Es geht um alles oder nichts in diesen Geschichten. Sie handeln vom Unglück, frei zu sein. Von einem Ort, an dem keiner freiwillig ist und der dennoch zur Heimat wird. Von einem erfolglosen Drehbuchautor der Gegenwart, der in das Hollywood des Jahres 1973 katapultiert wird, um die berühmteste Filmidee des 20. Jahrhunderts zu stehlen. Und nicht zuletzt eine Erzählung aus dem Universum des Romans >Vom Ende der Einsamkeit<, die Licht auf ein dunkles Familiengeheimnis wirft.
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»Ein Ausnahmetalent in der jungen deutschen Literatur.« Claudio Armbruster / ZDF ZDF
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2019Ertrunken in der Limonade
Erfindungsreich, aber nur mäßig überzeugend: Erzählungen von Benedict Wells
Die harte Wahrheit über das Lügen lautet, dass es keine Rolle spielt. Zumindest in künstlerischer Hinsicht. Selbst wenn alle Dichter platonisch lügen, macht nicht das Erfinden den Schriftsteller aus, sondern Stil, Klang, Sprachspiel, mitschwingender Sinn, Erfahrung. Es lässt sich kaum behaupten, dass sich die inhaltlich wie formal disparaten, allesamt harmlosen Erzählungen von Benedict Wells - was sich in zehn Jahren eben so ansammelt, sogar Auslektoriertes aus seinem Roman "Vom Ende der Einsamkeit" ist dabei - in auch nur einer der genannten Kategorien sonderlich hervortäten. Dafür gehen sie sämtlich mit ihrer Konstruktion hausieren, mit Konzepten, Ideen, der sogenannten Kreativität. Das Zuviel an Setting kann den Mangel an Literarizität aber nicht ausgleichen. Dass der Diogenes Verlag diese teils in schülerhafter Manier ausgeführten Schreibübungen als Hardcover druckt, darf verwundern.
Da gibt es Allegorien ohne jeden semantischen Unterbau wie die ins Reale gewendete, tragische Liebelei einer Jungautorin mit ihrer (hier männlichen) Muse oder das nächtliche Hauen und Stechen in einer Bibliothek, weil sich die Bücher nicht auf eine Gutenachtgeschichte einigen können. Proust träumt "von einem ganzen Berg von Madeleines", Hemingway flattert fluchend mit den Seiten, und Shakespeare betont, oft ausgeliehen zu werden: "woraufhin jemand erwiderte: ,Ja, aber nur von gelangweilten Schulklassen', was einige Lacher provozierte". Das ginge in seiner Plattheit nicht einmal in Creative-writing-Kursen an der Volkshochschule durch.
Auch der neueste Text überzeugt nicht. In leicht surrealer Zuspitzung erzählt er von einem Karrieremann, der sein Leben verpasst hat. Ordentlich ist der Einfall, den Helden während einer Wanderung zum - was sonst? - Gipfel auf einen jahrzehntelangen, ihm jedoch nur wie wenige Stunden dauernd vorkommenden Irrweg zu schicken. Dieser Manager aber, einen großen Deal einfädelnd, bleibt allzu ausgedachte Klischeefigur. Die Einfühlung wirkt unbeholfen: "er hasste es, einmal gefasste Beschlüsse zu verwerfen". Mehr als Klischeemoral ergibt sich dann auch nicht: "jetzt, allein in dem matschigen Wald, musste er sich eingestehen, dass er ein schlechter Vater gewesen war". Auch die übrigen Figuren in diesem Buch sind vor allem Behauptungen, ein selbstgefälliger Verleger, eine einsame Seniorin, die um ihren Kater trauert, ein Tischtennisspieler, der in der Unfreiheit seiner Lehrjahre am glücklichsten war. Niemandem kommt man näher, weil nirgends echtes Leben ist.
Die Naivität ist keine intendierte, sie ergibt sich aus kindisch schlichten Sätzen ("War da nicht gerade ein Geräusch gewesen?" - "Das Wasser aus dem Hahn war eiskalt." - "Verzweifelt streckte er noch seine Hand nach ihr aus.") und aus der Kunstlosigkeit, mit der ihnen Symbolisches angetackert wird. Jede Metapher marschiert hier mit Ansage ein. Geht es um das alte Patriarchat, um toxische Männlichkeit, wie das heute heißt, ertränkt der Protagonist "spielerisch" eine Fliege, die sich nach langer Strampelei in der Limonade gerade auf den Strohhalm gerettet hatte. Herrje.
