Die mehrfach ausgezeichnete schottische Essayistin Cal Flyn erkundet in diesem außergewöhnlichen Buch Orte, an denen keine Menschen mehr leben - oder nur noch wenige ihr Dasein fristen. Es sind Sperrgebiete oder Geisterstädte, Festungsinseln und Niemandsländer, unwegsames Terrain, auf das sich Flyn wagt, als sie verwaiste und verwüstete Orte besuchte, um zu verstehen, was passiert, wenn man der Natur erlaubt, sich ihren Platz zurückzuerobern. Auf einer unbewohnten schottischen Insel begegnet sie einer Herde verwilderter Rinder, in Tschernobyl einer Handvoll Menschen, die nach der Nuklearkatastrophe in ihre kontaminierten Häuser zurückkehrten, und in Detroit, der einst viertgrößten Stadt der USA, trifft sie auf ganze Straßenzüge, die so verfallen sind, dass Tiere und Pflanzen sie übernommen haben. Egal wie trostlos, unheimlich, verwüstet und verseucht die Orte sind, die Flyn erkundet, überall erkennt sie allen Widrigkeiten zum Trotz Anzeichen von ökologischer Resilienz und Regeneration, kurzum: von Leben. Sie entdeckt Pflanzen, die auf kontaminierten Böden gedeihen, Fische, die gegen bestimmte Gifte unempfindlich geworden sind oder einen künstlichen See, der zur belebten Wüste versandet. Ihr Buch ist ein genau recherchiertes und mit literarischem wie psychologischem Einfühlungsvermögen geschriebenes Plädoyer für eine radikale Überprüfung dessen, was wir unter 'Natur' verstehen. Nicht zuletzt bietet es vielfältige, auch verstörende Antworten auf die dringliche Frage, wie der Schaden, den wir an der Natur verursacht haben, noch behoben werden kann.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit der schottischen Essayistin Cal Flynn begibt sich Rezensentin Anna Vollmer an zwölf verlassene Orte, die, von Tschernobyl bis Detroit, aus den unterschiedlichsten Gründen zu verwaisten Landstrichen geworden sind. Flynn kann berichten, dass die Natur diese Orte oftmals zurückzuerobern weiß, was ihr zufolge aber eher als Anregung zu vorausschauender Vorsicht denn zu naiver Hoffnung zu verstehen ist, wie Vollmer berichtet. Dass auch ehemalige Industriegebiete wieder zu anregenden Orten werden können, glaubt die Kritikerin gerne, doch etwas weniger verkitschter Pathos hätte dem Buch auch gutgetan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2024Atommüll im Regenwald? Keine schlechte Idee!
Auf dem Weg ins Staubzeitalter: Cal Flyn besichtigt Orte, an denen kaum noch Menschen leben
Wann gilt ein Ort als verlassen? Oder als wild? Wenn wirklich niemand mehr dort wohnt? Oder wenn es auch keine menschlichen Spuren mehr gibt? Diese Fragen stellt die schottische Essayistin Cal Flyn in ihrem Buch "Verlassene Orte", um sie anschließend aus einer überraschenden Perspektive zu betrachten.
Zwölf verschiedene Orte hat sie für ihre Recherche bereist, Orte, die gemeinhin als verwaist gelten, obwohl einige von ihnen - sogar Tschernobyl - weiterhin spärlich bewohnt sind. Sie erkundete Landstriche, aus denen die Menschen wegen Kriegen oder Katastrophen fliehen mussten, sodass sie von der Natur langsam zurückerobert werden können. Und sie besuchte ehemalige Industriestandorte wie Detroit, die nach ihrer Blütezeit mehr Ruinen als Städten gleichen. Dabei zeigt sich, warum die Frage nach der Wildnis so schwer zu beantworten ist.
Nehmen wir zum Beispiel Swona, eine kleine Insel vor der Küste Schottlands. In den Siebzigerjahren verließen die letzten Bewohner die Insel, ihre Kühe jedoch blieben und vermehren sich nun seit rund fünfzig Jahren. Sind sie deshalb "wild"? Oder ist das der falsche Begriff für ein Tier, dessen jahrtausendelange Domestizierung sich inzwischen in seine DNA eingeschrieben hat? Sollte man möglicherweise die Frage gar nicht stellen, weil allein unsere Sehnsucht nach dem Wilden, dem Ursprünglichen schon Teil des Problems ist?
