William Henry »Hank« Devereaux Jr. ist Vorsitzender der Englischfakultät einer kleinen Universität in Pennsylvania und daran gewöhnt, sich den Ernst des Lebens mit den Waffen der Ironie vom Leib zu halten. Eigentlich ist er ein gemachter Mann. Er ist glücklich verheiratet, Vater zweier Töchter, hat vor Jahren einen Roman veröffentlicht, der immerhin ein Kritikererfolg war, und bestimmt die Geschicke der Universität entscheidend mit. Eigentlich. Denn auf einmal kommt diese eine Woche, in der wirklich alles schiefgeht: Hank gerät mit seinen Kollegen aneinander, die Fakultät ist von Budgetkürzungen bedroht, er zweifelt an seiner Ehe, und dann ist da noch die Sache mit seiner Prostata ...'Mittelalte Männer' ist die Charakterstudie eines Mannes um die fünfzig, der gern den Weg des geringsten Widerstands geht und schließlich doch einsehen muss, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als Verantwortung zu übernehmen. Ein hochkomischer Roman, der die Absurdität des Lebens illustriert, aberauch Raum lässt für abgründige Beobachtungen - ein klassischer Russo mit Herz, Hintersinn und Humor.
»[Ein] durchgängig witzige[r], lebenskluge[r] und menschenfreundliche[r] Roman.« Martin Ebel, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Spät übersetzt, aber rechtzeitig: Richard Russos 'Mittelalte Männer' trifft die Gegenwart aus der Vergangenheit.« Jan Wiele, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Realismus gepaart mit Slapstick und mit einer so köstlich weisen Selbstironie erzählt, dass beim Lesen das anfangs stille Amüsement in hörbares Glucksen übergeht. [...] Ein herrlich ironischer Roman mit einem Hauch Melancholie und einem dem Genre entsprechend alles andere als tragischen Ende.« Jutta Duhm-Heitzmann, WDR 3 BUCHKRITIK »Richard Russo gehört unbedingt zu den Schriftstellern, an deren Sound man sich so gewöhnt, dass man, wenn eines seiner Bücher ausgelesen ist, ein anderes von ihm lesen möchte.« Annemarie Stoltenberg, NDR KULTUR »Richard Russo ist ein Spezialist für die schmale Gratwanderung zwischen Komik und Tragik. [Seine] Kunst besteht darin, seine unperfekten Helden mit Sympathie und empathischem Blick zu schildern, ohne sie zu verharmlosen.« Christoph Schröder, SWR 2 LESENSWERT »So versteckt weise (das auch noch), so brillant erzählt, dass der 72-jährige New Yorker einer der amerikanischen Kandidaten für den Nobelpreis ist / sein muss / sollte / könnte.« Peter Pisa, KURIER »Famose Dialoge schreibt er, kreiert hinreißende Szenarien, erschafft satirische Zerrfiguren, die er nie bösartig denunziert. Das Ganze: ein absurdes Panoptikum eines falschen Lebens im falschen Sein. Und zugleich anrührend patiniert.« Alexander Kluy, DER STANDARD »In einer Gegenwart, in der Wut und Empörung zu positiv konnotierten Begriffen geworden sind und Ironie als Beschwichtigungsinstrument der herrschenden Klasse diskreditiert wird, ist die fein polierte Haltungslosigkeit dieses Romans ein luxuriöses Vergnügen.« Christoph Schröder, DER TAGESSPIEGEL »Dass der Pulitzerpreisträger Russo sich in die Tradition großer US-Erzähler eingereiht hat, hat er längst bewiesen. "Mittelalte Männer", ein Frühwerk aus dem Jahr 1997, ist dafür ein glänzendes Beispiel.« Doris Kraus, DIE PRESSE AM SONNTAG »Einen guten Schriftsteller zeichnet aus, dass er das Unspektakuläre, Alltägliche zu Literatur veredeln kann. So gesehen ist der Pulitzer-Preisträger Richard Russo kein guter, sondern ein exzellenter Schriftsteller.« Michael Hirz, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Ein Klassiker von Richard Russo, erstmals auf Deutsch. Richard Russo ist ein kluger Beobachter des amerikanischen Alltags Jochen Overbeck, MUSIKEXPRESS »Richard Russo zu lesen ist immer wieder eine Freude.« Welf Grombacher, FREIE PRESSE »Weil Russo immer tief in die Gedankenwelt seiner Figuren eintaucht und er seine Geschichten stets mit viel Witz erzählt, macht das Lesen dieses 600-Seiten-Wälzers ganz einfach Spaß.« Andreas Schröter, RUHR NACHRICHTEN »Ironisch-entlarvend, aber mit Liebe für sein Personal spießt der frühere Collegeprofessor das Campusmilieu in schreiend komischen Szenen auf.« Doris Kraus, DIE PRESSE »Das ist wieder Satire mit viel Menschenfreundlichkeit und Tiefgang in voller Breite.« Stefanie Wirsching; AUGSBURGER ALLGEMEINE ZEITUNG »[Russo schreibt] mit abgründigem Humor [...], mit Hintersinn und großer Menschenliebe. Dabei scheut er weder Peinlichkeit noch Sarkasmus, weder Sentimentalität noch Komik.« Jeanette Stickler, MANNHEIMER MORGEN »[Man] darf sich darauf verlassen, dass Richard Russo eher selten schlechte oder enttäuschende Bücher schreibt.« Thomas Thelen, AACHENER NACHRICHTEN »Ein großartiger Roman über die Zumutungen des Lebens und über die Skurrilitäten männlicher Befindlichkeit.« Jeanette Stickler BÜCHERMAGAZIN »Gutes Lesen hat einen Namen: Richard Russo!« Bruder Gerold Zenoni, SALVE »Großartig pointiert und böse« Lore Kleinert, NEUE BUCHTIPPS.DE
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2021Torten ins Gesicht
Schon 1997 wurde genderkorrekt gesprochen: Richard Russos Campus-Roman „Mittelalte Männer“ ist eine Zeitreise mit Slapstick-Elementen
Wenn ein US-Autor heute einen Campus-Roman schriebe, käme der wohl nicht ohne einen krassen, nicht aufzuklärenden Skandal aus, in dessen Zentrum ein Starprofessor steht, der wegen eines sprachlichen „Fehlverhaltens“ mit Shitstorm und Pranger bestraft und vermutlich entlassen wird. Richard Russos „Mittelalte Männer“ ist ein Campus-Roman ohne die genannten Skandal-Ingredienzien – das englische Original stammt schließlich aus dem Jahr 1997, und da ging es an dem College der fiktiven Kleinstadt Railston, Pennsylvania, vergleichsweise friedlich zu. Zwar gibt es schon ein „Sexuelle-Belästigungs-Komitee“ und sogar einen Dozenten, der auf genderkorrekten Sprachgebrauch pocht: Wann immer in einer Sitzung das männliche Pronomen gebraucht wird, fügt er ein „oder sie“ hinzu. Weshalb er mit dem Spitznamen „Odersie“ bedacht wird.
