Ein imposanter Gang des Budapester Philosophen Tamás Miklós durch die deutsche Geschichtsphilosophie von Kant, Schelling und Schiller über Hegel, Burckhardt und Nietzsche zu den Positionen nach der "Großen Erzählung" bei Benjamin, Löwith, Marquard, Feyerabend und Duerr. Die Geburtsstunde der Geschichtsphilosophie ist die Stunde der Aufklärung, die die Konsequenzen der Aufklärung verstanden hat, die Stunde des durch die Aufklärung freigelegten Schreckens. Die Erkenntnis unserer metaphysischen Einsamkeit in einem sinnentleerten Niemandsland, diesen "kalten Dämon" (Nietzsche) musste man domestizieren - auch wenn der Preis dafür der Verlust der intellektuellen und moralischen Unschuld war. Die Klassiker der Geschichtsphilosophie waren keineswegs naive Fortschrittsgläubige, sie führen uns in vertraut gefährliche Landschaften. Als Fremdenführer zeigen sie uns zu Hause sitzenden Katastrophentouristen den Abgrund, der sich unter unseren Schreibtischen aufgetan hat, unsere eingestürzte Welt, in der wir Fremde geworden sind. Nehmen wir ihre Befürchtungen und Einsichten ernst, zeigen sich vielleicht auch bedeutende Werke der postgeschichtsphilosophischen Literatur und der neueren Erkenntnistheorie, die nach Anhaltspunkten für Vernunft und Freiheit forschen, in einem neuen Licht.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Matthias Kross hat sich gern von Tamas Miklos' "kaltem Dämon" ergreifen lassen. Der ungarische Philosophiehistoriker fasst darin seine dreißigjährige Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichtsphilosophie klug zusammen, lobt der Kritiker. Von Hegel über Kant, Schelling und Schiller bis zu Marx, Benjamin, Habermas, Blumenberg und Taubes skizziert Miklos verschiedene Position und legt überzeugend dar, dass die Akteure stets wussten, dass es nicht gelingen würde, aus der Geschichte eine "Verbesserung der Menschheit" abzuleiten, so der Rezensent. Als besonderes "Glanzstück" des Buches lobt er Miklos scharfe Analyse von Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2017Konkursmasse zu besichtigen
Tamás Miklós über das Ende der Geschichtsphilosophie
Die Geschichtsphilosophie ist heute für viele das, was Hegel einmal von der Philosophie Kants gesagt hat: ein toter Hund. Denn der Blick zurück in die Geschichte löst bei verständigen Menschen blankes Entsetzen aus; der nach vorn gibt derzeit kaum zu irgendeiner substantiellen Hoffnung Anlass. Das "krumme Holz" der Humanität scheint heute endgültig verbrannt; der Benjaminsche "Sturm vom Paradies her" hat den Engel der Geschichte schlicht umgeblasen.
Der ungarische Philosophiehistoriker Tamás Miklós wird einem solchen Befund gewiss nicht widersprechen. In seinem neuen Buch, das mehr als dreißig Jahre Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichtsphilosophie seit der Aufklärung zusammenfasst, geht es ihm um den Nachweis, dass die Verfechter des Projekts von Anfang an wussten, dass nicht gelingen würde, aus dem Gang der Geschichte einen Fortschritt zum Guten und eine Verbesserung der Menschheit abzuleiten. Ihnen saß schon immer jener "kalte Dämon" des Wissens um das radikal Böse im Nacken, lange bevor ihn Nietzsche auf alle Apologeten der Theodizee und schwärmerischen Fortschrittsoptimisten losgelassen hatte. Kant hat für Miklós mit seinem Weltbürger-Essay die Geschichtsphilosophie in eine "Falle" manövriert - man sollte vielleicht besser von einer Aporie sprechen - , aus der auch seine Nachfolger keinen philosophisch überzeugenden Ausweg finden sollten. Gemeint ist das Dilemma, dass der Mensch als ein gottgewollt freies Wesen zugleich sich als ein Werkzeug begreifen soll, einen ihm von Gott oder der Geschichte aufgenötigten, chiliastischen Heilsplan zu erfüllen.
Kurioserweise ist Kant gleichsam sehenden Auges in diese Falle getappt und hat, wie Miklós herausarbeitet, dies durchaus gewusst, es auch offen eingestanden und sich damit entschuldigt, dass sein geschichtsphilosophischer "Chiliasmus" vor allem dazu diene, nicht gänzlich über die Verstocktheit der Menschheit verzweifeln zu müssen. Seine Nachfolger bis Nietzsche haben offensichtlich ähnliche pessimistische Einschätzungen umgetrieben. Hegel lässt die Vernunft kurzerhand zu einer List greifen, um den göttlichen Heilsplan mit der im Namen der Freiheit zu ertragenden Bosheit der Menschen zu versöhnen - auch wenn ihm dann die Geschichte zu einem "Schlachthaus des Weltgeistes" gerät. Schiller und Schelling wiederum flüchteten sich ins Reich des Poetischen, um den ewigen "Kerker" der menschlichen Unzulänglichkeiten wenigstens bunt auszumalen.