Flyn hat dazu eine klare Position. Ihre Geschichten "handeln von Erneuerung, nicht von Wiederherstellung". Sie glaubt, dass jeder menschliche Eingriff, und sei er, wie der Kampf gegen invasive Arten oder der Versuch, andere menschengemachte Schäden zu beheben, noch so gut gemeint, letztlich genau das bleibt: ein Eingriff. Der, wenn es schlecht läuft, neuen Schaden anrichtet.
Denn kaum etwas hat negativere Auswirkungen auf die Natur als die Anwesenheit des Menschen. So gibt es in der Wissenschaft zwar Streit darüber, wie schädlich die Strahlung von Tschernobyl für die Tiere und Pflanzen der Gegend noch immer ist. Dennoch glauben viele Forscher inzwischen: "Obwohl die Strahlung ihnen nicht guttut, wiegen die Vorteile der Abwesenheit des Menschen schwerer als die Schäden." Der britische Umweltschützer und Wissenschaftler James Lovelock schlug deshalb sogar vor, Atommüll im Regenwald zu lagern, um ihn, den Regenwald, "vor der Zerstörung durch gierige Investoren zu schützen".
Der Ort in Großbritannien, an dem man die größte Biodiversität pro Quadratmeter findet, ist kein scheinbar ursprünglich gebliebener Wald oder ein liebevoll angelegter Park, sondern ein ehemaliges Industriegelände. Es sind diese verlassenen, nicht unbedingt ursprünglichen Orte, für die sich Flyn besonders interessiert: gerade deshalb, weil das die meisten anderen Menschen nicht tun und ihnen fern bleiben.
Flyn plädiert für eine neue Sichtweise auf unsere Umgebung, dafür, sich nicht von ästhetischen Vorstellungen einlullen zu lassen: "Eine verlassene Mine, eine Abraumhalde, einen Steinbruch, einen Parkplatz oder ein Ölterminal aufzusuchen und darin das neu entstandene Wunder der Natur zu erkennen ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach. Doch in dieser ökologisch angespannten Zeit lohnt es sich, diesen Blick zu kultivieren."
Zwar verwandelt sich dieser Sinn für die Wunder von Flora und Fauna zuweilen in Kitsch ("Jeder Atemzug, jeder Schluck steckt voller Potential. In einer Handvoll Nichts liegt die Saat für alles"). Doch ist er wegen der zum Teil kuriosen Fakten, die Flyn präsentiert, vor allem lehrreich und erfrischend.
Darin liegt aber auch ein Problem. Denn Flyn bewegt sich auf einem schmalen Grat: Sie will Hoffnung machen, aber nicht verharmlosen. Was nicht einfach ist, wenn sie hervorhebt, selbst an den geschundensten Flecken dieser Erde entstehe neues Leben. Andererseits bekommt Flyn am Saltonsee in Kalifornien (auch hier nicht ohne Pathos) "eine Vorahnung vom Ende der Welt, vom Anbruch des Staubzeitalters". Das Potential der Natur, sich auch unter den widrigsten Umständen Lebensräume zurückzuerobern, sollte der Autorin zufolge nicht dazu führen, entspannt in die Zukunft zu schauen, sondern mehr Rücksicht walten zu lassen. ANNA VOLLMER
Cal Flyn: "Verlassene Orte". Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt.
Aus dem Englischen von Milena Adam. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 244 S., Abb., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf dem Weg ins Staubzeitalter: Cal Flyn besichtigt Orte, an denen kaum noch Menschen leben
Wann gilt ein Ort als verlassen? Oder als wild? Wenn wirklich niemand mehr dort wohnt? Oder wenn es auch keine menschlichen Spuren mehr gibt? Diese Fragen stellt die schottische Essayistin Cal Flyn in ihrem Buch "Verlassene Orte", um sie anschließend aus einer überraschenden Perspektive zu betrachten.
Zwölf verschiedene Orte hat sie für ihre Recherche bereist, Orte, die gemeinhin als verwaist gelten, obwohl einige von ihnen - sogar Tschernobyl - weiterhin spärlich bewohnt sind. Sie erkundete Landstriche, aus denen die Menschen wegen Kriegen oder Katastrophen fliehen mussten, sodass sie von der Natur langsam zurückerobert werden können. Und sie besuchte ehemalige Industriestandorte wie Detroit, die nach ihrer Blütezeit mehr Ruinen als Städten gleichen. Dabei zeigt sich, warum die Frage nach der Wildnis so schwer zu beantworten ist.