Harmlose Zeiten waren das, 24 Jahre vor unseren Tagen, in denen auch an hiesigen Universitäten das Gendern zur Vorschrift geworden ist, zum Schibboleth – es trennt Gut und Böse, Freund und Feind; was inklusiv gemeint war, bewirkt Ausgrenzung. Der genannte „Odersie“ im Roman ist übrigens spezialisiert auf die Analyse von TV-Sitcoms, weil er Bücher für „phallozentrisch“ hält. Seine Studenten dürfen ihre Essays nicht in Schriftform, sondern nur als Videokassetten abgeben. Eine zukunftsträchtige Figur.
Auch in einem anderen Punkt lässt Russos Campus-Welt weit vorausblicken: Die Wissenschaftler haben sich in den Schutzräumen ihrer Methoden verbarrikadiert – heute würden wir sie „Filterblasen“ nennen – und kein Interesse mehr an Austausch und Debatte. Die Studenten lernen das Argumentieren dann auch nicht mehr: „Wenn ihre Professorinnen und Professoren – ob Feministinnen, Marxisten, Historismusvertreter oder andere Gruppen von Theoretikern – misstrauischen, geschlossenen intellektuellen Zirkeln angehören, denen es weniger daran gelegen ist, miteinander zu reden, als ihr Revier abzustecken und ihre eigene Agenda zu verfolgen, warum sollten sie dann das Debattieren erlernen?“
So muss William Henry Devereaux jr., genannt Hank, Leiter des anglistischen Fachbereichs an der „West Central Pennsylvania University“ und Ich-Erzähler des Romans, seufzend feststellen: Das College ist (höchstens) zweitklassig, das Kollegium heillos zerstritten. Die Dozenten sind mittelmäßig und rekrutieren Mittelmaß: „Jemand Hochkarätigen einzustellen hieße, Vergleichen mit uns, die wir nicht hochkarätig waren, Tür und Tor zu öffnen.“ Die Studenten sind unbegabt, faul oder beides, dazu fordernd und streitsüchtig. All diese Befunde haben Hank aber nicht zum Zyniker gemacht, sondern zum fröhlichen Anarchisten. Nichts bereitet ihm mehr Freude, als Sand ins Verwaltungsgetriebe zu streuen, Chaos zu verbreiten und mit überraschenden Repliken seine Kollegen zu provozieren, zeitgemäß formuliert: ihre Gefühle zu verletzen.
Hank kennt all ihre Schmerzpunkte und drückt gern auf ihnen herum. Bei Gracie DuBois ist es etwa der (erfolglose) Lyrikband, auf den sie so stolz ist. Vor Wut schlägt sie nach Hank mit einem Notizblock, dessen oberes Spiralende sich in seine Nase bohrt, die darauf unmäßig anschwillt: ein physischer Schmerzpunkt. Hank zieht sich eine Scherznase darüber und verblüfft so verfremdet ein zufällig anwesendes Team des Lokalfernsehens: Er packt am Teich des Campus eine der herumwatschelnden Gänse am Hals und droht, täglich einen Vogel umzubringen, bis er endlich sein Budget bekommt.
Der Auftritt kommt natürlich nicht nur im Lokalfernsehen, sondern auch landesweit in „Good Morning America“ und macht Hank zur Hassfigur von Tierschützern, aber auch zum Helden des von Kürzungen bedrohten Fachbereichs. Natürlich nur vorübergehend, denn eigentlich vermuten die Kollegen, dass er für den Dekan längst eine Liste der verzichtbaren Dozenten erstellt hat.
Zwar hält Hank tatsächlich viele für verzichtbar, aber für eine solche Liste gibt er sich nicht her. Da er die Zweifel an sich jedoch bewusst nicht ausräumt, setzen ihn die Kollegen als Fachbereichsleiter ab – in einer Sitzung, der er von einem Hohlraum in der Decke aus heimlich beiwohnt. Dorthin war er geflüchtet, nachdem er sich im Schlaf eingepinkelt hatte – Hanks Harnstau gehört zu den Running Gags.
Nicht pinkeln zu können, ist nicht lustig, darüber zu lesen hingegen schon. Hank erzählt von den Treffern, die er bei seiner Mitwelt landet, ebenso wie von seinen Missgeschicken, als führe er einen Laurel & Hardy-Stummfilm vor, in dem ständig jemand ausrutscht oder Torten ins Gesicht bekommt. Es ist seine Methode, der Langeweile der akademischen Provinz zu entfliehen, aber auch dem, was eine tiefere Selbstbefragung zutage fördern würde. Bestehe „der Zweck geistiger Kultiviertheit nicht zuletzt darin, Distanz zwischen uns und unsere beunruhigendsten Erkenntnisse und nagendste Ängste zu schaffen“?
Hinter dem Slapstick verbirgt sich, wie im klassischen Stummfilm, eine tiefe Melancholie. Und dahinter wiederum das nicht minder tiefe Einverständnis mit dem Leben als große Flickschusterei, in dem man, wenn schon nichts passiert, selbst für ein bisschen Unterhaltung sorgen muss – und sei es durch gezieltes Chaos.
Richard Russo hat einst selbst an Provinz-Colleges unterrichtet, sein Railston ist der Kleinstadt Altoona in Pennsylvania nachempfunden, die ebenfalls einst als Eisenbahnknotenpunkt aufblühte und dann in Depression versank. Russo-Leser kennen solche ausgepowerten Städte und ihre Bewohner, die die Chancen nutzen, die sie längst nicht mehr haben, aus seinen Romanen wie „Nobody’s Fool“ oder „Empire Falls“. Die Verfilmung des Ersteren hat Russo finanzielle Unabhängigkeit eingebracht, der zweite 2002 den Pulitzer-Preis.
