Der 17-jährige Wan-Duk hat es nicht einfach. Sein kleingewachsener Vater versucht sich zusammen mit einem stotternden Onkel als Tänzer und Marktfahrer. Seine Mutter, die aus Vietnam kommt, hat die Familie vor 17 Jahren verlassen, Wan-Duk hat keinerlei Erinnerung an sie. Kommt noch dazu, dass sein bärbeißiger Lehrer in der Nachbarschaft wohnt und ihn auch nach dem Unterricht kaum je aus den Augen lässt.Unter diesen widrigen Umständen sucht sich Wan-Duk, der sich schnell mal in eine Schlägerei verwickeln lässt, seinen Weg. Im Kickbox-Training lernt er, seine Impulse in den Griff zu kriegen, und mit der zielstrebigen Mitschülerin Yun-Ha entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte. Und plötzlich steht seine Mutter vor ihm. Immer hat der Lehrer seine Finger im Spiel. Dessen rauer Ton täuscht, er ist eigentlich ein herzensguter Mensch und erkennt, was Wan-Duk braucht, um über sich hinauszuwachsen.Der dialoggetriebene Roman lässt einen tiefen Einblick in die Nöte eines Jugendlichen, aber auch in die koreanische Gesellschaft zu. Mit jeder Seite wachsen uns die Figuren mit ihrer Schrulligkeit und Güte mehr ans Herz. Die Autorin erzählt mit viel Einfühlungsvermögen und scheut sich nicht, brisante Themen wie Fremdenfeindlichkeit, die prekäre Situation ausländischer Arbeiter oder die allgegenwärtigen, nicht immer jugendfreien Comics anzusprechen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2020Schattenboxen gegen das System
Ryeo-Reong Kims koreanischer Roman einer prekären Jugend
Die koreanische Autorin Ryeo-Ryeong Kim übt mit oft unorthodoxen Lehrerfiguren eine spielerische Kritik der Institutionen und Autoritäten und der Auswüchse eines überhitzten Systems wie Mobbing, Drill und Fixierung auf Eliteuniversitäten. Ihr in Korea 2008 erschienener Bestseller, der nun auf Deutsch unter dem Titel "Eins zwei. Eins zwei drei" erschienen ist, verbindet eine Coming-of-Age-Geschichte mit einem tragikomischen Prekariatsroman, wobei er konkurrierende Schulen und Lebensschulen - lieber als auf die Oberschule geht der Held Wan-Duk in eine Kickbox-Einrichtung - kurz schließt.
Mit Wan-Duks schrulligem Klassenlehrer und Mentor Dung-Ju, der zu allem Überfluss in Seoul in einem Betonbau auf dem Dach eines Hauses nebenan wohnt, entwickelt sich Hassliebe und Freundschaft.
Wan-Duks Patchworkfamilie ist ein Universum der Schausteller und Außenseiter - neben dem zwergwüchsigen Vater Jeong-Bok gibt es den sportlichen, doch geistig schwachen "Onkel" Min-Gu, zusammen verdingen sie sich als Animateure und Clowns in einem Tanzlokal; dagegen hat die durch eine vermittelte Heirat nach Korea gekommene vietnamesische Mutter die Familie früh enttäuscht verlassen.
Als das Lokal schließen muss, verdingen sich Vater und Onkel als illegale Händler von Tand in der U-Bahn und als Marktverkäufer. Vielleicht aus Protest gegen das väterliche Tanzen lernt der wortkarge junge Rebell Wan-Duk Kickboxen. Jenseits des Paukens und teurer Nachhilfeschulen erfährt er, der Schlägereien nie aus dem Weg ging, im Studio Realien des Lebens und dass Verteidigung der bessere Angriff ist.
Trotz Wan-Duks Desinteresse an Mädchen entspinnt sich eine Außenseiterromanze ausgerechnet mit der gemobbten Streberin (und imaginären Protagonistin eines von einem Klassenkameraden gezeichneten erotischen Comics) Yun-Ha, die wider Erwarten Leute aus dem Gangstermilieu cool findet und sich keck zu Wan-Duks Kickbox-Managerin ernennt.
