Erik Saties Musik kommt aus der Einsamkeit und berührt uns tief. "Es ist mein Herz, das schaukelt", heißt es in seinem Kommentar zu "Balançoire", während die linke Hand des Klavierspielers über die rechte hin und her hüpft. Das ist musikalisch präzise formuliert und doch offen in seiner Bedeutung. Der Pianist und Musikschriftsteller Tomas Bächli erklärt die Musik Saties am Klavier: Damit man hören kann, wovon die Rede ist, gibt es zum Buch eine Web-Version mit Audio- und Videofiles.Bächli betrachtet den legendären Erik Satie allerdings auch unter anderen Aspekten - als Beteiligen an Filmproduktionen, als bildenden Künstler, als Messie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2016Bitte den Kopf öffnen
Tomas Bächli über den Komponisten Erik Satie
Wenn jemand - wie Erik Satie - "Stücke in Form einer Birne" komponiert, vom Pianisten in den Noten verlangt: "Öffnen Sie den Kopf", und in einem Klavierzyklus mit dem Titel "Getrocknete Embryos" den klingenden Verweis auf den Trauermarsch von Frédéric Chopin vorstellt als "Zitat einer berühmten Mazurka von Schubert", dann hält man ihn für einen komischen Kauz. Doch der Schweizer Pianist Tomas Bächli, der Satie - aus Anlass von dessen 150. Geburtstag am 17. Mai dieses Jahres - ein kleines Buch gewidmet hat, sieht in dem Mann alles andere als einen "gemütlichen Humoristen".
Liest man manche Sätze von Satie, so schüttelt man sich in der Tat nicht vor Lachen, sondern vor Frost: "Für mich gibt es nur die eiskalte Einsamkeit, die meinen Kopf mit Leere und mein Herz mit großer Trauer füllt", schrieb der Komponist an Suzanne Valladon, die einzige Frau, von der man weiß, dass er sie liebte. Es mag viel Selbstmitleid und Pose darin stecken, aber auch in seinem Theaterstück "Die Falle des Qualle" findet sich der Aufruf: "Werft euch vor mir auf den Bauch, meine Kinder: ich selbst will euch segnen, eigenhändig...Das wird mich wärmen, ich habe eiskalte Hände."
Allerdings unternimmt Bächli keinen Versuch, diesen Schüttelfrost in Beziehung zu setzen zur religiösen Fieberkurve, die Saties Biographie beschreibt zwischen seinem frühen Engagement für spiritistische Sekten und seiner späten Parteinahme für die Kommunisten. Dass die Kühle, der scheinbare Ulk, die demonstrative Sinnleere durchaus Reflexe auf eine religiöse oder metaphysische Depression sein könnten, eine Depression, wie sie der Russe Wladimir Rebikow (nur zwei Wochen nach Satie, am 31. Mai 1866, geboren) zum Beispiel in seiner "Étude musical psychologique" für Klavier mit dem Titel "Tristesse" oder seinem bedrückend lethargischen Klavierzyklus "Rêves de bonheur" beschreibt, ist ein Horizont, der dieses Buch übersteigt.
Mit der Biographie Saties hält sich Bächli nicht lange auf. Dass der Komponist in einer vermüllten Wohnung lebte und vor der Beziehung zu Menschen in die Bewunderung für Tiere flüchtete, wird nur knapp skizziert. Die Interviews mit Experten aus den Fächern Sozialpsychiatrie, Theologie, Philosophie und Komposition offenbaren eher Ratlosigkeit im Umgang mit Satie, ein intellektuelles Zurückschrecken vor einem Mann, der sich unnahbar gemacht hat.
Erhellend sind die Werkanalysen in diesem Buch. Bächli gelingt die einleuchtende Beschreibung, wie Satie traditionelle Sinnzusammenhänge der Musik de-komponiert, Funktionen von Akkorden aufhebt, indem er sie gewissermaßen "entortet", wie Tonleitern aus der Verankerung gerissen werden, Anfang und Ziel verlieren, wie der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz verpufft, wie Musik ihrer Prozesshaftigkeit beraubt wird, die seit Ludwig van Beethoven mit teleologischem Furor zugespitzt worden war. Da findet eine stille Entleerung musikalischer Sprache statt, ein Aufkündigen des traditionellen Paktes zwischen Zeichen und Bezeichnetem, wie er die europäische Musik seit ihrer Wende zur Rhetorik und zum Bild um das Jahr 1600 herum getragen hatte.
Bächlis eigene musikalische Perspektive freilich ist stark auf die heroische Moderne des frühen zwanzigsten Jahrhunderts beschränkt, die auch in den Komponistengesprächen noch einmal apologetisch in ihrem Unvermeidlichkeitsanspruch bestätigt wird. Behauptungen, dass Claude Debussy, Chopin und Satie "einen ganz eigenen Tonfall, einen persönlichen Duktus, ähnlich dem Gesicht eines Menschen", gemeinsam hätten, liest man mit Verwunderung. Soll das ein Alleinstellungsmerkmal sein? Gilt das für Robert Schumann, Gabriel Fauré und Peter Tschaikowsky nicht gleichermaßen?
Ein Komponisten-Name wie "Giacomo Rossini" ist Hinweis darauf, dass dem Buch ein musikalisches Fachlektorat gut getan hätte. Aber der werkanalytische Beweis für Saties Satz "Ich bin nicht drollig" ist Bächli gelungen.
JAN BRACHMANN.
Tomas Bächli: "Ich heiße Satie wie alle anderen auch".