Erst mit großer Verspätung hat sein Werk nach und nach durch sorgfältige Betreuung durch den Dumont-Verlag den Weg zum deutschen Leserpublikum gefunden. Die Übersetzung von Monika Köpfer liest sich flüssig, wenn auch manche Pointe, mancher „esprit de repartie“ etwas schwerfällig daher kommt. Den zeitlichen Abstand zwischen Original und Übersetzung erkennt man leicht amüsiert an den Verrenkungen, die zwischen dem korrekten „Studenten“ und dem politisch korrekten „Studierenden“ vollzogen wird, mal heißt es so, mal so. Ebenso treffen wir auf „Demonstranten“, „Protestierende“ und „Demonstrierende“ – was Hank, verstünde er Deutsch, sicher zu einem Bonmot inspiriert hätte. Aber solch verlegene Zugeständnisse an den Zeitgeist vermindern das Vergnügen an diesem vielleicht etwas zu langen, aber durchgängig witzigen, lebensklugen und menschenfreundlichen Roman kein bisschen.
MARTIN EBEL
Richard Russo:
Mittelalte Männer.
Roman. Aus dem
Englischen von
Monika Köpfer.
Dumont, Köln 2021.
604 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schon 1997 wurde genderkorrekt gesprochen: Richard Russos Campus-Roman „Mittelalte Männer“ ist eine Zeitreise mit Slapstick-Elementen
Wenn ein US-Autor heute einen Campus-Roman schriebe, käme der wohl nicht ohne einen krassen, nicht aufzuklärenden Skandal aus, in dessen Zentrum ein Starprofessor steht, der wegen eines sprachlichen „Fehlverhaltens“ mit Shitstorm und Pranger bestraft und vermutlich entlassen wird. Richard Russos „Mittelalte Männer“ ist ein Campus-Roman ohne die genannten Skandal-Ingredienzien – das englische Original stammt schließlich aus dem Jahr 1997, und da ging es an dem College der fiktiven Kleinstadt Railston, Pennsylvania, vergleichsweise friedlich zu. Zwar gibt es schon ein „Sexuelle-Belästigungs-Komitee“ und sogar einen Dozenten, der auf genderkorrekten Sprachgebrauch pocht: Wann immer in einer Sitzung das männliche Pronomen gebraucht wird, fügt er ein „oder sie“ hinzu. Weshalb er mit dem Spitznamen „Odersie“ bedacht wird.
Harmlose Zeiten waren das, 24 Jahre vor unseren Tagen, in denen auch an hiesigen Universitäten das Gendern zur Vorschrift geworden ist, zum Schibboleth – es trennt Gut und Böse, Freund und Feind; was inklusiv gemeint war, bewirkt Ausgrenzung. Der genannte „Odersie“ im Roman ist übrigens spezialisiert auf die Analyse von TV-Sitcoms, weil er Bücher für „phallozentrisch“ hält. Seine Studenten dürfen ihre Essays nicht in Schriftform, sondern nur als Videokassetten abgeben. Eine zukunftsträchtige Figur.
Auch in einem anderen Punkt lässt Russos Campus-Welt weit vorausblicken: Die Wissenschaftler haben sich in den Schutzräumen ihrer Methoden verbarrikadiert – heute würden wir sie „Filterblasen“ nennen – und kein Interesse mehr an Austausch und Debatte. Die Studenten lernen das Argumentieren dann auch nicht mehr: „Wenn ihre Professorinnen und Professoren – ob Feministinnen, Marxisten, Historismusvertreter oder andere Gruppen von Theoretikern – misstrauischen, geschlossenen intellektuellen Zirkeln angehören, denen es weniger daran gelegen ist, miteinander zu reden, als ihr Revier abzustecken und ihre eigene Agenda zu verfolgen, warum sollten sie dann das Debattieren erlernen?“
So muss William Henry Devereaux jr., genannt Hank, Leiter des anglistischen Fachbereichs an der „West Central Pennsylvania University“ und Ich-Erzähler des Romans, seufzend feststellen: Das College ist (höchstens) zweitklassig, das Kollegium heillos zerstritten. Die Dozenten sind mittelmäßig und rekrutieren Mittelmaß: „Jemand Hochkarätigen einzustellen hieße, Vergleichen mit uns, die wir nicht hochkarätig waren, Tür und Tor zu öffnen.“ Die Studenten sind unbegabt, faul oder beides, dazu fordernd und streitsüchtig. All diese Befunde haben Hank aber nicht zum Zyniker gemacht, sondern zum fröhlichen Anarchisten. Nichts bereitet ihm mehr Freude, als Sand ins Verwaltungsgetriebe zu streuen, Chaos zu verbreiten und mit überraschenden Repliken seine Kollegen zu provozieren, zeitgemäß formuliert: ihre Gefühle zu verletzen.
Hank kennt all ihre Schmerzpunkte und drückt gern auf ihnen herum. Bei Gracie DuBois ist es etwa der (erfolglose) Lyrikband, auf den sie so stolz ist. Vor Wut schlägt sie nach Hank mit einem Notizblock, dessen oberes Spiralende sich in seine Nase bohrt, die darauf unmäßig anschwillt: ein physischer Schmerzpunkt. Hank zieht sich eine Scherznase darüber und verblüfft so verfremdet ein zufällig anwesendes Team des Lokalfernsehens: Er packt am Teich des Campus eine der herumwatschelnden Gänse am Hals und droht, täglich einen Vogel umzubringen, bis er endlich sein Budget bekommt.
Der Auftritt kommt natürlich nicht nur im Lokalfernsehen, sondern auch landesweit in „Good Morning America“ und macht Hank zur Hassfigur von Tierschützern, aber auch zum Helden des von Kürzungen bedrohten Fachbereichs. Natürlich nur vorübergehend, denn eigentlich vermuten die Kollegen, dass er für den Dekan längst eine Liste der verzichtbaren Dozenten erstellt hat.
Zwar hält Hank tatsächlich viele für verzichtbar, aber für eine solche Liste gibt er sich nicht her. Da er die Zweifel an sich jedoch bewusst nicht ausräumt, setzen ihn die Kollegen als Fachbereichsleiter ab – in einer Sitzung, der er von einem Hohlraum in der Decke aus heimlich beiwohnt. Dorthin war er geflüchtet, nachdem er sich im Schlaf eingepinkelt hatte – Hanks Harnstau gehört zu den Running Gags.