Drei Texte ragen dann doch ein wenig heraus. Neben Erinnerungen an Internatszeiten, in denen nichts geschieht, aber alles erlebnisgesättigt wirkt, ist das die Abschlusserzählung "Hunderttausend", die auf recht feinfühlige Weise von einer späten Aussprache zwischen Vater und Sohn handelt. Diesmal wird die Symbolik sogar inhaltlich aufgefangen, denn die Figuren selbst thematisieren, dass sie seit dreißig Jahren, dem Suizid der Mutter, auf das Umspringen des Tachostands auf lauter Nullen warten. Der Neuanfang geschieht auch, aber nicht ganz ohne Komplikationen.
Am pfiffigsten ist sicherlich die lange Titelerzählung. Sie wendet die Obsession des Sciencefiction-Genres in Bezug auf alternative Realitäten amüsant gegen sich selbst, denn hier gesteht der fiktive Hollywood-Produzent Adrian Brooks einem Journalisten, dass eigentlich nicht er, sondern ein kaum noch bekannter George Lucas "Star Wars" erfunden habe. Durch eine zufällige Zeitreise à la "Zurück in die Zukunft" aber konnte der "Star Wars"Fan-Brooks ihm die Idee vor der Nase wegschnappen. Diese lockere Parodie, die literarisch auch nicht eben in die Tiefe geht, lebt davon, dass nun ein guter Teil der Filmgeschichte witzig umgeschrieben wird, Brooks aber bald vor allem daran interessiert ist, seine "Star Wars"-Filme so genau wie möglich als Kopien der Originale in seinem Kopf anzulegen. Vielleicht hat ja einst ein heute unbekannter Autor vom Schlage Clemens Setz die vorliegenden Erzählungen verfasst, sprachlich funkelnd und philosophisch ansprechend, bis Benedict Wells, der Jüngste aus dem Von-Schirach-Clan, der hierzulande die Bestsellerlisten vollschreibt, sie mittels Zeitreise entwendete, aber dann nicht mehr ordentlich zusammengesetzt bekam.
OLIVER JUNGEN
Benedict Wells:
"Die Wahrheit über das
Lügen". Zehn Geschichten.
Diogenes Verlag, Zürich 2018. 235 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erfindungsreich, aber nur mäßig überzeugend: Erzählungen von Benedict Wells
Die harte Wahrheit über das Lügen lautet, dass es keine Rolle spielt. Zumindest in künstlerischer Hinsicht. Selbst wenn alle Dichter platonisch lügen, macht nicht das Erfinden den Schriftsteller aus, sondern Stil, Klang, Sprachspiel, mitschwingender Sinn, Erfahrung. Es lässt sich kaum behaupten, dass sich die inhaltlich wie formal disparaten, allesamt harmlosen Erzählungen von Benedict Wells - was sich in zehn Jahren eben so ansammelt, sogar Auslektoriertes aus seinem Roman "Vom Ende der Einsamkeit" ist dabei - in auch nur einer der genannten Kategorien sonderlich hervortäten. Dafür gehen sie sämtlich mit ihrer Konstruktion hausieren, mit Konzepten, Ideen, der sogenannten Kreativität. Das Zuviel an Setting kann den Mangel an Literarizität aber nicht ausgleichen. Dass der Diogenes Verlag diese teils in schülerhafter Manier ausgeführten Schreibübungen als Hardcover druckt, darf verwundern.
Da gibt es Allegorien ohne jeden semantischen Unterbau wie die ins Reale gewendete, tragische Liebelei einer Jungautorin mit ihrer (hier männlichen) Muse oder das nächtliche Hauen und Stechen in einer Bibliothek, weil sich die Bücher nicht auf eine Gutenachtgeschichte einigen können. Proust träumt "von einem ganzen Berg von Madeleines", Hemingway flattert fluchend mit den Seiten, und Shakespeare betont, oft ausgeliehen zu werden: "woraufhin jemand erwiderte: ,Ja, aber nur von gelangweilten Schulklassen', was einige Lacher provozierte". Das ginge in seiner Plattheit nicht einmal in Creative-writing-Kursen an der Volkshochschule durch.
