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  • Verlag: Bagel
  • ISBN-13: 9783513532008
  • Artikelnr.: 24376709
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2011

Wo ist Ricarda Huch?
Wenn das Aufräumen zum Ausmisten gerät: Fragen an den neuen "Echtermeyer"

Der "Echtermeyer", die älteste deutsche Lyrik-Anthologie, feiert ihr hundertfünfundsiebzigjähriges Bestehen. 1836 ließ Theodor Echtermeyer seine "Auswahl deutscher Gedichte für die untern und mittlern Classen gelehrter Schulen" erscheinen. Mit der zweiten Ausgabe kam 1839 ein "Anhang" hinzu, der für die "obern Classen" der Schulen gedacht war. Diese Anthologie, eine unter vielen des neunzehnten Jahrhunderts, hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Unter den verschiedenen Herausgebern musste sie oft ihre Gestalt wechseln, aber nicht ihre Grundintention, den Nutzen für den schulischen Gebrauch.

Im Jahr 1903 ordnete Alfred Rausch das Werk nach Motiven, 1936 kehrte man zur chronologischen Ordnung zurück. Besonders lang - nämlich von 1954 bis Ende der achtziger Jahre - hat der Germanist Benno von Wiese Auswahl und Gestalt des "Echtermeyer" bestimmt. Jetzt zum Jubiläum der Anthologie erscheint ihre zwanzigste Ausgabe, herausgegeben von Elisabeth K. Paefgen und Peter Geist. Ganz neu ist diese Version freilich nicht, sie ist die nochmals revidierte Edition einer Neubearbeitung, die schon 2005 erschienen ist.

Dass der lyrische Kanon lebendig und beweglich erhalten werden muss, haben alle Herausgeber des "Echtermeyer" gewusst. Auch Benno von Wiese, der noch von den Idealen der deutschen Klassik geprägt war, hat die lyrische Moderne seiner Zeit berücksichtigt und zu ihrer Kanonisierung beigetragen. Die neuen Editoren hatten den Mut, auch Jüngstes, noch nicht Erprobtes einzubeziehen. So bringt die aktuelle Ausgabe nicht bloß eingeführte Avantgardisten wie Reinhard Priessnitz, Thomas Kling oder Marcel Beyer, sondern auch jüngste Namen wie Anja Utler, Steffen Popp und Ann Cotten.

Der Raum für solche Erweiterung wurde durch Straffungen im älteren Bestand gewonnen. Dagegen wäre nichts zu sagen, wären die Kriterien dafür nicht problematisch. Das Aufräumen gerät zum Ausmisten. Eliminiert wurden zum einen Autoren, die sich "in literatur- und rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht als nicht mehr tradierungsfähig erwiesen", darunter Ernst Moritz Arndt, Justinus Kerner oder Graf Moritz von Strachwitz - leider aber auch Konrad Weiss und Josef Weinheber. Weinheber, der mit den Nazis paktierte, ist zweifellos ein heikler Fall, aber sein späterer Kirchstettener Nachbar W. H. Auden, gewiss kein Nazi, hörte in Weinhebers Gedichten den virtuosen Tonfall eines Begnadeten. Konrad Weiss gehört zu den wenigen geistlichen Dichtern des zwanzigsten Jahrhunderts. Friedhelm Kemp sprach von dessen "dunkel-klarer Versonnenheit, unüberhörbar jedem willigen Ohr". Warum sollte man eine Poesie ignorieren, die auch nicht schwieriger ist als die Experimente eines Franz Mon oder Ulf Stolterfoht?

Nicht minder fragwürdig ist das Kriterium der Editoren, solche Autoren aus einer Anthologie herauszuhalten, deren "literarischen Stärken in einer anderen als der lyrischen Gattung liegen". Lesen wir recht? Da könnte selbst Schiller in die Bredouille geraten, der doch mit vierzig Seiten Balladen und Gedichten vertreten ist. Soll also Grillparzer dafür büßen, dass er Dramen schrieb? Franz Werfel für seine Romane? Ricarda Huch für ihre historischen Arbeiten? Warum lesen wir nicht wenigstens einen von Grillparzers bitteren Zeitsprüchen? Eines der stürmisch-begeisterten Gedichte Werfels? Eines der wunderbar kühnen Liebesgedichte Ricarda Huchs?

Das Fehlen dieser Autoren ist nicht bloß poetisch, sondern auch didaktisch ein Mangel. Wenn das vielbeschworene Interdisziplinäre im Schwange ist - wie naheliegend, wie schön zu erklären wären erst die Beziehungen, die ein Dramatiker oder Romancier zu seinen Gedichten unterhält? Über die Vermittelbarkeit von Gedichten ließe sich deutlicher nachdenken, nicht zuletzt über ihren Sitz im Leben. Man müsste den Mut dazu haben. Denn wenn wir einem alten Satz glauben wollen, lernen wir ja nicht für die Schule, sondern fürs Leben. In einer Anthologie, die für die Schule gedacht ist und 850 Gedichte bringt, hätten wir gern auch ein paar Überlegungen gelesen, die für Schüler und sonstige Lyrik-Leser von Nutzen wären. Sie hätten dem alt-neuen "Echtermeyer" Frische und Aktualität gegeben.

HARALD HARTUNG

Echtermeyer: "Deutsche Gedichte". Von den Anfängen bis zur Gegenwart.

Hrsg. von Elisabeth K. Paefgen und Peter Geist. Cornelsen Verlag, Berlin 2010. 942 S., geb., 19,95 [Euro].

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