Nicht pinkeln zu können, ist nicht lustig, darüber zu lesen hingegen schon. Hank erzählt von den Treffern, die er bei seiner Mitwelt landet, ebenso wie von seinen Missgeschicken, als führe er einen Laurel & Hardy-Stummfilm vor, in dem ständig jemand ausrutscht oder Torten ins Gesicht bekommt. Es ist seine Methode, der Langeweile der akademischen Provinz zu entfliehen, aber auch dem, was eine tiefere Selbstbefragung zutage fördern würde. Bestehe „der Zweck geistiger Kultiviertheit nicht zuletzt darin, Distanz zwischen uns und unsere beunruhigendsten Erkenntnisse und nagendste Ängste zu schaffen“?
Hinter dem Slapstick verbirgt sich, wie im klassischen Stummfilm, eine tiefe Melancholie. Und dahinter wiederum das nicht minder tiefe Einverständnis mit dem Leben als große Flickschusterei, in dem man, wenn schon nichts passiert, selbst für ein bisschen Unterhaltung sorgen muss – und sei es durch gezieltes Chaos.
Richard Russo hat einst selbst an Provinz-Colleges unterrichtet, sein Railston ist der Kleinstadt Altoona in Pennsylvania nachempfunden, die ebenfalls einst als Eisenbahnknotenpunkt aufblühte und dann in Depression versank. Russo-Leser kennen solche ausgepowerten Städte und ihre Bewohner, die die Chancen nutzen, die sie längst nicht mehr haben, aus seinen Romanen wie „Nobody’s Fool“ oder „Empire Falls“. Die Verfilmung des Ersteren hat Russo finanzielle Unabhängigkeit eingebracht, der zweite 2002 den Pulitzer-Preis.
Erst mit großer Verspätung hat sein Werk nach und nach durch sorgfältige Betreuung durch den Dumont-Verlag den Weg zum deutschen Leserpublikum gefunden. Die Übersetzung von Monika Köpfer liest sich flüssig, wenn auch manche Pointe, mancher „esprit de repartie“ etwas schwerfällig daher kommt. Den zeitlichen Abstand zwischen Original und Übersetzung erkennt man leicht amüsiert an den Verrenkungen, die zwischen dem korrekten „Studenten“ und dem politisch korrekten „Studierenden“ vollzogen wird, mal heißt es so, mal so. Ebenso treffen wir auf „Demonstranten“, „Protestierende“ und „Demonstrierende“ – was Hank, verstünde er Deutsch, sicher zu einem Bonmot inspiriert hätte. Aber solch verlegene Zugeständnisse an den Zeitgeist vermindern das Vergnügen an diesem vielleicht etwas zu langen, aber durchgängig witzigen, lebensklugen und menschenfreundlichen Roman kein bisschen.
MARTIN EBEL
Richard Russo:
Mittelalte Männer.
Roman. Aus dem
Englischen von
Monika Köpfer.
Dumont, Köln 2021.
604 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Wiele staunt über die prophetischen Wahrheiten in Richard Russos Campus-Novel von 1997. Über den Niedergang einer Universität in einem fiktiven Ort in Pennsylvania, über akademischen Argwohn und Rache, Cancel-Kultur und den "alten weißen Mann" in Person eines zornigen Professors schreibt Russo so frisch, als wär der Roman eben fertig, meint Wiele. Spannend, sarkastisch, grotesk und voll kleiner Unterromane stellt sich der Text dem Rezensenten dar. Wie erheiternd echt Russo die Uni-Belegschaft schildert, das könnte Philip Roth nicht besser, glaubt Wiele.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Dieser Schuss zielt aufs Herz
Spät übersetzt, aber rechtzeitig: Richard Russos Campusroman "Mittelalte Männer" trifft die Gegenwart aus der Vergangenheit.
Von Jan Wiele
Dass der geisteswissenschaftliche Betrieb ein Haifischbecken ist, blitzte auch früher schon manchmal in der Öffentlichkeit auf - aber seit sich dieser Betrieb auch in den sogenannten sozialen Medien tummelt, treten seine menschlichen Abgründe oft umso deutlicher hervor. Was in diesen Abgründen an gutem Romanstoff steckt, hat man in der deutschsprachigen Literatur noch immer nicht annähernd begriffen: Der Campusroman bleibt, unverständlicherweise, eine Ausnahme, erst recht der gelungene, der wirklich von den Fragen eines "akademischen Lebens" handelt und nicht nur den Campus als Setting für Krimis oder Unterhaltungsliteratur benutzt (F.A.Z. vom 13. März 2017).
Solange das so ist, freut man sich über Ausnahmen und greift zurück auf die Campusromane aus anderen Ländern, vor allem aus anglophonen. Auch diese haben inzwischen weit mehr zu bieten als David Lodge und Philip Roth. Etwa die Bücher von Elif Batuman - oder, in Deutschland leider weiterhin ein Geheimtipp, obwohl sein Werk seit Langem in Übersetzung bei DuMont erscheint, von Richard Russo, dem 1949 im Staat New York Geborenen, der für seinen Roman "Empire Falls" (1992, deutsch: "Diese gottverdammten Träume", 2016) den Pulitzer-Preis erhalten hat. Warum in Russos übersetztem Werk bislang ein gewichtiges Buch fehlte - "Straight Man", im Original 1997 erschienen -, ist kaum verständlich, besonders, weil man es eigentlich mit Philip Roths wenig später veröffentlichtem, Furore machenden Campusroman "The Human Stain" (2000, deutsch: "Der menschliche Makel", 2002) hätte zusammensehen müssen. Beide beschreiben, wie universitäres Lehren und Lernen zunehmend bedroht wird von Geringschätzung und Cancel-Geist, dann ersetzt durch Weltanschauung - bei Roth eine ziemlich ernste Angelegenheit, bei Russo eher eine Farce.
Aber auch, wenn es mit der Übersetzung von "Straight Man", dem aus der Ich-Perspektive erzählten Roman eines Literaturprofessors auf einem Provinzcampus in Pennsylvania, nun fast ein Vierteljahrhundert gedauert hat, kommt sie nicht vollends zu spät. Weil sich vieles von dem, was Russo in seiner Fiktion damals beschrieben hat, hier erst jetzt bewahrheitet. Und so lesen wir, im Titel adaptiert an die inzwischen erfolgte Kritik am "alten weißen Mann", den besagten Roman endlich auf Deutsch als "Mittelalte Männer".