Nietzsches Abwägung von Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hat für solcherlei poetische Übertünchung historischer Realität nur noch Spott übrig. Doch obwohl sein "kalter Dämon" der Erkenntnis den geschichtsphilosophischen Sisyphos von seinem tragischen Wiederholungszwang befreit, menschliche Handlungsfreiheit und Welterlösungsplan miteinander versöhnen zu müssen, hält Nietzsche, so Miklós, doch noch an der Idee fest, dass man sich der Realgeschichte bemächtigen könne, ja sogar müsse.
Nietzsche liefert damit, wenn auch gewiss unfreiwillig, eine philosophische Steilvorlage für die agonale, marxistisch inspirierte und doch eschatologisch orientierte Geschichtsdeutung Walter Benjamins. Die philologisch und wirkungsgeschichtlich umfassende und präzise Analyse von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen stellt ohne Frage das Glanzstück des Buches dar. Mit großer Umsichtigkeit präpariert Miklós die marxistisch-humanistische Botschaft des Benjaminschen Textes heraus: eine Parteinahme für die Geschichtserzählung der historischen Verlierer, welche verhindern soll, dass der Diskurs der Herrschenden sich allein behauptet.
Mit der Pluralisierung der Deutungsoptionen für die Geschichte durch Nietzsche, Marx und Benjamin ist für Miklós zwar der aporetische Fluch der klassischen Geschichtsphilosophie gebannt, erfolglos zwischen Freiheit und Heilsplan vermitteln zu müssen, ihr Legat hingegen noch lange nicht ausgeschöpft. Denn das Ende ihrer "großen Erzählung" zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts führte vor allem zu einer Reihe langwieriger Diadochenkämpfe mit unentschiedenem Ausgang (Habermas, Löwith, Blumenberg, Taubes). Zum Ende seines Buches beleuchtet Miklós dann noch einige Verwalter der geschichtsphilosophischen Konkursmasse, von denen Odo Marquard sicherlich der zögerlichste, Paul Feyerabend gewiss einer der unverfrorensten war.
Miklós lässt sein großartiges Buch wohl bewusst ohne ein Resümee. Gibt es für ihn vielleicht doch noch Hoffnung für die Philosophie einer Geschichte jenseits der Geschichtsphilosophie? - Angesichts der derzeitigen Weltlage mag sich mancher ihr Freiheitspathos und ihre humanistische Heils- und Fortschrittsgewissheit zurückwünschen, und sei es auch nur als dünnes Rauchfähnchen der Hoffnung in denkerisch dürftiger Zeit.
MATTHIAS KROSS.
Tamás Miklós: "Der kalte Dämon". Versuche zur Domestizierung des Wissens.
Aus dem Ungarischen von Eva Zador. C. H. Beck Verlag, München 2016. 362 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tamás Miklós über das Ende der Geschichtsphilosophie
Die Geschichtsphilosophie ist heute für viele das, was Hegel einmal von der Philosophie Kants gesagt hat: ein toter Hund. Denn der Blick zurück in die Geschichte löst bei verständigen Menschen blankes Entsetzen aus; der nach vorn gibt derzeit kaum zu irgendeiner substantiellen Hoffnung Anlass. Das "krumme Holz" der Humanität scheint heute endgültig verbrannt; der Benjaminsche "Sturm vom Paradies her" hat den Engel der Geschichte schlicht umgeblasen.
Der ungarische Philosophiehistoriker Tamás Miklós wird einem solchen Befund gewiss nicht widersprechen. In seinem neuen Buch, das mehr als dreißig Jahre Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichtsphilosophie seit der Aufklärung zusammenfasst, geht es ihm um den Nachweis, dass die Verfechter des Projekts von Anfang an wussten, dass nicht gelingen würde, aus dem Gang der Geschichte einen Fortschritt zum Guten und eine Verbesserung der Menschheit abzuleiten. Ihnen saß schon immer jener "kalte Dämon" des Wissens um das radikal Böse im Nacken, lange bevor ihn Nietzsche auf alle Apologeten der Theodizee und schwärmerischen Fortschrittsoptimisten losgelassen hatte. Kant hat für Miklós mit seinem Weltbürger-Essay die Geschichtsphilosophie in eine "Falle" manövriert - man sollte vielleicht besser von einer Aporie sprechen - , aus der auch seine Nachfolger keinen philosophisch überzeugenden Ausweg finden sollten. Gemeint ist das Dilemma, dass der Mensch als ein gottgewollt freies Wesen zugleich sich als ein Werkzeug begreifen soll, einen ihm von Gott oder der Geschichte aufgenötigten, chiliastischen Heilsplan zu erfüllen.
