"Niemand verschwindet einfach so" ist eines dieser unbequemen Bücher, die es dem Leser nicht leicht machen, sondern ihn herausfordern und dadurch sicher auch polarisieren.
Dabei ist die Geschichte weder brutal, noch schockierend oder auch nur polemisch. Tatsächlich passiert auf den ersten Blick
viel, auf den zweiten erstaunlich wenig und auf den dritten dann wieder ganz viel – wenn man es denn…mehr"Niemand verschwindet einfach so" ist eines dieser unbequemen Bücher, die es dem Leser nicht leicht machen, sondern ihn herausfordern und dadurch sicher auch polarisieren.
Dabei ist die Geschichte weder brutal, noch schockierend oder auch nur polemisch. Tatsächlich passiert auf den ersten Blick viel, auf den zweiten erstaunlich wenig und auf den dritten dann wieder ganz viel – wenn man es denn zulässt.
Eine junge Frau bringt sich um. Ihre Schwester heiratet den Mann, der es ihr möglich macht, darüber zu weinen, und verlässt ihn letztendlich wieder, als das nicht ausreicht. Sie reist durch die halbe Welt, trampt, schläft in fremder Leute Schuppen, quartiert sich bei Menschen ein, die sie nicht kennt und die ihr auch nichts bedeuten. Und dabei wird sie nicht überfallen, es entspinnt sich keine hollywoodreife Liebesgeschichte, niemand kämpft heldenhaft gegen den Krebs, und überhaupt erstreckt sich die Handlung zwar über mehrere Länder, spielt sich aber streng genommen doch hauptsächlich im Kopf der Protagonistin ab.
Denn Elyria denkt. Und denkt. Und denkt. Und dort, in ihren Gedanken, verbirgt sich das wilde Biest, das kratzt, beißt und sticht. Im Verborgenen. Im Geheimen. In verqueren Bildern, in merkwürdigen Formulierungen, in ihrer Wahrnehmung der Welt als ein Grab aus Schatten. In endlosen Schachtelsätzen, die sich wieder und wieder im Kreise drehen.
Die Sprache ist brillant, wird aber nicht jeden Leser überzeugen: eine literarische Stimme, die aufhorchen lässt, weil sie in ihrer Wucht so unverfroren anders ist und zugleich eine ungeheure Zerbrechlichkeit ausstrahlt, eine Art bodenlosen Weltschmerz. Anstrengend, ja, manchmal ein wenig zu bemüht, aber lohnend.
Zitat:
Wir haben alle etwas Dunkles in uns, würdest du sagen; aber ich weiß, dass meine Dunkelheit dunkler ist und dass sich eine Horde tollwütiger Biester darin verbirgt, ich bin nicht wie du, Ehemann, in meiner Dunkelheit gibt es keinen Lichtschalter, meine Dunkelheit ist eine Savanne in mondloser, sternloser Nacht, und alle meine wilden Biester rennen in vollem Tempo blind drauflos, aber das könnte ich beim besten Willen nicht zu dir sagen, denn wir haben im Grunde jahrelang nicht miteinander gesprochen, und deshalb habe ich eine Distanz aus Raum und Zeit zwischen uns geschaffen, damit unser Schweigen einen Sinn ergibt.
Aber was bedeutet das alles? Wen oder was verkörpert das Biest? Elyrias Depressionen, ihren Zorn auf die Eltern, ihre Unfähigkeit, mit anderen Menschen gesunde Beziehungen einzugehen? Die Trauer um ihre Schwester? Jedenfalls keine nach außen gerichtete Aggression, auch wenn sich Elyria selber misstraut, was das betrifft. Verliert sie den Verstand?
Einfache Lösungen gibt es hier nicht. Elyria wird ohne Betriebsanleitung geliefert – oder vielleicht ist die auch nur in einer Sprache geschrieben, die Elyria selber nicht versteht.
Und das ist in meinen Augen auch vollkommen in Ordnung.
Die Geschichte hat einen unglaublichen Tiefgang, und ein erzwungenes Ende, das alles zu Tode erklärt, würde ihren Sog vielleicht sogar zerstören. Ob man das Buch liebt oder hasst, hängt meines Erachtens zumindest zu einem großen Teil davon ab, inwieweit man sich einlassen kann auf Elyrias inneren Monolog, ohne Erklärungen zu erwarten. Und sie macht es dem Leser nicht einfach: sie trifft falsche Entscheidungen, sie erwartet zu viel von Fremden und zu wenig von sich selbst, aber sie ist auf ihre kompromisslose Art echt und authentisch und durchaus liebenswert. Die anderen Charaktere bleiben schwer greifbar, weil Elyria unfähig ist, wirklich auf sie zuzugehen.