Zurück also ins Haifischbecken: dass auch der Campus der fiktiven West Central Pennsylvania University im fiktiven Railton ein solches ist, begreifen die Leser schon auf den ersten Seiten. Die Stimmung im Kollegium sei von Argwohn, Misstrauen und Rachsucht geprägt, heißt es. Aber nicht nur das: In einem Interview hat Russo gesagt, man wisse, sobald amerikanische Bildungseinrichtungen erst einmal "Southern", "Northern", "Eastern" oder "Western" im Titel führen, dass sie "wildly underfunded", also krass unterfinanziert seien. Das trifft auch im Roman zu, und so zittern alle in Railton, dieser von Russo mit springsteenhafter Melancholie in ihrem Niedergang beschriebenen, prototypischen amerikanischen Kleinstadt an einer "Gleisharfe", am Ende jedes Semesters vor der Bewilligung neuer Mittel - und akut vor einer "Rasur" der Belegschaft um zwanzig Prozent, die als Gerücht die Runde macht.
Sie bringt den Erzähler, William Henry Devereaux, Jr., als Fachbereichsleiter in eine ebenso verantwortungsvolle wie beargwöhnte Position. Fahrt nimmt die Erzählung auf, als er sich vor den Kameras eines Fernsehteams spontan echauffiert und ankündigt, an jedem weiteren Tag ohne bewilligtes Budget eine Ente aus dem Campusteich zu töten. Sein Auftritt wird, was man heute viral nennt, sorgt für Bewunderung des Scherzes, aber auch für Proteste von Tierschützern, die ihn ernst nehmen. Als dann tatsächlich Federvieh getötet wird, man weiß noch nicht, von wem, setzt dies ein Begehren zur Amtsenthebung des Professors in Gang, dessen Ergebnis Russo so kunstvoll hinauszögert, dass es sehr spannend wird und ebenso grotesk.
Das ist aber noch nicht annähernd alles, was Russos Roman ausmacht. Er enthält Unterromane über mehrere Ehen, über die Geschichte der Akademikerfamilie Devereaux und über sexuelle Belästigung an der Universität. Der Sarkasmus, mit dem der Erzähler diesen Themen begegnet, ist bisweilen provokant, heute mehr denn je - in der Aus- und Bloßstellung seiner Figur liegt der größte Reiz des Romans. "Lucky Hank" Devereaux wird, mit seinen sehr ausführlich beschriebenen gesundheitlichen Problemen rund um einen Blasenstein, der auch ein Tumor sein könnte, sowie zahlreichen Eigenschaften, die ihn manchen Mitmenschen als arrogantes "Judas-Arschloch" erscheinen lassen, bestimmt nicht für alle zur Identifikationsfigur - aber auch abgrenzende Lektüre kann ja Gewinn bringen.
Was an diesem Roman noch mehr erheitert und erschüttert als seine Hauptfabel, sind die en passant geschilderten Charakteristika der Belegschaft einer durchschnittlichen, kurz vor ihrem Untergang stehenden geisteswissenschaftlichen Fakultät, und erst recht die ihrer Studenten: "Als Gruppe scheinen sie zu glauben, dass moralische Entrüstung sämtliche Schwächen in Sachen Interpunktion, Orthographie, Grammatik, Logik und Stil locker aufwiegt. Eine Meinung, die sonst nur noch von der Kulturlandschaft unterstützt wird." Es ist nicht die einzige Stelle, an der man sich die Augen reibt angesichts der prophetischen Fähigkeiten Richard Russos.
Richard Russo: "Mittelalte Männer". Roman.
Aus dem Englischen von Monika Köpfer. DuMont Buchverlag, Köln 2021. 605 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spät übersetzt, aber rechtzeitig: Richard Russos Campusroman "Mittelalte Männer" trifft die Gegenwart aus der Vergangenheit.
Von Jan Wiele
Dass der geisteswissenschaftliche Betrieb ein Haifischbecken ist, blitzte auch früher schon manchmal in der Öffentlichkeit auf - aber seit sich dieser Betrieb auch in den sogenannten sozialen Medien tummelt, treten seine menschlichen Abgründe oft umso deutlicher hervor. Was in diesen Abgründen an gutem Romanstoff steckt, hat man in der deutschsprachigen Literatur noch immer nicht annähernd begriffen: Der Campusroman bleibt, unverständlicherweise, eine Ausnahme, erst recht der gelungene, der wirklich von den Fragen eines "akademischen Lebens" handelt und nicht nur den Campus als Setting für Krimis oder Unterhaltungsliteratur benutzt (F.A.Z. vom 13. März 2017).
Solange das so ist, freut man sich über Ausnahmen und greift zurück auf die Campusromane aus anderen Ländern, vor allem aus anglophonen. Auch diese haben inzwischen weit mehr zu bieten als David Lodge und Philip Roth. Etwa die Bücher von Elif Batuman - oder, in Deutschland leider weiterhin ein Geheimtipp, obwohl sein Werk seit Langem in Übersetzung bei DuMont erscheint, von Richard Russo, dem 1949 im Staat New York Geborenen, der für seinen Roman "Empire Falls" (1992, deutsch: "Diese gottverdammten Träume", 2016) den Pulitzer-Preis erhalten hat. Warum in Russos übersetztem Werk bislang ein gewichtiges Buch fehlte - "Straight Man", im Original 1997 erschienen -, ist kaum verständlich, besonders, weil man es eigentlich mit Philip Roths wenig später veröffentlichtem, Furore machenden Campusroman "The Human Stain" (2000, deutsch: "Der menschliche Makel", 2002) hätte zusammensehen müssen. Beide beschreiben, wie universitäres Lehren und Lernen zunehmend bedroht wird von Geringschätzung und Cancel-Geist, dann ersetzt durch Weltanschauung - bei Roth eine ziemlich ernste Angelegenheit, bei Russo eher eine Farce.
Aber auch, wenn es mit der Übersetzung von "Straight Man", dem aus der Ich-Perspektive erzählten Roman eines Literaturprofessors auf einem Provinzcampus in Pennsylvania, nun fast ein Vierteljahrhundert gedauert hat, kommt sie nicht vollends zu spät. Weil sich vieles von dem, was Russo in seiner Fiktion damals beschrieben hat, hier erst jetzt bewahrheitet. Und so lesen wir, im Titel adaptiert an die inzwischen erfolgte Kritik am "alten weißen Mann", den besagten Roman endlich auf Deutsch als "Mittelalte Männer".