Kurioserweise ist Kant gleichsam sehenden Auges in diese Falle getappt und hat, wie Miklós herausarbeitet, dies durchaus gewusst, es auch offen eingestanden und sich damit entschuldigt, dass sein geschichtsphilosophischer "Chiliasmus" vor allem dazu diene, nicht gänzlich über die Verstocktheit der Menschheit verzweifeln zu müssen. Seine Nachfolger bis Nietzsche haben offensichtlich ähnliche pessimistische Einschätzungen umgetrieben. Hegel lässt die Vernunft kurzerhand zu einer List greifen, um den göttlichen Heilsplan mit der im Namen der Freiheit zu ertragenden Bosheit der Menschen zu versöhnen - auch wenn ihm dann die Geschichte zu einem "Schlachthaus des Weltgeistes" gerät. Schiller und Schelling wiederum flüchteten sich ins Reich des Poetischen, um den ewigen "Kerker" der menschlichen Unzulänglichkeiten wenigstens bunt auszumalen.
Nietzsches Abwägung von Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hat für solcherlei poetische Übertünchung historischer Realität nur noch Spott übrig. Doch obwohl sein "kalter Dämon" der Erkenntnis den geschichtsphilosophischen Sisyphos von seinem tragischen Wiederholungszwang befreit, menschliche Handlungsfreiheit und Welterlösungsplan miteinander versöhnen zu müssen, hält Nietzsche, so Miklós, doch noch an der Idee fest, dass man sich der Realgeschichte bemächtigen könne, ja sogar müsse.
Nietzsche liefert damit, wenn auch gewiss unfreiwillig, eine philosophische Steilvorlage für die agonale, marxistisch inspirierte und doch eschatologisch orientierte Geschichtsdeutung Walter Benjamins. Die philologisch und wirkungsgeschichtlich umfassende und präzise Analyse von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen stellt ohne Frage das Glanzstück des Buches dar. Mit großer Umsichtigkeit präpariert Miklós die marxistisch-humanistische Botschaft des Benjaminschen Textes heraus: eine Parteinahme für die Geschichtserzählung der historischen Verlierer, welche verhindern soll, dass der Diskurs der Herrschenden sich allein behauptet.
Mit der Pluralisierung der Deutungsoptionen für die Geschichte durch Nietzsche, Marx und Benjamin ist für Miklós zwar der aporetische Fluch der klassischen Geschichtsphilosophie gebannt, erfolglos zwischen Freiheit und Heilsplan vermitteln zu müssen, ihr Legat hingegen noch lange nicht ausgeschöpft. Denn das Ende ihrer "großen Erzählung" zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts führte vor allem zu einer Reihe langwieriger Diadochenkämpfe mit unentschiedenem Ausgang (Habermas, Löwith, Blumenberg, Taubes). Zum Ende seines Buches beleuchtet Miklós dann noch einige Verwalter der geschichtsphilosophischen Konkursmasse, von denen Odo Marquard sicherlich der zögerlichste, Paul Feyerabend gewiss einer der unverfrorensten war.
Miklós lässt sein großartiges Buch wohl bewusst ohne ein Resümee. Gibt es für ihn vielleicht doch noch Hoffnung für die Philosophie einer Geschichte jenseits der Geschichtsphilosophie? - Angesichts der derzeitigen Weltlage mag sich mancher ihr Freiheitspathos und ihre humanistische Heils- und Fortschrittsgewissheit zurückwünschen, und sei es auch nur als dünnes Rauchfähnchen der Hoffnung in denkerisch dürftiger Zeit.
MATTHIAS KROSS.
Tamás Miklós: "Der kalte Dämon". Versuche zur Domestizierung des Wissens.
Aus dem Ungarischen von Eva Zador. C. H. Beck Verlag, München 2016. 362 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Miklós Beschreibungen von Geschichtsphilosophie sind eine Qualität für sich."
Wolfgang Hellmich, Zeitschrift für philosophische Forschung, 2018
"Großartiges Buch."
Matthias Kross, FAZ, 07. Februar 2017
Wolfgang Hellmich, Zeitschrift für philosophische Forschung, 2018
"Großartiges Buch."
Matthias Kross, FAZ, 07. Februar 2017