In Deutschland vor allem als 'finnischer Nationalkomponist' wahrgenommen, ist Jean Sibelius (geb. am 8. Dezember 1865) eher eine Gestalt europäischen Formats, der neben Mahler bedeutendste Sinfoniker des 20. Jahrhunderts. Mit Hilfe allgemeinverständlicher Werkeinführungen und bislang nicht übersetzter Primärquellen erzählt der Musikjournalist Volker Tarnow die Geschichte eines Originalgenies zwischen Romantik und Moderne, nordischer Naturmystik und Berliner Bohème.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In Sachen Sibelius ist noch immer viel zu tun, meint Rezensent Laurenz Lütteken auch nach der Lektüre dieser Biografie aus der Feder des Journalisten Volker Tarnow. Zum Beispiel, was die Entkoppelung von Werk und Leben angeht. In diesem Punkt kann der Autor laut Rezensent zwar überzeugend Adorno ignorieren, allerdings bloß um sogleich wieder heroenbiografisch die Gleichung von Leben und Werk zu beschwören. Für Lütteken ein Irrweg. Vermisst hat der Rezensent ein Literatur- oder Werkverzeichnis. Die Darstellung erscheint ihm flott, bei einzelnen Themen hätte er sich mehr inhaltliche Differenzierung gewünscht, so bei der Frage zum Verhältnis des Komponisten zu Nazideutschland.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2015Es rauscht die Natur im hohen Norden
Und der Lohn des Leids steht in D-Dur? Volker Tarnows Biographie von Jean Sibelius ist etwas sehr flott geraten
Es ist ebenso wohltuend wie überraschend: ein deutsches Buch über Jean Sibelius, in dem der Name Adornos nicht vorkommt - jedenfalls nicht ausdrücklich. Dabei haben die Polemiken von ihm und René Leibowitz, der Sibelius 1955 kurzerhand (wenn auch nicht unironisch) zum schlechtesten Komponisten der Welt erklärt hatte, die Wahrnehmung seiner Musik im deutschsprachigen Raum auf geradezu fatale Weise beschädigt: kein Buch, kein Artikel, der sich nicht wenigstens distanzierend darauf bezieht und damit den wüsten Tiraden einen kanonischen Rang einräumt, der ihnen gar nicht zukommt.
Der Journalist Volker Tarnow hat nun, zum Jubiläumsjahr 2015, eine kleine, sorgfältig recherchierte Biographie vorgelegt, die sich unbeeindruckt zeigt von derlei Lasten - und das ist sicher einer ihrer großen Vorzüge. Der Autor erzählt das Leben von Sibelius in ganz traditioneller Weise, nach dem Muster der Heroengeschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts die Doppelung von Leben und Werk beschwörend. Dabei benutzt er in lockerer Diktion zahlreiche Quellen, er bedient sich der umfangreichen, in ihrer Gesamtheit noch immer nicht übersetzten Standard-Biographie des Finnen Erik Tawaststjerna, er überblickt auch kleine Details, kurzum: Er will seinem Gegenstand ,Gerechtigkeit' widerfahren lassen.
Gleichwohl, die Gleichung von Leben und Werk wirft, jedenfalls in der hier vollzogenen unbedingten Überblendung, Fragen auf. So beginnt der Abschnitt über die zweite Sinfonie tatsächlich mit dem Satz: "Der Lohn seines Leidens in Italien ist die 2. Sinfonie in D-Dur", sie bilde "unwillkürlich und unvermeidlich jene Gefühlskurve nach, die Sibelius' Seelenleben" in Italien beschrieben habe. Dieser Kurzschluss zwischen "Seelenleben" und "Sinfonie", ein Lieblingsmotiv populärer Konzertführer, geht allerdings in die Irre, degradiert er das musikalische Kunstwerk doch zum bloßen Spiegel von Befindlichkeiten.
Natürlich sind Biographie und Schaffen auf eine enge, in der Musik auch besonders komplizierte Weise verflochten -, allerdings bilden Kompositionen nichts ab, sie vermögen dies auch gar nicht. So behauptet der Verfasser, die Vierte verdanke sich einem "Natureindruck" - und bedient damit ein schon in der Bruckner-Literatur reichlich verschlissenes Klischee von Unmittelbarkeit. Es wäre freilich zu schön, wenn rauschhafte Natureindrücke monumentale Orchesterwerke zeitigen würden.
Nicht nur in Adornos Polemik ist zu lesen, dass die Sinfonien von Sibelius etwas mit der finnischen Landschaft zu tun haben. Genau darüber macht sich der Verfasser gleich auf den ersten Seiten seines Buches, mit einigem Recht, lustig - um dann im Fortgang immer wieder genau an diesem Punkt anzukommen. In der neueren Sibelius-Literatur, etwa bei James Hepokoski oder Tomi Mäkäleä, ist man um die mühselige Entflechtung dieser am Ende trivialen, aber eben auch nicht hilfreichen Denkfigur bemüht. Wie weit Tarnow sich darauf bezieht, lässt sich allerdings nicht recht eruieren. Der Verlag war offenbar um maximale Optimierung des anscheinend begrenzten Platzes bemüht, so beginnt das Inhaltsverzeichnis bereits auf der Rückseite des Titelblatts - und es blieb kein Raum für ein Literatur- oder Werkverzeichnis. Die Drucktype von tabellarischem Lebenslauf, Anmerkungen und Register setzt einen Leser mit Lupe voraus.