Zurück also ins Haifischbecken: dass auch der Campus der fiktiven West Central Pennsylvania University im fiktiven Railton ein solches ist, begreifen die Leser schon auf den ersten Seiten. Die Stimmung im Kollegium sei von Argwohn, Misstrauen und Rachsucht geprägt, heißt es. Aber nicht nur das: In einem Interview hat Russo gesagt, man wisse, sobald amerikanische Bildungseinrichtungen erst einmal "Southern", "Northern", "Eastern" oder "Western" im Titel führen, dass sie "wildly underfunded", also krass unterfinanziert seien. Das trifft auch im Roman zu, und so zittern alle in Railton, dieser von Russo mit springsteenhafter Melancholie in ihrem Niedergang beschriebenen, prototypischen amerikanischen Kleinstadt an einer "Gleisharfe", am Ende jedes Semesters vor der Bewilligung neuer Mittel - und akut vor einer "Rasur" der Belegschaft um zwanzig Prozent, die als Gerücht die Runde macht.
Sie bringt den Erzähler, William Henry Devereaux, Jr., als Fachbereichsleiter in eine ebenso verantwortungsvolle wie beargwöhnte Position. Fahrt nimmt die Erzählung auf, als er sich vor den Kameras eines Fernsehteams spontan echauffiert und ankündigt, an jedem weiteren Tag ohne bewilligtes Budget eine Ente aus dem Campusteich zu töten. Sein Auftritt wird, was man heute viral nennt, sorgt für Bewunderung des Scherzes, aber auch für Proteste von Tierschützern, die ihn ernst nehmen. Als dann tatsächlich Federvieh getötet wird, man weiß noch nicht, von wem, setzt dies ein Begehren zur Amtsenthebung des Professors in Gang, dessen Ergebnis Russo so kunstvoll hinauszögert, dass es sehr spannend wird und ebenso grotesk.
Das ist aber noch nicht annähernd alles, was Russos Roman ausmacht. Er enthält Unterromane über mehrere Ehen, über die Geschichte der Akademikerfamilie Devereaux und über sexuelle Belästigung an der Universität. Der Sarkasmus, mit dem der Erzähler diesen Themen begegnet, ist bisweilen provokant, heute mehr denn je - in der Aus- und Bloßstellung seiner Figur liegt der größte Reiz des Romans. "Lucky Hank" Devereaux wird, mit seinen sehr ausführlich beschriebenen gesundheitlichen Problemen rund um einen Blasenstein, der auch ein Tumor sein könnte, sowie zahlreichen Eigenschaften, die ihn manchen Mitmenschen als arrogantes "Judas-Arschloch" erscheinen lassen, bestimmt nicht für alle zur Identifikationsfigur - aber auch abgrenzende Lektüre kann ja Gewinn bringen.
Was an diesem Roman noch mehr erheitert und erschüttert als seine Hauptfabel, sind die en passant geschilderten Charakteristika der Belegschaft einer durchschnittlichen, kurz vor ihrem Untergang stehenden geisteswissenschaftlichen Fakultät, und erst recht die ihrer Studenten: "Als Gruppe scheinen sie zu glauben, dass moralische Entrüstung sämtliche Schwächen in Sachen Interpunktion, Orthographie, Grammatik, Logik und Stil locker aufwiegt. Eine Meinung, die sonst nur noch von der Kulturlandschaft unterstützt wird." Es ist nicht die einzige Stelle, an der man sich die Augen reibt angesichts der prophetischen Fähigkeiten Richard Russos.
Richard Russo: "Mittelalte Männer". Roman.
Aus dem Englischen von Monika Köpfer. DuMont Buchverlag, Köln 2021. 605 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Torten ins Gesicht
Schon 1997 wurde genderkorrekt gesprochen: Richard Russos Campus-Roman „Mittelalte Männer“ ist eine Zeitreise mit Slapstick-Elementen
Wenn ein US-Autor heute einen Campus-Roman schriebe, käme der wohl nicht ohne einen krassen, nicht aufzuklärenden Skandal aus, in dessen Zentrum ein Starprofessor steht, der wegen eines sprachlichen „Fehlverhaltens“ mit Shitstorm und Pranger bestraft und vermutlich entlassen wird. Richard Russos „Mittelalte Männer“ ist ein Campus-Roman ohne die genannten Skandal-Ingredienzien – das englische Original stammt schließlich aus dem Jahr 1997, und da ging es an dem College der fiktiven Kleinstadt Railston, Pennsylvania, vergleichsweise friedlich zu. Zwar gibt es schon ein „Sexuelle-Belästigungs-Komitee“ und sogar einen Dozenten, der auf genderkorrekten Sprachgebrauch pocht: Wann immer in einer Sitzung das männliche Pronomen gebraucht wird, fügt er ein „oder sie“ hinzu. Weshalb er mit dem Spitznamen „Odersie“ bedacht wird.
Harmlose Zeiten waren das, 24 Jahre vor unseren Tagen, in denen auch an hiesigen Universitäten das Gendern zur Vorschrift geworden ist, zum Schibboleth – es trennt Gut und Böse, Freund und Feind; was inklusiv gemeint war, bewirkt Ausgrenzung. Der genannte „Odersie“ im Roman ist übrigens spezialisiert auf die Analyse von TV-Sitcoms, weil er Bücher für „phallozentrisch“ hält. Seine Studenten dürfen ihre Essays nicht in Schriftform, sondern nur als Videokassetten abgeben. Eine zukunftsträchtige Figur.
Auch in einem anderen Punkt lässt Russos Campus-Welt weit vorausblicken: Die Wissenschaftler haben sich in den Schutzräumen ihrer Methoden verbarrikadiert – heute würden wir sie „Filterblasen“ nennen – und kein Interesse mehr an Austausch und Debatte. Die Studenten lernen das Argumentieren dann auch nicht mehr: „Wenn ihre Professorinnen und Professoren – ob Feministinnen, Marxisten, Historismusvertreter oder andere Gruppen von Theoretikern – misstrauischen, geschlossenen intellektuellen Zirkeln angehören, denen es weniger daran gelegen ist, miteinander zu reden, als ihr Revier abzustecken und ihre eigene Agenda zu verfolgen, warum sollten sie dann das Debattieren erlernen?“
So muss William Henry Devereaux jr., genannt Hank, Leiter des anglistischen Fachbereichs an der „West Central Pennsylvania University“ und Ich-Erzähler des Romans, seufzend feststellen: Das College ist (höchstens) zweitklassig, das Kollegium heillos zerstritten. Die Dozenten sind mittelmäßig und rekrutieren Mittelmaß: „Jemand Hochkarätigen einzustellen hieße, Vergleichen mit uns, die wir nicht hochkarätig waren, Tür und Tor zu öffnen.“ Die Studenten sind unbegabt, faul oder beides, dazu fordernd und streitsüchtig. All diese Befunde haben Hank aber nicht zum Zyniker gemacht, sondern zum fröhlichen Anarchisten. Nichts bereitet ihm mehr Freude, als Sand ins Verwaltungsgetriebe zu streuen, Chaos zu verbreiten und mit überraschenden Repliken seine Kollegen zu provozieren, zeitgemäß formuliert: ihre Gefühle zu verletzen.
