Der Wiener Prater - Naturlandschaft, Erholungsgebiet und Vergnügungspark - im Spiegel von Liedtexten aus zwei JahrhundertenDer Wiener Prater ist mehr als ein Vergnügungsort. Er signalisiert einen Ausnahmezustand, der weit über das Vergnügen hinausgeht: rauschhaft und voller erotischer Suggestionen unterläuft er ethnische und geschlechtliche Differenzierungen, bricht die Moral und bietet genügend Raum für bunte sozial-politische Utopien. Der Prater fungiert als exterritorialer Versprechungsraum jenseits desgrauen Alltags der Stadt; er ist ge- und erkaufte Illusion. All diese Aspekte fließen in ein zum großen Teil unbekanntes musikalisches Repertoire, das den Prater zum Gegenstand hat und ihn maßgeblich mitprägt. Für den vorliegenden Band wurden zum ersten Mal mehr als 200 Lieder über den Wiener Prater von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart zusammengestellt und die darin enthaltenen Verweise auf die zeitlose Träumerei eines glücklichen Daseins kritisch beleuchtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2024Unter Liebespaaren, Flaneuren und Taschendieben
Von der Formulierung, der Wiener Prater sei ein verführerischer "Raum der Belustigung und der Faulheit", geht solch ein Zauber aus, dass man dem Buch "Die Musik des Wiener Praters. Eine liederliche Träumerei" von Susana Zapke und Wolfgang Fichna kaum widerstehen kann. Da verzeiht man leicht einen von Seminaristendeutsch überwucherten, womöglich schabernackigen Satz, der den Prater "heterotopisch und chronotopisch, illusorisch und kompensatorisch zugleich" nennt. Wobei der Satz selbst ja stimmt und alles, was er im Vorwort behauptet, durch die knappe, aber liebevolle Darstellung im Buch belegt wird.
Der Prater ist tatsächlich ein Raum, in dem es verschiedene Orte mit eigenen Bedeutungen gibt, die jeweils bestimmte Verhaltensweisen nahelegen, wo sich also an dem einen Ort (dem lauten, vergnüglichen Wurstelprater) etwas schickt, was am anderen (der noblen Hauptallee) nicht mehr schicklich wäre, wobei an wieder anderen Orten die Schicklichkeit gar nichts mehr zu suchen hat und - etwa in den Auen - manch Kind vor und außer der Ehe entstanden ist, wie Zapke umstandslos vermerkt.
Zugleich ist der Prater ein Ort, der mit bestimmten Lebens-, Jahres- und Tageszeiten verbunden ist: mit der Freizeit für die Besucher, mit dem Erwerbsleben für die Brot-, Salami- und Käseverkäufer, die Musiker, Karussellbremser und Taschendiebe, mit biographischen Einschnitten (dem ersten Wein, dem ersten Kuss, dem ersten Sex), mit mittäglichen Konversationen im Schatten der blühenden Kastanien auf der Hauptallee, mit abendlichen Bootsfahrten auf dem Heustadelwasser oder nächtlichen Liebesspielen im Gebüsch.
An all dies wird in den Texten der Praterlieder, sei es lachend, sei es weinend, erinnert. Dreihundert Lieder für Stimme und Klavier aus der Zeit zwischen 1873 und 1984 hat Zapke ihrem Buch zugrunde gelegt, um anhand von deren Texten die Gliederung des Raumes und die soziale Vielfalt des Praters zu beschreiben, aber auch eine Mentalität, welche Täuschung wie Enttäuschung bewusst herbeizuführen und damit zu gestalten wusste.
Erzählt wird dabei zugleich die Geschichte des Praters: von den ehemals kaiserlichen Jagdgründen nordöstlich der Altstadt Wiens, die 1766 durch Joseph II. der Bevölkerung allgemein zugänglich gemacht wurden, über das Aufblühen des Vergnügungsparks zur Zeit der großen Weltausstellungen, die Jahre zwischen den Weltkriegen mit dem Park als Sammlungspunkt des Roten Wiens und des Nationalsozialismus bis zur Verfolgung und Ermordung jüdischer Betriebseigner wie Eduard Steiner, dem das berühmte Riesenrad gehört hatte.