Nehmen wir zum Beispiel Swona, eine kleine Insel vor der Küste Schottlands. In den Siebzigerjahren verließen die letzten Bewohner die Insel, ihre Kühe jedoch blieben und vermehren sich nun seit rund fünfzig Jahren. Sind sie deshalb "wild"? Oder ist das der falsche Begriff für ein Tier, dessen jahrtausendelange Domestizierung sich inzwischen in seine DNA eingeschrieben hat? Sollte man möglicherweise die Frage gar nicht stellen, weil allein unsere Sehnsucht nach dem Wilden, dem Ursprünglichen schon Teil des Problems ist?
Flyn hat dazu eine klare Position. Ihre Geschichten "handeln von Erneuerung, nicht von Wiederherstellung". Sie glaubt, dass jeder menschliche Eingriff, und sei er, wie der Kampf gegen invasive Arten oder der Versuch, andere menschengemachte Schäden zu beheben, noch so gut gemeint, letztlich genau das bleibt: ein Eingriff. Der, wenn es schlecht läuft, neuen Schaden anrichtet.
Denn kaum etwas hat negativere Auswirkungen auf die Natur als die Anwesenheit des Menschen. So gibt es in der Wissenschaft zwar Streit darüber, wie schädlich die Strahlung von Tschernobyl für die Tiere und Pflanzen der Gegend noch immer ist. Dennoch glauben viele Forscher inzwischen: "Obwohl die Strahlung ihnen nicht guttut, wiegen die Vorteile der Abwesenheit des Menschen schwerer als die Schäden." Der britische Umweltschützer und Wissenschaftler James Lovelock schlug deshalb sogar vor, Atommüll im Regenwald zu lagern, um ihn, den Regenwald, "vor der Zerstörung durch gierige Investoren zu schützen".
Der Ort in Großbritannien, an dem man die größte Biodiversität pro Quadratmeter findet, ist kein scheinbar ursprünglich gebliebener Wald oder ein liebevoll angelegter Park, sondern ein ehemaliges Industriegelände. Es sind diese verlassenen, nicht unbedingt ursprünglichen Orte, für die sich Flyn besonders interessiert: gerade deshalb, weil das die meisten anderen Menschen nicht tun und ihnen fern bleiben.
Flyn plädiert für eine neue Sichtweise auf unsere Umgebung, dafür, sich nicht von ästhetischen Vorstellungen einlullen zu lassen: "Eine verlassene Mine, eine Abraumhalde, einen Steinbruch, einen Parkplatz oder ein Ölterminal aufzusuchen und darin das neu entstandene Wunder der Natur zu erkennen ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach. Doch in dieser ökologisch angespannten Zeit lohnt es sich, diesen Blick zu kultivieren."
Zwar verwandelt sich dieser Sinn für die Wunder von Flora und Fauna zuweilen in Kitsch ("Jeder Atemzug, jeder Schluck steckt voller Potential. In einer Handvoll Nichts liegt die Saat für alles"). Doch ist er wegen der zum Teil kuriosen Fakten, die Flyn präsentiert, vor allem lehrreich und erfrischend.
Darin liegt aber auch ein Problem. Denn Flyn bewegt sich auf einem schmalen Grat: Sie will Hoffnung machen, aber nicht verharmlosen. Was nicht einfach ist, wenn sie hervorhebt, selbst an den geschundensten Flecken dieser Erde entstehe neues Leben. Andererseits bekommt Flyn am Saltonsee in Kalifornien (auch hier nicht ohne Pathos) "eine Vorahnung vom Ende der Welt, vom Anbruch des Staubzeitalters". Das Potential der Natur, sich auch unter den widrigsten Umständen Lebensräume zurückzuerobern, sollte der Autorin zufolge nicht dazu führen, entspannt in die Zukunft zu schauen, sondern mehr Rücksicht walten zu lassen. ANNA VOLLMER
Cal Flyn: "Verlassene Orte". Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt.
Aus dem Englischen von Milena Adam. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 244 S., Abb., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main