In diesem fesselnd geschriebenen Roman schildert Yehuda Elberg die ganze Welt des jüdischen Shetls: Heilige und Dummköpfe, Rabbis und Provinzpolitiker, Kaufleute und Tagelöhner, trullige Trinen und törichte Tröpfe. Der alltägliche Überlebenskampf in einer polnischen Kleinstadt der 30er Jahre, die politisch, religiösen und wirtschaftlichen Spannungen sind der Hintergrund für diesen farbenfrohen Roman, in dessen Mittelpunkt Kalman der Krüppel, steht. Er kann seine körperlichen Defizite durch Intelligenz, Wendigkeit, einen zähen Willen und eine bisweilen überraschende Gnadenlosigkeit. Anfangs ein kleiner Krämer, baut er binnen weniger Jahre ein Imperium auf. Seinen Weg zur Macht kennzeichnen Lüge und Betrug, sogar vor einem Mord schreckt er nicht zurück. Mit zunehmendem Erfolg wird er - für seine Umwelt und manchmal auch für ihn selbst unerklärlich - menschlicher und mitfühlender. Doch er kommt der Tag, an dem diese Welt zerstört wird...
Yehuda Elbergs Roman "Kalman der Krüppel"
"Di erd do is geven fet, die sangen (Ähren) olyf die felder ful un shver, die beymer in di gertner frukhperdik, un in di vaser hobn nisht gefelt keyn fish." Mit der Beschreibung einer paradiesischen, fruchtschweren Landschaft an der Weichsel beginnt Yehuda Elbergs Roman "Kalman der Krüppel" im 1983 in Tel Aviv erschienenen jiddischen Original. Die deutsche Übersetzung hingegen hebt an mit Tod und Traditionsbruch: "Der Gemeindeälteste Reb Jona Schwerdl hinterließ bei seinem Tode nur einen einzigen Erben, seinen Enkel Kalman, und pflichtschuldig sprach dieser am offenen Grab das Kaddisch. Doch als die Bewohner des Ortes, wie es Brauch war, zum Haus des Verstorbenen kamen, um das Abendgebet zu sprechen, blieb ihnen die Tür verschlossen."
Man ist versucht, diesen radikalen Unterschied in der Eröffnung eines Romans über das wechselhafte Schicksal einer jüdischen Familie zwischen 1860 und 1933 auf seine historische und kulturelle Bedeutung abzuklopfen. Mit der deutschen Sprache, in der das Jiddische seine Anfänge hat, ist auch die Auslöschung der jiddischen Kultur verknüpft. Einen in den achtziger Jahren verfassten jiddischen Roman in deutscher Sprache mit einer Idylle beginnen zu lassen verwiese diesen sogleich in den Bereich der Nostalgie und bezichtigte den Autor großer Naivität.
Yehuda Elberg ist alles andere als historisch naiv. Er wurde 1912 im polnischen Zgierz in eine rabbinische Familie geboren und selbst zum Rabbiner ordiniert. Während des Zweiten Weltkriegs gehörte er dem jüdischen Untergrund an. Nach dem Krieg gründete er einen Schriftstellerverband und eine jiddische Zeitung, "Dos nave leben". Er verließ Polen 1948 und wohnte zunächst in New York und seit 1956 in Montréal (Kanada), wo es noch heute ein aktives jiddisches Kulturleben gibt. Schon 1951 publizierte der Tsentralfarband fun poylishe yidn in Argentine einen Band mit Elbergs Erzählungen. Erst ein Vierteljahrhundert später aber legte Elberg ein längeres Werk vor. Der unsentimentale, doch tief bewegende Roman "Oyfn shpits fun mast" (1974) schildert das Schicksal einer polnisch-jüdischen Familie im Holocaust. In seinem zweiten Roman, "Kalkam kalekes imoerye" (Das Reich Kalmans des Krüppels), hat sich Elberg dem in der Erinnerung romantisierten jüdischen Dorf, dem shtetl, zugewandt.
Im Zentrum des Geschehens steht Kalman, der als Kind durch Krankheit gelähmt und so zum Krüppel wurde. Erbarmungslos gehänselt, früh verwaist und von einem lieblosen Großvater erzogen, glaubt Kalman der Welt Brutalität mit Brutalität vergelten zu müssen. Durch rücksichtslose Geschäftspraktiken, die ihn wohlhabend und unabhängig machen, will er beweisen, dass für ihn Gefühle keine Bedeutung haben und dass ein blitzgescheiter Krüppel einem gesunden Holzkopf noch allemal überlegen ist.
Durch einen Zufall verkehrt sich ein rachsüchtiger Streich Kalmans in eine gute Tat, die weitere, nun halb beabsichtigte gute Taten nach sich zieht. Ganz allmählich löst sich Kalmans misanthropische Verkrampfung. Doch bleibt er sich seiner Gespaltenheit bewusst. Nach außen hin mausert sich der erfolgreiche Kaufmann zum Wohltäter. Tief innen aber, so gesteht er seinem einzigen Freund Berisch, steckt noch immer Kalman Kaleke und "wartet auf den richtigen Augenblick, um sich auf seine Opfer zu stürzen". Nur in rastloser Geschäftigkeit kann er sich selbst aushalten. Als Berisch ihm rät, etwas kürzer zu treten, erwidert Kalman: "Berisch, wenn ich nichts habe, worüber ich nachdenken kann, werde ich krank."