Die Relativierung der Institutionen und die Kritik an mangelnder Praxisorientierung zeigt sich neben der Schule auch in der ominösen "Kirche" in Wan-Duks Viertel, in dem es von Sekten nur so wimmelt. Die Einrichtung entpuppt sich als vom Lehrer Dung-Ju initiierter Treff für ausländische Arbeiter. Und auch Wan-Duks siebzehn Jahre lang von der Familie abwesende Mutter, die in einem Restaurant in Seongnam ausgebeutet wird, findet hier Zuflucht. Mit der Darstellung der prekären, teils illegalen Situation meist südostasiatischer Arbeiter ohne Betriebsunfallversicherung und der Problematik der angeworbenen asiatischen Heiratsmigrantinnen führt Kim kritische Themen in das Jugendbuch ein.
Dung-Ju, der ungehobelte Lehrer mit weiter Seele, initiiert eine familiäre Wiederannäherung in Trippelschritten, den Beginn einer "demilitarisierten Zone" der Herzen und Familienmitglieder. Alle lernen, von alter Borniertheit Abstand zu nehmen: Die abtrünnige Mutter entschuldigt und erklärt sich, der Vater, der alles in die Erziehung seines Sohnes stecken wollte, akzeptiert, dass sein Sohn nicht Schriftsteller, sondern Kickboxer werden möchte. Dieser sublimiert Schlägereien in Kampfkunst, und die Streberin Yun-Ha will zwar weiterhin auf eine Elite-Uni, aber nicht mehr des Prestiges willen, sondern um Kriegsberichterstatterin zu werden. Als die Patchworkfamilie mit Hilfe Dung-Jus als Investor gar beschließt, eine Tanzschule zu eröffnen, findet die Solidargemeinschaft der Underdogs Auswege aus den Abwärtsspiralen und Teufelskreisen der Zuschreibungen und Vorurteile.
In Kims wunderbarem Bildungsroman lernt Wan-Duk, sich zu wandeln vom sich vor der Welt und ihren Provokationen Versteckenden und bloßen Schattenboxer gegen das System zum Mitgestalter und "Fänger" des Glücks - und mitunter wie im Versteckspiel "Ich kann dich nicht finden, zeig dich!" zu rufen. Und zuletzt mit seinem auch im Kleinen spektakulären Leben Kompromisse zu schließen: "Die einzelnen Tage, die gewöhnlich, aber solide und ausgefüllt sind, werde ich zusammenfügen und irgendwann eine schöne Halskette des Lebens daraus fertigen."
STEFFEN GNAM
KIM Ryeo-Ryeong: "Eins zwei. Eins zwei drei."
Aus dem Koreanischen von Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer. Baobab Books, Basel 2020. 208 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ryeo-Reong Kims koreanischer Roman einer prekären Jugend
Die koreanische Autorin Ryeo-Ryeong Kim übt mit oft unorthodoxen Lehrerfiguren eine spielerische Kritik der Institutionen und Autoritäten und der Auswüchse eines überhitzten Systems wie Mobbing, Drill und Fixierung auf Eliteuniversitäten. Ihr in Korea 2008 erschienener Bestseller, der nun auf Deutsch unter dem Titel "Eins zwei. Eins zwei drei" erschienen ist, verbindet eine Coming-of-Age-Geschichte mit einem tragikomischen Prekariatsroman, wobei er konkurrierende Schulen und Lebensschulen - lieber als auf die Oberschule geht der Held Wan-Duk in eine Kickbox-Einrichtung - kurz schließt.
Mit Wan-Duks schrulligem Klassenlehrer und Mentor Dung-Ju, der zu allem Überfluss in Seoul in einem Betonbau auf dem Dach eines Hauses nebenan wohnt, entwickelt sich Hassliebe und Freundschaft.
Wan-Duks Patchworkfamilie ist ein Universum der Schausteller und Außenseiter - neben dem zwergwüchsigen Vater Jeong-Bok gibt es den sportlichen, doch geistig schwachen "Onkel" Min-Gu, zusammen verdingen sie sich als Animateure und Clowns in einem Tanzlokal; dagegen hat die durch eine vermittelte Heirat nach Korea gekommene vietnamesische Mutter die Familie früh enttäuscht verlassen.