Wolfgang Fichna ergänzt den Spaziergang durch Geschichte, Orte und Umgangsweisen mit einer weiteren Erschließung des Praters: Er führt Texte von Praterliedern parallel mit Ausschnitten aus den Romanen "Die Dämonen" und "Die Wasserfälle von Slunj" von Heimito von Doderer. Das ganze Buch ist reichlich illustriert, wobei besonders die alten Fotos von Emil Mayer dazu inspirieren, sich einmal das Buch "Wurstelprater" von Felix Salten aus dem Jahr 1912 zu beschaffen, für das die Bilder entstanden sind.
Doch in all dem gescheiten Flanieren fehlt etwas: die Musik! Betrachtet werden nur Texte. Wir erfahren leider nichts über das Repertoire der Kapellen und Solisten im Prater, über die Zuordnung musikalischer Genres zu den verschiedenen Orten, über Lebens- und Bildungswege der Musiker, über Stilwandel und Stilvielfalt. Wir erfahren auch nicht, ob die Praterlieder, deren drollig-kuriose, schmähgeladene, nostalgische, satirische, immer aber aufschlussreiche Verse die Hälfte des Buches ausmachen, wirklich Lieder sind, die im Prater gesungen wurden oder nur außerhalb, aber über den Prater. Beethoven trat 1814 im Prater letztmals öffentlich als Pianist auf, Johann Strauß und Franz Lehár konzertierten hier. Johannes Brahms - das verschweigt das Buch - gehörte zu den Stammgästen der Damenkapelle. Über all dies hätte man doch gern Näheres erfahren.
Eines aber wird klar: Das industriell produzierte Vergnügen war eine Triebkraft der Moderne, der sozialen Durchmischung, der Lockerung des Geschlechterverhältnisses. Sehr treffend ist das Wort von der "wilden Praxis des Körpers, die im Raufhandel, im Alkohol-Exzess und im sexuellen Vergnügen ihre Endpunkte findet", wie es Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz schon 2004 prägten in ihrer Neuausgabe von Mayers und Saltens "Wurstelprater". In die wilde Praxis des Sprechens führt ein verwegenes Glossar ein, das erläutert, was eine Urschel, ein Tschopperl und a fesche Katz ist. JAN BRACHMANN
Susana Zapke und Wolfgang Fichna: "Die Musik des Wiener Praters". Eine liederliche Träumerei.
Hollitzer Verlag, Wien 2023. 280 S., Abb., br., 39,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Formulierung, der Wiener Prater sei ein verführerischer "Raum der Belustigung und der Faulheit", geht solch ein Zauber aus, dass man dem Buch "Die Musik des Wiener Praters. Eine liederliche Träumerei" von Susana Zapke und Wolfgang Fichna kaum widerstehen kann. Da verzeiht man leicht einen von Seminaristendeutsch überwucherten, womöglich schabernackigen Satz, der den Prater "heterotopisch und chronotopisch, illusorisch und kompensatorisch zugleich" nennt. Wobei der Satz selbst ja stimmt und alles, was er im Vorwort behauptet, durch die knappe, aber liebevolle Darstellung im Buch belegt wird.
Der Prater ist tatsächlich ein Raum, in dem es verschiedene Orte mit eigenen Bedeutungen gibt, die jeweils bestimmte Verhaltensweisen nahelegen, wo sich also an dem einen Ort (dem lauten, vergnüglichen Wurstelprater) etwas schickt, was am anderen (der noblen Hauptallee) nicht mehr schicklich wäre, wobei an wieder anderen Orten die Schicklichkeit gar nichts mehr zu suchen hat und - etwa in den Auen - manch Kind vor und außer der Ehe entstanden ist, wie Zapke umstandslos vermerkt.
Zugleich ist der Prater ein Ort, der mit bestimmten Lebens-, Jahres- und Tageszeiten verbunden ist: mit der Freizeit für die Besucher, mit dem Erwerbsleben für die Brot-, Salami- und Käseverkäufer, die Musiker, Karussellbremser und Taschendiebe, mit biographischen Einschnitten (dem ersten Wein, dem ersten Kuss, dem ersten Sex), mit mittäglichen Konversationen im Schatten der blühenden Kastanien auf der Hauptallee, mit abendlichen Bootsfahrten auf dem Heustadelwasser oder nächtlichen Liebesspielen im Gebüsch.
