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1The adornment of time
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

In der Stille der Nacht
Nennt man es Jazz? Tyshawn Sorey und Marilyn Crispell improvisieren

Improvisation bedeutet Behutsamkeit und Wagemut, Reaktion und Aktion, Zurückhaltung und Vehemenz. Duo-Improvisation: auf die schönste Weise den Gefühlsregungen des anderen ausgeliefert zu sein, Hingabe an den Moment, an das Publikum auch, das Atmen des Raumes und die Verlockungen des Unerhörten. Wissen und Erfahrung sind dafür zwingende Voraussetzungen - sie speisen die Intuition. Und zugleich gilt es, gegen das Erlernte aufzubegehren, in einem fast meditativen Akt das Geläufige - abgespeicherte Melodielinien, Akkordfolgen, Patterns - zu sabotieren. Was für ein Abenteuer!

Es gibt Abermillionen Möglichkeiten, Stille mit Klang zu füllen. Und es ist eines jener unlösbaren Rätsel, wie gerade in improvisierter Musik innerhalb von Sekundenbruchteilen Entscheidungen über den Fortgang eines im Moment geschaffenen Stückes getroffen werden. Die große Kunst ist es, im Spiel die Stille zu bewahren. Vielleicht wird erst im Dunkel diese Stille richtig hörbar, und damit auch die aus ihr geborenen Sounds - einzelne Töne zunächst, ein Glockenspiel, gezupfte Saiten im Korpus des Flügels, die Bassdrum, die plötzlich ein Vakuum füllt mit Etwas, gleichermaßen schwer und weich, wie ein Fundament, auf das sich dissonante Akkordfolgen legen, immer rasantere, immer dynamischere Passagen, abgelöst von einem Innehalten, in dem die Leere wieder ihr Recht einfordert. Das Zusammentreffen des Schlagzeugers Tyshawn Sorey und der Pianistin Marilyn Crispell handelt von Stille und Zeit und Verzauberung: "The Adornment of Time" ist die Dokumentation eines Konzerts in der New Yorker Institution "The Kitchen". Saal und Bühne waren an diesem 21. Oktober 2018 fast komplett abgedunkelt; das Set dauerte 65 Minuten, und es ist kaum zu fassen, schon gar nicht in Worten, welcher Reichtum an Bewegungen und Stimmungen in dieser guten Stunde angehäuft wurde. Ein intensives Gespräch, das die Bedrängnisse des Semantischen hinter sich lässt - und doch im Abstrakten flirrende Bedeutungen schafft, Zärtlichkeit, Sehnsucht, Verwirrung, Tollheit, Verschmelzung.

Questlove, der ja auch nicht ganz untalentierte Schlagzeuger der Roots, hat Sorey einmal als seinen "drumming hero" bezeichnet - obwohl der Bewunderte fast zehn Jahre jünger ist als sein Verehrer. Questlove ist nicht der einzige, der seine schwärmerische Ader entdeckt, wenn es um den 1980 in Newark geborenen Sorey geht. Dabei ist es nicht nur Virtuosität, die ihm die Hochachtung anderer Musiker einträgt. Virtuos sind viele im weiten Feld des Jazz. Sorey ist in anderer Hinsicht eine der interessantesten Figuren: Der Multiinstrumentalist bewegt sich scheuklappenfrei in verschiedenen Szenen, glänzt als Sideman von Vijay Iyer, Steve Coleman oder Angelika Niescier und als Leader seines eigenen Trios. 2017 wurde er mit dem hochdotierten MacArthur-Genie-Preis ausgezeichnet. In seinen Kompositionen zeigt sich eine größere Nähe zu Neuer Musik als zum klassischen Jazz. Tatsächlich unterscheidet er nicht zwischen notierter und improvisierter Musik, und darin ähnelt er jenen Vätern und Müttern afroamerikanischer Avantgarde, die sich in den Sechzigern in Chicago um die Association for the Advancement of Creative Musicians gebildet hatte. Zu seinen Vorbildern gehören die Freigeister Wayne Shorter und Anthony Braxton - von letzterem hat er die Musik-Professur an der Wesleyan University übernommen. Hier kommt Marilyn Crispell ins Spiel: Sie war in den 80ern Teil des klassischen Quartetts von Anthony Braxton und zählt seit Jahrzehnten zu den Größen der Improvisationsszene. Sorey wollte unbedingt mit ihr zusammenarbeiten.

In seinen Liner Notes zu "The Adornment of Time" zitiert er Roscoe Mitchell: Um erfolgreich Musik in Echtzeit kreieren zu können, müsse man ein Verständnis für Komposition mitbringen. Die 1947 geborene Marilyn Crispell gehört für Sorey zu jenen, die Komponieren sowohl als formalen wie auch spontanen Akt begreifen. Das gemeinsame Album ist der beste Beleg dafür. Und zugleich für die Ebenbürtigkeit der beiden: Man weiß nicht immer, wer gerade Motive vorgibt, wer sich ins Unbekannte vorwagt, um das Gegenüber zu einer Erwiderung zu provozieren. Gerade der letzte Teil dieser mehrschichtigen Ad-hoc-Komposition hat in seinem elegischen, verschwenderisch schönen, traumhaften Charakter, in eine furiose Klangexplosion mündend, regelrecht zeitlos-klassische Qualität. Am Ende angekommen will man die Live-Aufnahme sofort von vorn hören, um vielleicht nicht zu verstehen, aber doch zu erleben, wie die beiden von einer Form der Stille zu einer anderen gelangt sind.

ULRICH RÜDENAUER

Tyshawn Sorey and Marilyn Crispell:

"The Adornment of Time".

Pi Recordings

Pi 83 (Über Import)

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