Auch der neueste Text überzeugt nicht. In leicht surrealer Zuspitzung erzählt er von einem Karrieremann, der sein Leben verpasst hat. Ordentlich ist der Einfall, den Helden während einer Wanderung zum - was sonst? - Gipfel auf einen jahrzehntelangen, ihm jedoch nur wie wenige Stunden dauernd vorkommenden Irrweg zu schicken. Dieser Manager aber, einen großen Deal einfädelnd, bleibt allzu ausgedachte Klischeefigur. Die Einfühlung wirkt unbeholfen: "er hasste es, einmal gefasste Beschlüsse zu verwerfen". Mehr als Klischeemoral ergibt sich dann auch nicht: "jetzt, allein in dem matschigen Wald, musste er sich eingestehen, dass er ein schlechter Vater gewesen war". Auch die übrigen Figuren in diesem Buch sind vor allem Behauptungen, ein selbstgefälliger Verleger, eine einsame Seniorin, die um ihren Kater trauert, ein Tischtennisspieler, der in der Unfreiheit seiner Lehrjahre am glücklichsten war. Niemandem kommt man näher, weil nirgends echtes Leben ist.
Die Naivität ist keine intendierte, sie ergibt sich aus kindisch schlichten Sätzen ("War da nicht gerade ein Geräusch gewesen?" - "Das Wasser aus dem Hahn war eiskalt." - "Verzweifelt streckte er noch seine Hand nach ihr aus.") und aus der Kunstlosigkeit, mit der ihnen Symbolisches angetackert wird. Jede Metapher marschiert hier mit Ansage ein. Geht es um das alte Patriarchat, um toxische Männlichkeit, wie das heute heißt, ertränkt der Protagonist "spielerisch" eine Fliege, die sich nach langer Strampelei in der Limonade gerade auf den Strohhalm gerettet hatte. Herrje.
Drei Texte ragen dann doch ein wenig heraus. Neben Erinnerungen an Internatszeiten, in denen nichts geschieht, aber alles erlebnisgesättigt wirkt, ist das die Abschlusserzählung "Hunderttausend", die auf recht feinfühlige Weise von einer späten Aussprache zwischen Vater und Sohn handelt. Diesmal wird die Symbolik sogar inhaltlich aufgefangen, denn die Figuren selbst thematisieren, dass sie seit dreißig Jahren, dem Suizid der Mutter, auf das Umspringen des Tachostands auf lauter Nullen warten. Der Neuanfang geschieht auch, aber nicht ganz ohne Komplikationen.
Am pfiffigsten ist sicherlich die lange Titelerzählung. Sie wendet die Obsession des Sciencefiction-Genres in Bezug auf alternative Realitäten amüsant gegen sich selbst, denn hier gesteht der fiktive Hollywood-Produzent Adrian Brooks einem Journalisten, dass eigentlich nicht er, sondern ein kaum noch bekannter George Lucas "Star Wars" erfunden habe. Durch eine zufällige Zeitreise à la "Zurück in die Zukunft" aber konnte der "Star Wars"Fan-Brooks ihm die Idee vor der Nase wegschnappen. Diese lockere Parodie, die literarisch auch nicht eben in die Tiefe geht, lebt davon, dass nun ein guter Teil der Filmgeschichte witzig umgeschrieben wird, Brooks aber bald vor allem daran interessiert ist, seine "Star Wars"-Filme so genau wie möglich als Kopien der Originale in seinem Kopf anzulegen. Vielleicht hat ja einst ein heute unbekannter Autor vom Schlage Clemens Setz die vorliegenden Erzählungen verfasst, sprachlich funkelnd und philosophisch ansprechend, bis Benedict Wells, der Jüngste aus dem Von-Schirach-Clan, der hierzulande die Bestsellerlisten vollschreibt, sie mittels Zeitreise entwendete, aber dann nicht mehr ordentlich zusammengesetzt bekam.
OLIVER JUNGEN
Benedict Wells:
"Die Wahrheit über das
Lügen". Zehn Geschichten.
Diogenes Verlag, Zürich 2018. 235 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main