In der arg flotten Darstellung kommt es zuweilen zu Stilblüten: So pflegte Kaiser Wilhelm II. "einen Nordlandfimmel", Hans von Bülow "führte den Taktstock wie ein Florett", die "große Nase" von Wilhelm Stenhammar belege dessen "guten Riecher für feine Nuancen" - und so fort. Diese Lust zur Pointe bleibt jedoch nicht ohne Folgen für die Sache selbst. So verblüfft die Feststellung, dass Sibelius neben Schönberg der einzige neuere Komponist von Rang mit soliden Kenntnissen im Violinspiel gewesen sei, als ob dies nicht auch für Elgar, Strauss oder Hindemith gälte. Dass Mahler und Strauss "geradezu sklavisch Wagners Leitmotiv-Technik" verwendeten, liest man mit ähnlicher Verblüffung wie die Feststellung, das C-Dur der Dritten wirke "total unzeitgemäß". Der Verfasser müht sich um einige Differenzierung im Blick auf das Verhältnis des Komponisten zum nationalsozialistischen Deutschland. Aber die entwaffnende Frage, ob die komplizierte Lage Sibelius und "gar seine Musik" schuldig spreche, fällt bedenklich in eine wenig hilfreiche Rhetorik des "Schwamm drüber" zurück. Es verwundert daher nicht wirklich, dass ausgerechnet die Geburtstagsglückwünsche, die Prokofjew zum Achtzigsten übermittelte, als erfreuliches und versöhnliches Signal bezeichnet werden.
Die Musik von Sibelius bildet noch immer eine Herausforderung, eben weil sie sich so vielen Kategorisierungen entzieht - und weil die zahlreichen Versuche, es mit Analogien zu Natur und Landschaft zu versuchen, kläglich gescheitert sind. Volker Tarnow ist von seinem Gegenstand angetan, er behauptet stolz, dass mit Sibelius "die wahre Avantgarde begann, die Musik der Zukunft". Man muss gewiss kein Verächter seiner Musik sein, um einer solchen Ehrenrettung mit Skepsis zu begegnen. Natürlich handelt es sich bei den Werken von Sibelius um Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Sinfonien gehören neben denen von Mahler, Schostakowitsch und Henze zu den bedeutendsten Corpora des vergangenen Jahrhunderts. Aber nach wie vor scheint viel zu tun, um diesen unbequemen, herausragenden Komponisten besser und genauer zu verstehen, auch hundertfünfzig Jahre nach seiner Geburt.
LAURENZ LÜTTEKEN
Volker Tarnow: "Sibelius". Biografie.
Verlagsgruppe Seemann Henschel, Leipzig 2015. 288 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und der Lohn des Leids steht in D-Dur? Volker Tarnows Biographie von Jean Sibelius ist etwas sehr flott geraten
Es ist ebenso wohltuend wie überraschend: ein deutsches Buch über Jean Sibelius, in dem der Name Adornos nicht vorkommt - jedenfalls nicht ausdrücklich. Dabei haben die Polemiken von ihm und René Leibowitz, der Sibelius 1955 kurzerhand (wenn auch nicht unironisch) zum schlechtesten Komponisten der Welt erklärt hatte, die Wahrnehmung seiner Musik im deutschsprachigen Raum auf geradezu fatale Weise beschädigt: kein Buch, kein Artikel, der sich nicht wenigstens distanzierend darauf bezieht und damit den wüsten Tiraden einen kanonischen Rang einräumt, der ihnen gar nicht zukommt.
Der Journalist Volker Tarnow hat nun, zum Jubiläumsjahr 2015, eine kleine, sorgfältig recherchierte Biographie vorgelegt, die sich unbeeindruckt zeigt von derlei Lasten - und das ist sicher einer ihrer großen Vorzüge. Der Autor erzählt das Leben von Sibelius in ganz traditioneller Weise, nach dem Muster der Heroengeschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts die Doppelung von Leben und Werk beschwörend. Dabei benutzt er in lockerer Diktion zahlreiche Quellen, er bedient sich der umfangreichen, in ihrer Gesamtheit noch immer nicht übersetzten Standard-Biographie des Finnen Erik Tawaststjerna, er überblickt auch kleine Details, kurzum: Er will seinem Gegenstand ,Gerechtigkeit' widerfahren lassen.
