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Der oft erwähnte heutige 'Antike-Boom' reicht in Deutschland eigentlich bis in die 1930er Jahre zurück, als die warnende Stimme Kassandras und das tragische Schicksal der Atriden von mehreren Dichtern und Dramatikern des Exils und der inneren Emigration als verkappte Modelle für die eigene und die nationale Existenz übernommen wurden. Seitdem treten in der deutschen Literatur, auffallend häufiger als in anderen europäischen Kulturen, Gestalten aus der griechischen Mythologie sowie der römischen Geschichte als prä- oder postfigurierte Modelle für gegenwärtiges Geschehen auf. Odysseus entpuppte…mehr

Produktbeschreibung
Der oft erwähnte heutige 'Antike-Boom' reicht in Deutschland eigentlich bis in die 1930er Jahre zurück, als die warnende Stimme Kassandras und das tragische Schicksal der Atriden von mehreren Dichtern und Dramatikern des Exils und der inneren Emigration als verkappte Modelle für die eigene und die nationale Existenz übernommen wurden. Seitdem treten in der deutschen Literatur, auffallend häufiger als in anderen europäischen Kulturen, Gestalten aus der griechischen Mythologie sowie der römischen Geschichte als prä- oder postfigurierte Modelle für gegenwärtiges Geschehen auf. Odysseus entpuppte sich als Urtypus des heimkehrenden Soldaten und der Dichter Ovid als Ahne des modernen Emigranten. Prometheus wurde in der DDR zum symbolischen Helden und dann paradoxerweise zum Feind des Marxismus, während in der BRD der Philosoph Seneca drei verschiedenen Nachkriegsgenerationen ein anderes Muster des moralischen Benehmens bot. In der Gegenwart des wiedervereinten Deutschlands ist Medea zueiner Ikone des Feminismus geworden. So erblicken viele deutsche Schriftsteller in diesen mythologischen und historischen Gestalten durch Verfremdung der Gegenwart oder durch implizite Analogie zur Vergangenheit das immer noch vitale Erbe der klassischen Antike.
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Autorenporträt
Theodore Ziolkowski, geboren 1932, lehrt deutsche und allgemeine Literaturwissenschaft an der Princeton University und ist seit 1979 Dekan der Graduiertenfakultät an dieser Universität.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.04.2009

Wann fährt Odysseus wieder hinaus?
Der amerikanische Germanist Theodor Ziolkowski erkundet antike Spieglungen in der deutschen Literatur nach 1933
Als Rilke 1908 den Louvre besuchte, fühlte er sich getroffen. Der archaische Torso Apolls, der bloße, augenlose Rumpf hatte ihn angeblickt und erkannt: „Du musst dein Leben ändern.” Wuchtig endet sein berühmtes Sonett, und wuchtig ragt die untergegangene Antike in die Pariser Moderne hinein, trotz Verstümmelung und Fragmentierung. Auch die Musealisierung kann der Prägnanz dieses Erlebnisses nichts anhaben.
Dass es gerade die zeitliche und kulturelle Distanz sei, die den antiken Mythen und Gestalten in Moderne und Gegenwart ihre Kraft verleihe, ist eine der Thesen von Theodore Ziolkowskis neuer Untersuchung zur „mythologisierten Gegenwart”. In früheren Studien ist der große amerikanische Germanist bereits den Spuren Vergils und Ovids in der Weltliteratur gefolgt. Nun schreibt er die deutsche Literaturgeschichte nach 1933, vor allem aber der Nachkriegszeit als eine der antiken Spiegelungen. Und es sind viele, die ihre Gegenwart von der Antike erkannt gefunden haben. Die wichtigen Autoren der DDR und der Bundesrepublik gehören dazu, aber auch viele unbekanntere und viele vergessene.
Freilich: Nicht immer sprach sich über die Distanz der Zeiten der ethische Imperativ aus, das eigene, persönliche Leben zu ändern. Der Umgang mit den Mythen erlaubt genauso die Kritik am Leben der Gesellschaft oder die Problematisierung der condition humaine. Dies liegt ganz auf der Linie einer Kunst und Literatur, die nach der Katastrophe des Dritten Reiches ihre mahnende, kritische und reflektierende Rolle mit neuem Ernst formulieren muss. Und die antiken Mythen sind ein Medium, das sich auch für die Entmythisierung besonders eignet.