Hank kennt all ihre Schmerzpunkte und drückt gern auf ihnen herum. Bei Gracie DuBois ist es etwa der (erfolglose) Lyrikband, auf den sie so stolz ist. Vor Wut schlägt sie nach Hank mit einem Notizblock, dessen oberes Spiralende sich in seine Nase bohrt, die darauf unmäßig anschwillt: ein physischer Schmerzpunkt. Hank zieht sich eine Scherznase darüber und verblüfft so verfremdet ein zufällig anwesendes Team des Lokalfernsehens: Er packt am Teich des Campus eine der herumwatschelnden Gänse am Hals und droht, täglich einen Vogel umzubringen, bis er endlich sein Budget bekommt.
Der Auftritt kommt natürlich nicht nur im Lokalfernsehen, sondern auch landesweit in „Good Morning America“ und macht Hank zur Hassfigur von Tierschützern, aber auch zum Helden des von Kürzungen bedrohten Fachbereichs. Natürlich nur vorübergehend, denn eigentlich vermuten die Kollegen, dass er für den Dekan längst eine Liste der verzichtbaren Dozenten erstellt hat.
Zwar hält Hank tatsächlich viele für verzichtbar, aber für eine solche Liste gibt er sich nicht her. Da er die Zweifel an sich jedoch bewusst nicht ausräumt, setzen ihn die Kollegen als Fachbereichsleiter ab – in einer Sitzung, der er von einem Hohlraum in der Decke aus heimlich beiwohnt. Dorthin war er geflüchtet, nachdem er sich im Schlaf eingepinkelt hatte – Hanks Harnstau gehört zu den Running Gags.
Nicht pinkeln zu können, ist nicht lustig, darüber zu lesen hingegen schon. Hank erzählt von den Treffern, die er bei seiner Mitwelt landet, ebenso wie von seinen Missgeschicken, als führe er einen Laurel & Hardy-Stummfilm vor, in dem ständig jemand ausrutscht oder Torten ins Gesicht bekommt. Es ist seine Methode, der Langeweile der akademischen Provinz zu entfliehen, aber auch dem, was eine tiefere Selbstbefragung zutage fördern würde. Bestehe „der Zweck geistiger Kultiviertheit nicht zuletzt darin, Distanz zwischen uns und unsere beunruhigendsten Erkenntnisse und nagendste Ängste zu schaffen“?
Hinter dem Slapstick verbirgt sich, wie im klassischen Stummfilm, eine tiefe Melancholie. Und dahinter wiederum das nicht minder tiefe Einverständnis mit dem Leben als große Flickschusterei, in dem man, wenn schon nichts passiert, selbst für ein bisschen Unterhaltung sorgen muss – und sei es durch gezieltes Chaos.
Richard Russo hat einst selbst an Provinz-Colleges unterrichtet, sein Railston ist der Kleinstadt Altoona in Pennsylvania nachempfunden, die ebenfalls einst als Eisenbahnknotenpunkt aufblühte und dann in Depression versank. Russo-Leser kennen solche ausgepowerten Städte und ihre Bewohner, die die Chancen nutzen, die sie längst nicht mehr haben, aus seinen Romanen wie „Nobody’s Fool“ oder „Empire Falls“. Die Verfilmung des Ersteren hat Russo finanzielle Unabhängigkeit eingebracht, der zweite 2002 den Pulitzer-Preis.
Erst mit großer Verspätung hat sein Werk nach und nach durch sorgfältige Betreuung durch den Dumont-Verlag den Weg zum deutschen Leserpublikum gefunden. Die Übersetzung von Monika Köpfer liest sich flüssig, wenn auch manche Pointe, mancher „esprit de repartie“ etwas schwerfällig daher kommt. Den zeitlichen Abstand zwischen Original und Übersetzung erkennt man leicht amüsiert an den Verrenkungen, die zwischen dem korrekten „Studenten“ und dem politisch korrekten „Studierenden“ vollzogen wird, mal heißt es so, mal so. Ebenso treffen wir auf „Demonstranten“, „Protestierende“ und „Demonstrierende“ – was Hank, verstünde er Deutsch, sicher zu einem Bonmot inspiriert hätte. Aber solch verlegene Zugeständnisse an den Zeitgeist vermindern das Vergnügen an diesem vielleicht etwas zu langen, aber durchgängig witzigen, lebensklugen und menschenfreundlichen Roman kein bisschen.
MARTIN EBEL
Richard Russo:
Mittelalte Männer.
Roman. Aus dem
Englischen von
Monika Köpfer.
Dumont, Köln 2021.
604 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schon 1997 wurde genderkorrekt gesprochen: Richard Russos Campus-Roman „Mittelalte Männer“ ist eine Zeitreise mit Slapstick-Elementen
Wenn ein US-Autor heute einen Campus-Roman schriebe, käme der wohl nicht ohne einen krassen, nicht aufzuklärenden Skandal aus, in dessen Zentrum ein Starprofessor steht, der wegen eines sprachlichen „Fehlverhaltens“ mit Shitstorm und Pranger bestraft und vermutlich entlassen wird. Richard Russos „Mittelalte Männer“ ist ein Campus-Roman ohne die genannten Skandal-Ingredienzien – das englische Original stammt schließlich aus dem Jahr 1997, und da ging es an dem College der fiktiven Kleinstadt Railston, Pennsylvania, vergleichsweise friedlich zu. Zwar gibt es schon ein „Sexuelle-Belästigungs-Komitee“ und sogar einen Dozenten, der auf genderkorrekten Sprachgebrauch pocht: Wann immer in einer Sitzung das männliche Pronomen gebraucht wird, fügt er ein „oder sie“ hinzu. Weshalb er mit dem Spitznamen „Odersie“ bedacht wird.
Harmlose Zeiten waren das, 24 Jahre vor unseren Tagen, in denen auch an hiesigen Universitäten das Gendern zur Vorschrift geworden ist, zum Schibboleth – es trennt Gut und Böse, Freund und Feind; was inklusiv gemeint war, bewirkt Ausgrenzung. Der genannte „Odersie“ im Roman ist übrigens spezialisiert auf die Analyse von TV-Sitcoms, weil er Bücher für „phallozentrisch“ hält. Seine Studenten dürfen ihre Essays nicht in Schriftform, sondern nur als Videokassetten abgeben. Eine zukunftsträchtige Figur.