Verbrecher Verlag, Berlin 2016. 160 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tomas Bächli über den Komponisten Erik Satie
Wenn jemand - wie Erik Satie - "Stücke in Form einer Birne" komponiert, vom Pianisten in den Noten verlangt: "Öffnen Sie den Kopf", und in einem Klavierzyklus mit dem Titel "Getrocknete Embryos" den klingenden Verweis auf den Trauermarsch von Frédéric Chopin vorstellt als "Zitat einer berühmten Mazurka von Schubert", dann hält man ihn für einen komischen Kauz. Doch der Schweizer Pianist Tomas Bächli, der Satie - aus Anlass von dessen 150. Geburtstag am 17. Mai dieses Jahres - ein kleines Buch gewidmet hat, sieht in dem Mann alles andere als einen "gemütlichen Humoristen".
Liest man manche Sätze von Satie, so schüttelt man sich in der Tat nicht vor Lachen, sondern vor Frost: "Für mich gibt es nur die eiskalte Einsamkeit, die meinen Kopf mit Leere und mein Herz mit großer Trauer füllt", schrieb der Komponist an Suzanne Valladon, die einzige Frau, von der man weiß, dass er sie liebte. Es mag viel Selbstmitleid und Pose darin stecken, aber auch in seinem Theaterstück "Die Falle des Qualle" findet sich der Aufruf: "Werft euch vor mir auf den Bauch, meine Kinder: ich selbst will euch segnen, eigenhändig...Das wird mich wärmen, ich habe eiskalte Hände."
Allerdings unternimmt Bächli keinen Versuch, diesen Schüttelfrost in Beziehung zu setzen zur religiösen Fieberkurve, die Saties Biographie beschreibt zwischen seinem frühen Engagement für spiritistische Sekten und seiner späten Parteinahme für die Kommunisten. Dass die Kühle, der scheinbare Ulk, die demonstrative Sinnleere durchaus Reflexe auf eine religiöse oder metaphysische Depression sein könnten, eine Depression, wie sie der Russe Wladimir Rebikow (nur zwei Wochen nach Satie, am 31. Mai 1866, geboren) zum Beispiel in seiner "Étude musical psychologique" für Klavier mit dem Titel "Tristesse" oder seinem bedrückend lethargischen Klavierzyklus "Rêves de bonheur" beschreibt, ist ein Horizont, der dieses Buch übersteigt.
Mit der Biographie Saties hält sich Bächli nicht lange auf. Dass der Komponist in einer vermüllten Wohnung lebte und vor der Beziehung zu Menschen in die Bewunderung für Tiere flüchtete, wird nur knapp skizziert. Die Interviews mit Experten aus den Fächern Sozialpsychiatrie, Theologie, Philosophie und Komposition offenbaren eher Ratlosigkeit im Umgang mit Satie, ein intellektuelles Zurückschrecken vor einem Mann, der sich unnahbar gemacht hat.
Erhellend sind die Werkanalysen in diesem Buch. Bächli gelingt die einleuchtende Beschreibung, wie Satie traditionelle Sinnzusammenhänge der Musik de-komponiert, Funktionen von Akkorden aufhebt, indem er sie gewissermaßen "entortet", wie Tonleitern aus der Verankerung gerissen werden, Anfang und Ziel verlieren, wie der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz verpufft, wie Musik ihrer Prozesshaftigkeit beraubt wird, die seit Ludwig van Beethoven mit teleologischem Furor zugespitzt worden war. Da findet eine stille Entleerung musikalischer Sprache statt, ein Aufkündigen des traditionellen Paktes zwischen Zeichen und Bezeichnetem, wie er die europäische Musik seit ihrer Wende zur Rhetorik und zum Bild um das Jahr 1600 herum getragen hatte.
Bächlis eigene musikalische Perspektive freilich ist stark auf die heroische Moderne des frühen zwanzigsten Jahrhunderts beschränkt, die auch in den Komponistengesprächen noch einmal apologetisch in ihrem Unvermeidlichkeitsanspruch bestätigt wird. Behauptungen, dass Claude Debussy, Chopin und Satie "einen ganz eigenen Tonfall, einen persönlichen Duktus, ähnlich dem Gesicht eines Menschen", gemeinsam hätten, liest man mit Verwunderung. Soll das ein Alleinstellungsmerkmal sein? Gilt das für Robert Schumann, Gabriel Fauré und Peter Tschaikowsky nicht gleichermaßen?
Ein Komponisten-Name wie "Giacomo Rossini" ist Hinweis darauf, dass dem Buch ein musikalisches Fachlektorat gut getan hätte. Aber der werkanalytische Beweis für Saties Satz "Ich bin nicht drollig" ist Bächli gelungen.
JAN BRACHMANN.
Tomas Bächli: "Ich heiße Satie wie alle anderen auch".
Verbrecher Verlag, Berlin 2016. 160 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Michael Stallknecht versteht Saties Kunst ein bisschen besser nach der Lektüre von Tomas Bächlis Buch. Dies, obwohl der Autor nicht dran denkt, ein Geheimnis zu lüften oder Satie zu erklären, nein, der Autor wahrt das Geheimnis, freut sich Stallknecht, und umkreist sein Objekt sozusagen liebend, strategiefern, fein pointiert. Eine herkömmliche Komponistenbiografie ergibt das laut Rezensent zwar nicht, aber mit den detaillierten Werkanalysen (auch online nachzuhören, wie Stallknecht informiert), Interviews und klugen Bemerkungen zu Saties Ironie und den Brüchen in seiner Musik doch eine sehr lesbare und dem Autor entsprechende Annäherung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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