An all dies wird in den Texten der Praterlieder, sei es lachend, sei es weinend, erinnert. Dreihundert Lieder für Stimme und Klavier aus der Zeit zwischen 1873 und 1984 hat Zapke ihrem Buch zugrunde gelegt, um anhand von deren Texten die Gliederung des Raumes und die soziale Vielfalt des Praters zu beschreiben, aber auch eine Mentalität, welche Täuschung wie Enttäuschung bewusst herbeizuführen und damit zu gestalten wusste.
Erzählt wird dabei zugleich die Geschichte des Praters: von den ehemals kaiserlichen Jagdgründen nordöstlich der Altstadt Wiens, die 1766 durch Joseph II. der Bevölkerung allgemein zugänglich gemacht wurden, über das Aufblühen des Vergnügungsparks zur Zeit der großen Weltausstellungen, die Jahre zwischen den Weltkriegen mit dem Park als Sammlungspunkt des Roten Wiens und des Nationalsozialismus bis zur Verfolgung und Ermordung jüdischer Betriebseigner wie Eduard Steiner, dem das berühmte Riesenrad gehört hatte.
Wolfgang Fichna ergänzt den Spaziergang durch Geschichte, Orte und Umgangsweisen mit einer weiteren Erschließung des Praters: Er führt Texte von Praterliedern parallel mit Ausschnitten aus den Romanen "Die Dämonen" und "Die Wasserfälle von Slunj" von Heimito von Doderer. Das ganze Buch ist reichlich illustriert, wobei besonders die alten Fotos von Emil Mayer dazu inspirieren, sich einmal das Buch "Wurstelprater" von Felix Salten aus dem Jahr 1912 zu beschaffen, für das die Bilder entstanden sind.
Doch in all dem gescheiten Flanieren fehlt etwas: die Musik! Betrachtet werden nur Texte. Wir erfahren leider nichts über das Repertoire der Kapellen und Solisten im Prater, über die Zuordnung musikalischer Genres zu den verschiedenen Orten, über Lebens- und Bildungswege der Musiker, über Stilwandel und Stilvielfalt. Wir erfahren auch nicht, ob die Praterlieder, deren drollig-kuriose, schmähgeladene, nostalgische, satirische, immer aber aufschlussreiche Verse die Hälfte des Buches ausmachen, wirklich Lieder sind, die im Prater gesungen wurden oder nur außerhalb, aber über den Prater. Beethoven trat 1814 im Prater letztmals öffentlich als Pianist auf, Johann Strauß und Franz Lehár konzertierten hier. Johannes Brahms - das verschweigt das Buch - gehörte zu den Stammgästen der Damenkapelle. Über all dies hätte man doch gern Näheres erfahren.
Eines aber wird klar: Das industriell produzierte Vergnügen war eine Triebkraft der Moderne, der sozialen Durchmischung, der Lockerung des Geschlechterverhältnisses. Sehr treffend ist das Wort von der "wilden Praxis des Körpers, die im Raufhandel, im Alkohol-Exzess und im sexuellen Vergnügen ihre Endpunkte findet", wie es Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz schon 2004 prägten in ihrer Neuausgabe von Mayers und Saltens "Wurstelprater". In die wilde Praxis des Sprechens führt ein verwegenes Glossar ein, das erläutert, was eine Urschel, ein Tschopperl und a fesche Katz ist. JAN BRACHMANN
Susana Zapke und Wolfgang Fichna: "Die Musik des Wiener Praters". Eine liederliche Träumerei.
Hollitzer Verlag, Wien 2023. 280 S., Abb., br., 39,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Brachmann lässt sich nur zu gern von Susana Zapke und Wolfgang Fichna in den Wiener Prater entführen. Was die beiden Macher des Bandes über die Geschichte des Vergnügungsparks von der Zeit Joseph des II. über die des Roten Wiens bis heute zu berichten haben und wie sie es aufziehen, entlang einer Sammlung von Liedern um und über den Prater, findet Brachmann höchst aufschlussreich und liebevoll gemacht. Zu der so anhand eines Ortes dargestellten "sozialen Vielfalt" passen die reiche Illustration des Bandes und die eingefügten literarischen Quellen, meint Brachmann. Leider widmen die Herausgeber der Musik zu wenig Aufmerksamkeit und erzählen nichts über Genres, Kapellen und Solisten, die den Prater bespielten (sogar Brahms und Beethoven gehörten dazu!). Für Brachmann eine versäumte Chance.
© Perlentaucher Medien GmbH
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