Als das Lokal schließen muss, verdingen sich Vater und Onkel als illegale Händler von Tand in der U-Bahn und als Marktverkäufer. Vielleicht aus Protest gegen das väterliche Tanzen lernt der wortkarge junge Rebell Wan-Duk Kickboxen. Jenseits des Paukens und teurer Nachhilfeschulen erfährt er, der Schlägereien nie aus dem Weg ging, im Studio Realien des Lebens und dass Verteidigung der bessere Angriff ist.
Trotz Wan-Duks Desinteresse an Mädchen entspinnt sich eine Außenseiterromanze ausgerechnet mit der gemobbten Streberin (und imaginären Protagonistin eines von einem Klassenkameraden gezeichneten erotischen Comics) Yun-Ha, die wider Erwarten Leute aus dem Gangstermilieu cool findet und sich keck zu Wan-Duks Kickbox-Managerin ernennt.
Die Relativierung der Institutionen und die Kritik an mangelnder Praxisorientierung zeigt sich neben der Schule auch in der ominösen "Kirche" in Wan-Duks Viertel, in dem es von Sekten nur so wimmelt. Die Einrichtung entpuppt sich als vom Lehrer Dung-Ju initiierter Treff für ausländische Arbeiter. Und auch Wan-Duks siebzehn Jahre lang von der Familie abwesende Mutter, die in einem Restaurant in Seongnam ausgebeutet wird, findet hier Zuflucht. Mit der Darstellung der prekären, teils illegalen Situation meist südostasiatischer Arbeiter ohne Betriebsunfallversicherung und der Problematik der angeworbenen asiatischen Heiratsmigrantinnen führt Kim kritische Themen in das Jugendbuch ein.
Dung-Ju, der ungehobelte Lehrer mit weiter Seele, initiiert eine familiäre Wiederannäherung in Trippelschritten, den Beginn einer "demilitarisierten Zone" der Herzen und Familienmitglieder. Alle lernen, von alter Borniertheit Abstand zu nehmen: Die abtrünnige Mutter entschuldigt und erklärt sich, der Vater, der alles in die Erziehung seines Sohnes stecken wollte, akzeptiert, dass sein Sohn nicht Schriftsteller, sondern Kickboxer werden möchte. Dieser sublimiert Schlägereien in Kampfkunst, und die Streberin Yun-Ha will zwar weiterhin auf eine Elite-Uni, aber nicht mehr des Prestiges willen, sondern um Kriegsberichterstatterin zu werden. Als die Patchworkfamilie mit Hilfe Dung-Jus als Investor gar beschließt, eine Tanzschule zu eröffnen, findet die Solidargemeinschaft der Underdogs Auswege aus den Abwärtsspiralen und Teufelskreisen der Zuschreibungen und Vorurteile.
In Kims wunderbarem Bildungsroman lernt Wan-Duk, sich zu wandeln vom sich vor der Welt und ihren Provokationen Versteckenden und bloßen Schattenboxer gegen das System zum Mitgestalter und "Fänger" des Glücks - und mitunter wie im Versteckspiel "Ich kann dich nicht finden, zeig dich!" zu rufen. Und zuletzt mit seinem auch im Kleinen spektakulären Leben Kompromisse zu schließen: "Die einzelnen Tage, die gewöhnlich, aber solide und ausgefüllt sind, werde ich zusammenfügen und irgendwann eine schöne Halskette des Lebens daraus fertigen."
STEFFEN GNAM
KIM Ryeo-Ryeong: "Eins zwei. Eins zwei drei."
Aus dem Koreanischen von Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer. Baobab Books, Basel 2020. 208 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2020Wan-Duks Welt
Ein koreanischer Junge kämpft für
seinen Vater
VON SIGGI SEUSS
Was für eine verrückte Geschichte – der Roman der südkoreanischen Autorin Kim Ryeo-Ryeong, „Eins – zwei, eins – zwei – drei“. So herrlich fern und doch vertraut nahe. Er spielt in einem Land, von dem man immer wieder Gutes hört, selbst bei der Bewältigung der Pandemie. Wie machen die das?