Die gleichzeitige Prägnanz und Distanz der antiken Mythen macht ihre attraktive Flexibilität aus. Intensiv konzentriert sich das Leben von Gestalten wie Odysseus, Prometheus oder Medea in knappen Handlungskernen: Odysseus kehrt, nach jahrzehntelangen Irrfahrten, aus dem Krieg nach Hause zurück, um seine Frau von einer Schar dreister Freier umringt zu sehen. Prometheus gab den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer und wurde an den Kaukasus geschmiedet. Medea schließlich zerreißt ihre Kinder, rasend ob Jasons Betrug.
Es ist gerade diese ikonische Verknappung, die die mythologischen Gestalten immer noch im kulturellen Gedächtnis präsent sein lässt. Sie behaupten ihr Leben paradoxerweise besonders hartnäckig, weil sie sich von den antiken Quellen gelöst haben. Auch gegenwärtig wirken und werben die Debatten um die archäologischen Funde in Troja oder den kilikischen Homer Raoul Schrotts zwar in den Feuilletons für die Epen. Aber in einer breiten Öffentlichkeit hat das rudimentäre, auf den Kern beschränkte, gleichsam quellenlose Wissen um die Gestalt des Odysseus die Bekanntheit ihres Urhebers längst hinter sich gelassen.
Die Bindung an die tradierten, bekannten Ikonen eröffnet darüber hinaus Denkmöglichkeiten. Denn die so knappen wie intensiven Handlungskerne enthalten in sich selbst vielfältige Anschlussstellen. Sie werden zu zugespitzten Kippfiguren, zu Modellen für grundsätzliche Fragen: Kann der Heimkehrer Odysseus, verändert vom Krieg, entfremdet durch die Irrfahrten, in seiner alten Heimat Fuß fassen? Wird er nicht wieder aufbrechen, erneut an die Grenzen der Welt vordringen wollen? Befreit Prometheus in einem revolutionären Akt die Menschen aus entfremdeten Herrschaftsverh ltnissen, oder hat er nicht vielmehr mit der zivilisatorischen Gabe des Feuers gleichzeitig ein fatales Mittel zur Selbstzerstörung in die Welt gebracht? Und Medea: Ist ihre Raserei nicht die konsequente Folge ihrer Misshandlung durch den scheinbar zivilisierten Griechen Jason, der seinen Patriarchalismus in den Naturzustand der Barbarin trägt?
Mit Seneca durch die Trümmer
In solchen Fragen liegt ein herausforderndes Reflexionspotential: Identifikation und Ablehnung, Idealisierung und psychologische Auslotung der Figuren, Abstraktion der Handlungen zu überzeitlichen Modellen, Fortschreibungen, auch Korrekturen des Mythos sind nur einige Möglichkeiten mythologisierenden Schreibens. Die Mythen enthalten das Potential zu immer neuer Aktualisierung: In Odysseus erscheinen die ehemaligen Soldaten der Nachkriegszeit, im Feuerbringer Prometheus lässt sich der kommunistische Held der Arbeit genauso erkennen wie die bedrohliche Dialektik des technischen Fortschritts, der Atombomben und Kernkraftwerke. Medea schließlich stellt die Frage danach, ob und wie die Frau aus der Unterdrückung in patriarchalischer Gesellschaft ausbrechen kann. Am Horizont der Antike erscheinen die Umrisse der bundesdeutschen Trümmerliteratur, des arbeitsweltlichen Realismus der DDR, der Ökobewegung und des Feminismus, aber auch der Kritik von realem Sozialismus wie Kapitalismus. Ziolkowski zeigt jedoch, dass auch reale Gestalten der Antike ikonischen Wert gewinnen. Ovid und Seneca, der Exilant und der Stoiker in der Nähe Neronischer Machtpolitik, werden ebenfalls zu zentralen Reflexionsfiguren der mythologisierten Gegenwart.