Auch in einem anderen Punkt lässt Russos Campus-Welt weit vorausblicken: Die Wissenschaftler haben sich in den Schutzräumen ihrer Methoden verbarrikadiert – heute würden wir sie „Filterblasen“ nennen – und kein Interesse mehr an Austausch und Debatte. Die Studenten lernen das Argumentieren dann auch nicht mehr: „Wenn ihre Professorinnen und Professoren – ob Feministinnen, Marxisten, Historismusvertreter oder andere Gruppen von Theoretikern – misstrauischen, geschlossenen intellektuellen Zirkeln angehören, denen es weniger daran gelegen ist, miteinander zu reden, als ihr Revier abzustecken und ihre eigene Agenda zu verfolgen, warum sollten sie dann das Debattieren erlernen?“
So muss William Henry Devereaux jr., genannt Hank, Leiter des anglistischen Fachbereichs an der „West Central Pennsylvania University“ und Ich-Erzähler des Romans, seufzend feststellen: Das College ist (höchstens) zweitklassig, das Kollegium heillos zerstritten. Die Dozenten sind mittelmäßig und rekrutieren Mittelmaß: „Jemand Hochkarätigen einzustellen hieße, Vergleichen mit uns, die wir nicht hochkarätig waren, Tür und Tor zu öffnen.“ Die Studenten sind unbegabt, faul oder beides, dazu fordernd und streitsüchtig. All diese Befunde haben Hank aber nicht zum Zyniker gemacht, sondern zum fröhlichen Anarchisten. Nichts bereitet ihm mehr Freude, als Sand ins Verwaltungsgetriebe zu streuen, Chaos zu verbreiten und mit überraschenden Repliken seine Kollegen zu provozieren, zeitgemäß formuliert: ihre Gefühle zu verletzen.
Hank kennt all ihre Schmerzpunkte und drückt gern auf ihnen herum. Bei Gracie DuBois ist es etwa der (erfolglose) Lyrikband, auf den sie so stolz ist. Vor Wut schlägt sie nach Hank mit einem Notizblock, dessen oberes Spiralende sich in seine Nase bohrt, die darauf unmäßig anschwillt: ein physischer Schmerzpunkt. Hank zieht sich eine Scherznase darüber und verblüfft so verfremdet ein zufällig anwesendes Team des Lokalfernsehens: Er packt am Teich des Campus eine der herumwatschelnden Gänse am Hals und droht, täglich einen Vogel umzubringen, bis er endlich sein Budget bekommt.
Der Auftritt kommt natürlich nicht nur im Lokalfernsehen, sondern auch landesweit in „Good Morning America“ und macht Hank zur Hassfigur von Tierschützern, aber auch zum Helden des von Kürzungen bedrohten Fachbereichs. Natürlich nur vorübergehend, denn eigentlich vermuten die Kollegen, dass er für den Dekan längst eine Liste der verzichtbaren Dozenten erstellt hat.
Zwar hält Hank tatsächlich viele für verzichtbar, aber für eine solche Liste gibt er sich nicht her. Da er die Zweifel an sich jedoch bewusst nicht ausräumt, setzen ihn die Kollegen als Fachbereichsleiter ab – in einer Sitzung, der er von einem Hohlraum in der Decke aus heimlich beiwohnt. Dorthin war er geflüchtet, nachdem er sich im Schlaf eingepinkelt hatte – Hanks Harnstau gehört zu den Running Gags.
Nicht pinkeln zu können, ist nicht lustig, darüber zu lesen hingegen schon. Hank erzählt von den Treffern, die er bei seiner Mitwelt landet, ebenso wie von seinen Missgeschicken, als führe er einen Laurel & Hardy-Stummfilm vor, in dem ständig jemand ausrutscht oder Torten ins Gesicht bekommt. Es ist seine Methode, der Langeweile der akademischen Provinz zu entfliehen, aber auch dem, was eine tiefere Selbstbefragung zutage fördern würde. Bestehe „der Zweck geistiger Kultiviertheit nicht zuletzt darin, Distanz zwischen uns und unsere beunruhigendsten Erkenntnisse und nagendste Ängste zu schaffen“?
Hinter dem Slapstick verbirgt sich, wie im klassischen Stummfilm, eine tiefe Melancholie. Und dahinter wiederum das nicht minder tiefe Einverständnis mit dem Leben als große Flickschusterei, in dem man, wenn schon nichts passiert, selbst für ein bisschen Unterhaltung sorgen muss – und sei es durch gezieltes Chaos.
Richard Russo hat einst selbst an Provinz-Colleges unterrichtet, sein Railston ist der Kleinstadt Altoona in Pennsylvania nachempfunden, die ebenfalls einst als Eisenbahnknotenpunkt aufblühte und dann in Depression versank. Russo-Leser kennen solche ausgepowerten Städte und ihre Bewohner, die die Chancen nutzen, die sie längst nicht mehr haben, aus seinen Romanen wie „Nobody’s Fool“ oder „Empire Falls“. Die Verfilmung des Ersteren hat Russo finanzielle Unabhängigkeit eingebracht, der zweite 2002 den Pulitzer-Preis.
Erst mit großer Verspätung hat sein Werk nach und nach durch sorgfältige Betreuung durch den Dumont-Verlag den Weg zum deutschen Leserpublikum gefunden. Die Übersetzung von Monika Köpfer liest sich flüssig, wenn auch manche Pointe, mancher „esprit de repartie“ etwas schwerfällig daher kommt. Den zeitlichen Abstand zwischen Original und Übersetzung erkennt man leicht amüsiert an den Verrenkungen, die zwischen dem korrekten „Studenten“ und dem politisch korrekten „Studierenden“ vollzogen wird, mal heißt es so, mal so. Ebenso treffen wir auf „Demonstranten“, „Protestierende“ und „Demonstrierende“ – was Hank, verstünde er Deutsch, sicher zu einem Bonmot inspiriert hätte. Aber solch verlegene Zugeständnisse an den Zeitgeist vermindern das Vergnügen an diesem vielleicht etwas zu langen, aber durchgängig witzigen, lebensklugen und menschenfreundlichen Roman kein bisschen.
MARTIN EBEL
Richard Russo:
Mittelalte Männer.
Roman. Aus dem
Englischen von
Monika Köpfer.
Dumont, Köln 2021.
604 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de