Gelegentlich erreichen uns aber auch Botschaften von hinter den Kulissen dieses Musterländles, die eine andere, tief gespaltene Gesellschaft zeigen, in der soziopathisches Verhalten genauso zum Alltag gehört wie hierzulande. Einen tiefen Einblick ins Milieu gab vor kurzem „Parasite“, der preisgekrönte Film des Regisseurs Bong Joon-ho. Kim Ryeo-Ryeongs ebenfalls verfilmte Ich-Erzählung des 17jährigen Einzelgängers Wan-Duk trifft einen ähnlichen Ton, auch wenn das Ende wesentlich versöhnlicher ist und vor allem kein Blut fließt.
Mit stilsicher geführter satirischer Feder, mit einem wie ein Endlos-Tanz choreografierten Erzählrhythmus und mit großer Freude an grotesker Überzeichnung von Figuren und Situationen nähert sich die Autorin (und mit ihr die beiden Übersetzer Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer) einem ernsten Thema, das jede zivilisierte Gesellschaft betrifft: die Vereinsamung an den Rand gedrängter Menschen, die nicht den herrschenden Verhaltens- und Erscheinungsnormen entsprechen. Wan-Duks alleinerziehender Vater ist kleinwüchsig. Gemobbt und gehänselt verdient er sich sein Geld lange Zeit als Eintänzer in verschiedenen Etablissements. Seinen Sohn bringen Hohn und Spott immer wieder so in Rage, dass er seinen Vater mit der Faust verteidigen zu müssen glaubt. Zudem nervt ihn sein Klasslehrer ungeheuerlich, der hinter Beschimpfungen seine Fürsorge versteckt: „Mein Gott, ihr Schwachköpfe! Schau sich mal an, wie hier gelernt wird“. Der zieht alle Register, um seine Unzufriedenheit mit Wan-Duks Verhalten kundzutun, den er für einen geborenen Schriftsteller hält. Er erscheint sogar, wie ein Springteufel, dann in Wan-Duks Privatleben, wenn dieser glaubt, er sei für einige Augenblicke ungestört.
Die Hauptpersonen sind von einer Reihe weiterer schräger Figuren umgeben, die sich immer wieder in Wan-Duks Eremitenleben einmischen: ein stotternder falscher Onkel und begnadeter Tänzer, seine lange verschollene vietnamesische Mutter, ein wortkarger Kickboxtrainer, ein Mädchen, das ihm Kopfschmerzen bereitet, und natürlich einige Mitschüler, die Wan-Duk in die Schublade „Spastis“ und „Idioten“ steckt. Provokationen allerorten, die sich in einem erstaunlich überschaubaren Raum in der Metropole Seoul ereignen: in den Einzimmerwohnungen auf den Dächern zweier benachbarter Häuser, in denen Wan-Duk und der Lehrer leben. In einer seltsamen Kirche am Wegesrand. In der Schule. In einem Kickboxstudio. Und sogar in der U-Bahn, wo der Vater zeitweise Gemüseschneider und Strumpfhosen zu verkaufen versucht. Wie wer mit wem warum zusammenhängt, das bleibt Wan-Duk ein Rätsel. „Als ob es der Plan des Schöpfers ist, dass wir uns immer wieder über den Weg laufen.“ Und: „Anscheinend zieht jemand unentwegt die Feder in unserem Rücken auf.“ - In der Tat: Kim Ryeo-Ryeong ist die Allmächtige im Hintergrund, die dafür sorgt, dass ihr Held langsam und schmerzvoll in ein Leben stolpert, in dem er aufrecht gehen kann. (ab 13 Jahre u. Erwachsene)
Kim Ryeo-Ryeong:
Eins – zwei,
eins – zwei – drei.
Aus dem Koreanischen
von Hyuk-Sook Kim
und Manfred Selzer.
Baobab Books, Basel 2020. 208 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein koreanischer Junge kämpft für
seinen Vater
VON SIGGI SEUSS
Was für eine verrückte Geschichte – der Roman der südkoreanischen Autorin Kim Ryeo-Ryeong, „Eins – zwei, eins – zwei – drei“. So herrlich fern und doch vertraut nahe. Er spielt in einem Land, von dem man immer wieder Gutes hört, selbst bei der Bewältigung der Pandemie. Wie machen die das?
