenden Interpretation ist es mehr als nur das falsche Ehrgefühl, das diese gepeinigte Figur in den Abgrund treibt. Ihr steht mit Asmik Grigorian eine stimmlich wie darstellerisch nuancierte Jenüfa gegenüber, zart in ihrer Verletzlichkeit, nobel in ihrer Großmut. Grandios gestaltet der Rollenwechsel zwischen den beiden Frauen im Zuge der Handlung. Saimir Pirgu vermittelt mit tenoralem Schmelz das hallodrihafte Wesen von Jenüfas Geliebtem Steva, und Nicky Spence verleiht der Rolle des Laca mit lyrischem Wohlklang jene holprige Aufrichtigkeit, die Jenüfa schließlich überzeugt, seinem Buhlen nachzugeben. Gemeinsam sucht das Paar das Weite, während hinter ihm die Rollläden zugehen, die die Dorfgemeinschaft in ihrer bedrückenden Engstirnigkeit einschließen.

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