Kalmans sehnlichster Wunsch ist es, etwas Großes zu schaffen und zu vererben. "Noch etwas, Berisch. Ich warte auf gute Nachrichten von Resel. Ich baue ein Imperium auf und brauche eine Dynastie, der ich alles vererben kann." Als sich bei Resel ein Sohn einstellt, ist Kalman schon tot. Er wurde überrollt von einem Lastwagen, einem Instrument seines Reichtums. Am Tag der Beschneidung, dem 30. Januar 1933, ernennt Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Mit dem Satz "Reichskanzler Hitler wurde zum Führer Deutschlands" endet die deutsche Fassung. Das jiddische Original ist weniger neutral: "Raykhskantsler Hitler hot ibergenumen di makht."
Kalmans Dynastie hat keine Zukunft. In dieser Hinsicht ist sie eine Parabel für die jiddische Literatur. Zum Zeitpunkt ihres ersten Erblühens als Medium einer modernen europäischen Literatur, zum Zeitpunkt, als eine erstmals an künstlerisch reifer jiddischer Literatur geschulte Generation von Dichtern und Schriftstellern zu schreiben begann, wurden ihre Träger in die Ghettos verbannt und ermordet. Von ihrer Zerstörung hat sich die jiddische Literatur, Elberg zum Trotz, nicht wieder erholt.
Warum also die radikale Divergenz in den Anfängen der jiddischen und der deutschen Ausgabe? Die deutsche Übersetzung von Xenia Osthelder beruht auf der von Elberg selbst 1997 vorgenommenen Übersetzung ins Englische, denn begnadete Übersetzer vom Jiddischen ins Deutsche, wie einst den großen Alexander Eliaberg, gibt es nicht mehr. In Elbergs Überarbeitung für eine nichtjiddischsprachige Leserschaft steht der Tod am Anfang und Ende. Dieser Rahmen dient Elberg als kulturelle Metapher und befriedigt außerdem formal-ästhetische Kriterien. Überhaupt betont Elbergs Überarbeitung die formal-literarischen Elemente der Familiensaga und des Bildungsromans (etwa in der psychologischen Motivierung des Helden), die dem englischen oder deutschen Leser ganz vertraut sind.
Die jiddische Leserschaft hingegen spricht Elberg ganz anders an. Kein jiddischer Leser wird Elbergs eröffnende Idylle lesen, ohne nicht sofort an die erste Seite von Mendele Moicher Sfurims Klassiker "Fischke der Krumme" (1869) zu denken, der mit dem Satz anhebt: "Wenn die helle Sommersonne über das Land zu scheinen beginnt, wenn die Menschen sich wie neugeboren fühlen und ihre Herzen sich beim Anblick der schönen Welt Gottes freuen, dann fängt bei den Juden die eigentliche Zeit der Wehmut an, die Zeit des Weinens und Klagens." Mendeles Protagonist, ein Buchhändler, sitzt auf seinem armseligen Wägelchen hinter einer dürren Mähre und beschreibt die idyllische Sommerlandschaft um ihn herum, die er aber nicht genießen darf, weil er als frommer Jude an diesem Fastentag der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Babylonier gedenken soll. Mendeles scharfe Satire kritisiert die Absurdität des frommen jüdischen Lebens und ermahnt das jüdische Volk, seinen Horizont zu erweitern. Mendele geht es nie, wie seinen europäischen Schriftstellerkollegen, um die psychische Entwicklung des Einzelnen, sondern immer nur um das Wohlergehen des jüdischen Kollektivs.
Wenn Elberg also im jiddischen Auftakt seines Romans Mendele zitiert, dann deutet er damit an, dass auch Kalman nicht als Individuum, sondern als Vertreter des jüdischen Volkes zu verstehen ist. In der Tat erklärt Elberg diesen Ansatz im letzten Drittel seiner Überarbeitung: "Wenn es je eine lebende Parabel für das Schicksal des jüdischen Volkes gab, dann seine Person, Kalman den Krüppel, Kalman Kaleke. Die Nationen der Welt hassen den Juden und verfolgen ihn, wie die Jungen im Cheder ihn gehasst und ihm sein Leben zur Qual hatten werden lassen. Der Lehrer forderte sie auf, Mitleid mit dem hilflosen Kind zu haben. Doch die Menschen schauen auf Schwächlinge herab. Je feiger der Einzelne, umso mehr lässt er seine Enttäuschung an jemandem aus, der schwächer ist als er, und macht ihm zum Sündenbock für seine Probleme. Wenn alle Juden wie er, Kalman Kaleke, wären und jedes Unrecht, das man ihnen antut, rächten, wäre das Ende aller antisemitischen Übergriffe gekommen."
In der deutschen Fassung (deren Glossar eine Anzahl peinlichster Fehler aufweist) hat Elberg eine jüdische Familiensaga vorgelegt, die das polnische shtetl noch einmal (etwas nostalgisch vergoldet) zum Leben erweckt. Im jiddischen Kontext aber ist Elbergs Roman als radikale Ermahnung an das noch verbliebene jüdische Volk zu verstehen. "Eigentlich sollten alle Juden wie Brocken scharfen Meerrettichs sein, gerade so wie er, Kalman Kaleke."
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Yehuda Elberg: "Kalman der Krüppel". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Xenia Osthelder. Rotbuch Verlag, Berlin 1999. 440 S., geb., 48,- DM.
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