Gelegentlich erreichen uns aber auch Botschaften von hinter den Kulissen dieses Musterländles, die eine andere, tief gespaltene Gesellschaft zeigen, in der soziopathisches Verhalten genauso zum Alltag gehört wie hierzulande. Einen tiefen Einblick ins Milieu gab vor kurzem „Parasite“, der preisgekrönte Film des Regisseurs Bong Joon-ho. Kim Ryeo-Ryeongs ebenfalls verfilmte Ich-Erzählung des 17jährigen Einzelgängers Wan-Duk trifft einen ähnlichen Ton, auch wenn das Ende wesentlich versöhnlicher ist und vor allem kein Blut fließt.
Mit stilsicher geführter satirischer Feder, mit einem wie ein Endlos-Tanz choreografierten Erzählrhythmus und mit großer Freude an grotesker Überzeichnung von Figuren und Situationen nähert sich die Autorin (und mit ihr die beiden Übersetzer Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer) einem ernsten Thema, das jede zivilisierte Gesellschaft betrifft: die Vereinsamung an den Rand gedrängter Menschen, die nicht den herrschenden Verhaltens- und Erscheinungsnormen entsprechen. Wan-Duks alleinerziehender Vater ist kleinwüchsig. Gemobbt und gehänselt verdient er sich sein Geld lange Zeit als Eintänzer in verschiedenen Etablissements. Seinen Sohn bringen Hohn und Spott immer wieder so in Rage, dass er seinen Vater mit der Faust verteidigen zu müssen glaubt. Zudem nervt ihn sein Klasslehrer ungeheuerlich, der hinter Beschimpfungen seine Fürsorge versteckt: „Mein Gott, ihr Schwachköpfe! Schau sich mal an, wie hier gelernt wird“. Der zieht alle Register, um seine Unzufriedenheit mit Wan-Duks Verhalten kundzutun, den er für einen geborenen Schriftsteller hält. Er erscheint sogar, wie ein Springteufel, dann in Wan-Duks Privatleben, wenn dieser glaubt, er sei für einige Augenblicke ungestört.
Die Hauptpersonen sind von einer Reihe weiterer schräger Figuren umgeben, die sich immer wieder in Wan-Duks Eremitenleben einmischen: ein stotternder falscher Onkel und begnadeter Tänzer, seine lange verschollene vietnamesische Mutter, ein wortkarger Kickboxtrainer, ein Mädchen, das ihm Kopfschmerzen bereitet, und natürlich einige Mitschüler, die Wan-Duk in die Schublade „Spastis“ und „Idioten“ steckt. Provokationen allerorten, die sich in einem erstaunlich überschaubaren Raum in der Metropole Seoul ereignen: in den Einzimmerwohnungen auf den Dächern zweier benachbarter Häuser, in denen Wan-Duk und der Lehrer leben. In einer seltsamen Kirche am Wegesrand. In der Schule. In einem Kickboxstudio. Und sogar in der U-Bahn, wo der Vater zeitweise Gemüseschneider und Strumpfhosen zu verkaufen versucht. Wie wer mit wem warum zusammenhängt, das bleibt Wan-Duk ein Rätsel. „Als ob es der Plan des Schöpfers ist, dass wir uns immer wieder über den Weg laufen.“ Und: „Anscheinend zieht jemand unentwegt die Feder in unserem Rücken auf.“ - In der Tat: Kim Ryeo-Ryeong ist die Allmächtige im Hintergrund, die dafür sorgt, dass ihr Held langsam und schmerzvoll in ein Leben stolpert, in dem er aufrecht gehen kann. (ab 13 Jahre u. Erwachsene)
Kim Ryeo-Ryeong:
Eins – zwei,
eins – zwei – drei.
Aus dem Koreanischen
von Hyuk-Sook Kim
und Manfred Selzer.
Baobab Books, Basel 2020. 208 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Siggi Seuss findet Kim Ryeo-Ryeongs Geschichte reichlich verrückt. Dass es in Südkorea hinter den Kulissen ganz schön drastisch zugeht, hatte er schon geahnt. Kim Ryeo-Ryeong zeigt es ihm anhand seines einzelgängerischen Ich-Erzählers mit einem kleinwüchsigen, gemobbten Vater und allerhand weiterem schrägem Personal. Seoul als Handlungsort bietet Seuss Raum für Entdeckungen (im Kickboxstudio etwa) und der Coming-of-Age-Story einen spannenden Rahmen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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