Gleichwohl, die Gleichung von Leben und Werk wirft, jedenfalls in der hier vollzogenen unbedingten Überblendung, Fragen auf. So beginnt der Abschnitt über die zweite Sinfonie tatsächlich mit dem Satz: "Der Lohn seines Leidens in Italien ist die 2. Sinfonie in D-Dur", sie bilde "unwillkürlich und unvermeidlich jene Gefühlskurve nach, die Sibelius' Seelenleben" in Italien beschrieben habe. Dieser Kurzschluss zwischen "Seelenleben" und "Sinfonie", ein Lieblingsmotiv populärer Konzertführer, geht allerdings in die Irre, degradiert er das musikalische Kunstwerk doch zum bloßen Spiegel von Befindlichkeiten.
Natürlich sind Biographie und Schaffen auf eine enge, in der Musik auch besonders komplizierte Weise verflochten -, allerdings bilden Kompositionen nichts ab, sie vermögen dies auch gar nicht. So behauptet der Verfasser, die Vierte verdanke sich einem "Natureindruck" - und bedient damit ein schon in der Bruckner-Literatur reichlich verschlissenes Klischee von Unmittelbarkeit. Es wäre freilich zu schön, wenn rauschhafte Natureindrücke monumentale Orchesterwerke zeitigen würden.
Nicht nur in Adornos Polemik ist zu lesen, dass die Sinfonien von Sibelius etwas mit der finnischen Landschaft zu tun haben. Genau darüber macht sich der Verfasser gleich auf den ersten Seiten seines Buches, mit einigem Recht, lustig - um dann im Fortgang immer wieder genau an diesem Punkt anzukommen. In der neueren Sibelius-Literatur, etwa bei James Hepokoski oder Tomi Mäkäleä, ist man um die mühselige Entflechtung dieser am Ende trivialen, aber eben auch nicht hilfreichen Denkfigur bemüht. Wie weit Tarnow sich darauf bezieht, lässt sich allerdings nicht recht eruieren. Der Verlag war offenbar um maximale Optimierung des anscheinend begrenzten Platzes bemüht, so beginnt das Inhaltsverzeichnis bereits auf der Rückseite des Titelblatts - und es blieb kein Raum für ein Literatur- oder Werkverzeichnis. Die Drucktype von tabellarischem Lebenslauf, Anmerkungen und Register setzt einen Leser mit Lupe voraus.
In der arg flotten Darstellung kommt es zuweilen zu Stilblüten: So pflegte Kaiser Wilhelm II. "einen Nordlandfimmel", Hans von Bülow "führte den Taktstock wie ein Florett", die "große Nase" von Wilhelm Stenhammar belege dessen "guten Riecher für feine Nuancen" - und so fort. Diese Lust zur Pointe bleibt jedoch nicht ohne Folgen für die Sache selbst. So verblüfft die Feststellung, dass Sibelius neben Schönberg der einzige neuere Komponist von Rang mit soliden Kenntnissen im Violinspiel gewesen sei, als ob dies nicht auch für Elgar, Strauss oder Hindemith gälte. Dass Mahler und Strauss "geradezu sklavisch Wagners Leitmotiv-Technik" verwendeten, liest man mit ähnlicher Verblüffung wie die Feststellung, das C-Dur der Dritten wirke "total unzeitgemäß". Der Verfasser müht sich um einige Differenzierung im Blick auf das Verhältnis des Komponisten zum nationalsozialistischen Deutschland. Aber die entwaffnende Frage, ob die komplizierte Lage Sibelius und "gar seine Musik" schuldig spreche, fällt bedenklich in eine wenig hilfreiche Rhetorik des "Schwamm drüber" zurück. Es verwundert daher nicht wirklich, dass ausgerechnet die Geburtstagsglückwünsche, die Prokofjew zum Achtzigsten übermittelte, als erfreuliches und versöhnliches Signal bezeichnet werden.
Die Musik von Sibelius bildet noch immer eine Herausforderung, eben weil sie sich so vielen Kategorisierungen entzieht - und weil die zahlreichen Versuche, es mit Analogien zu Natur und Landschaft zu versuchen, kläglich gescheitert sind. Volker Tarnow ist von seinem Gegenstand angetan, er behauptet stolz, dass mit Sibelius "die wahre Avantgarde begann, die Musik der Zukunft". Man muss gewiss kein Verächter seiner Musik sein, um einer solchen Ehrenrettung mit Skepsis zu begegnen. Natürlich handelt es sich bei den Werken von Sibelius um Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Sinfonien gehören neben denen von Mahler, Schostakowitsch und Henze zu den bedeutendsten Corpora des vergangenen Jahrhunderts. Aber nach wie vor scheint viel zu tun, um diesen unbequemen, herausragenden Komponisten besser und genauer zu verstehen, auch hundertfünfzig Jahre nach seiner Geburt.
LAURENZ LÜTTEKEN
Volker Tarnow: "Sibelius". Biografie.
Verlagsgruppe Seemann Henschel, Leipzig 2015. 288 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main