Indem er die Volten der vielgewendeten Mythen und Ikonen nachzeichnet, konturiert Ziolkowski das Panorama des geteilten Deutschland mit all seinen literarischen Stärken. Heiner Müllers so brachiale wie subtile Modelle zur Reflexion über Gesellschaft als Gewaltform kommen ebenso zur Sprache wie die staats- und geschlechterpolitische Verzweiflung von Christa Wolfs Kassandra oder Günter Grass’ „örtlich betäubt”: senecanische Variationen über die Legitimität von Gewalt in der Studentenrevolte. Unter den 120 Texten, aus denen Ziolkowski sein Panorama zusammensetzt, finden sich auch zahlreiche vergessene. Diejenigen, denen dies zu Recht widerfuhr, helfen auch durch ihre Schwächen, das Gesamtbild der mythologisierten BRD- und DDR-Gegenwart scharfzustellen. Aber auch für Wiederentdeckungen kann man Ziolkowski dankbar sein. Seneca beispielsweise, dessen Stoizismus traditionell in die Nähe der christlichen Ethik gerückt wurde, erweist seine Aktualität nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Reihe von christlichen Humanisten. Für Hermann Gressieker, Friedrich Hiebel und Hubertus Prinz von Löwenstein formuliert sich in ihm die Frage nach einer ethischen Entscheidung im Raum prekärer Machtpolitik. Hier erscheint ein Milieu, das für die Mentalität der Bundesrepublik aufschlussreich ist, von der kultur- und literaturgeschichtlichen Forschung aber gerne vernachlässigt wird.
Aber die Mythen faszinierten nicht nur die durchaus noch von altsprachlichen Gymnasien geprägte, nunmehr selbst schon historisch gewordene Gegenwart des geteilten Deutschland. Auch die sogenannte Postmoderne fühlt sich von der Antike erkannt, wie Ziolkowski etwa an Yoko Tawada, Christoph Ransmayr und Dea Loher zeigt. Dem nach-postmodernen poeta laureatus Durs Grünbein gebührt hier ein Ehrenplatz: Seine kluge, pointierte und gelehrte Vermischung von Klassizismus und Manier steht seit Jahren im intensiven Dialog vor allem mit dem Rom Senecas und Juvenals: Wieder antwortet die poetische condition des dekadenten und formbewussten, so urbanen wie gewalttätigen Weltreichs auf unsere Gegenwart.
Ewiges Leben
Ziolkowski macht sich mit seinem Buch selbst zum Anwalt dessen, was mythologisches Schreiben bedeutet: Er plädiert auf unauffällige, aber wirkungsvolle Weise dafür, die Erhellungskraft und Reflexionstiefe der Tradition zu nutzen. Aber er zeigt auch, dass mythologisches Schreiben ein Plädoyer eigentlich gar nicht nötig hat. Wenn auch immer wieder bestimmte Figuren scheinbar abgeschrieben werden – andere haben dafür Konjunktur. Die Gestalten des Mythos sind immer noch lebendig. Und die Flexibilität ihrer Modelle, ihre Prägnanz in der Distanz werden auch zukünftige Gegenwarten nutzen, um einen Blick auf sich selbst zu werfen.
MARK-GEORG DEHRMANN
THEODORE ZIOLKOWSKI: Mythologisierte Gegenwart. Deutsches Erleben seit 1933 in antikem Gewand. Wilhelm Fink Verlag, München 2008. S., 29,90 Euro.
Auch Klytämnestra und Orest gehören längst zu den Kippfiguren, in denen wir uns spiegeln. Mit der „Orestie” des Aischylos wurde 2007 das Theaterhaus Jena eröffnet. Foto: Jens-Ulrich Koch/ddp
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Theodore Ziolkowskis Untersuchungen zu mythologischen Bezügen in der deutschen Literatur nach 1933 treffen beim Hannoveraner Germanisten Mark-Georg Dehrmann auf große Zustimmung. Der Autor lässt die antiken Mythen von Odysseus, Medea oder Prometheus als wichtige Reflexions- oder Identifikationsflächen der Literatur hervortreten, die ihr Potential vor allem aus ihren knappen und damit so eindrücklichen Handlungsmustern ziehen, stellt der Rezensent fest. In den 120 Texten, die der amerikanische Germanist untersucht, werden die mythologischen Figuren als "Kippfiguren" sichtbar, die beispielsweise als aus dem Krieg zurückkehrende Soldaten (Odysseus) oder gegen patriarchale Unterdrückung ankämpfende Frauen (Medea) gelesen werden können und so zu "zentralen Reflexionsfiguren der mythologisierten Gegenwart" werden, so Dehrmann. Dass Ziolkowski dabei nicht nur bekannte, sondern auch einige heute vergessene Autoren heranzieht, dafür ist ihm der Rezensent dankbar.

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