Wer etwas auf sich hält in New Ross, County Wicklow, und es sich leisten kann, lässt seine Wäsche im Kloster waschen. Doch was sich dort hinter den glänzenden Fenstern und dicken Mauern ereignet, will in der Kleinstadt niemand so genau wissen. Denn es gibt Gerüchte. Dass es moralisch fragwürdige Mädchen sind, die zur Buße Schmutzflecken aus den Laken waschen. Dass sie von früh bis spät arbeiten müssen und daran zugrunde gehen. Dass ihre neugeborenen Babys ins Ausland verkauft werden. Der Kohlenhändler Billy Furlong hat kein Interesse an Klatsch und Tratsch. Es sind harte Zeiten in Irland 1985, er hat Frau und fünf Töchter zu versorgen, und die Nonnen zahlen pünktlich. Eines Morgens ist Billy zu früh dran mit seiner Auslieferung. Und macht im Kohlenschuppen des Klosters eine Entdeckung, die ihn zutiefst verstört. Er muss eine Entscheidung treffen: als Familienvater, als Christ, als Mensch.Mit wenigen Worten erschafft Claire Keegan eine ganze Welt. Auf unnachahmliche Weise erzählt Kleine Dinge wie diese von Komplizenschaft und Mitschuld, davon, wie Menschen das Grauen in ihrer Mitte ignorieren, um in ihrem Alltag fortfahren zu können - davon, dass es möglich ist, das Richtige zu tun.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Es ist ein schmaler Roman, den Claire Keegan hier vorlegt. Hauptfigur ist ein irischer Kohlenhändler aus kleinen Verhältnissen, der versucht, für sich und seine Familie "das Richtige" zu tun, der aber auch gern denen hilft, die noch weniger haben als er. Was genau hier die Rolle der katholischen Kirche und ihrer entsetzlichen Magdalenenwäschereien ist, lässt Rezensentin Cornelia Geißler offen. Aber sie lobt das Buch sehr, dessen "sehr reduzierter Ezählstil" Übersetzer Hans-Christian Oeser kongenial übersetzt habe. Dass ihr die Geschichte zu Herzen ging, daran lässt sie keinen Zweifel.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.07.2022Die gefallenen
Wäscherinnen
Wie konnte die Gewalt der Kirche
so lange verheimlicht werden?
Der Wind bläst über das winterliche Land. Die Schornsteine stoßen Rauchschwaden aus. Die Menschen in der Kleinstadt New Ross stapfen durch die Kälte auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Es ist kurz vor Weihnachten, in der Stadt wird gebacken und gebraut, Geschenke gekauft, die Lichter glänzen, doch „es war ein Dezember der Krähen. Derartig viele hatte man noch nie gesehen. In schwarzen Schwärmen versammelten sie sich vor der Stadt, drangen dann ins Zentrum vor, hüpften durch die Straßen“.
In der Düsternis der Natur spiegelt sich in Claire Keegans bemerkenswerten und vom Steidl-Verlag außergewöhnlich schön gestalteten Roman die depravierte Lage eines Landes. Wir befinden uns, obwohl die Assoziation naheliegt und von Claire Keegan in Anspielungen auch bewusst geweckt wird, nicht in Charles Dickens’ Welt des 19. Jahrhunderts, sondern im ökonomisch und, wie sich herausstellen wird, auch moralisch heruntergewirtschafteten Irland des Jahres 1985. Scharenweise fliehen die jungen Menschen mangels Perspektive aus dem Land in Richtung Amerika.
All diese Begleitumstände inszeniert Claire Keegan, geboren 1968 und für ihren 2013 erschienenen Roman „Das dritte Licht“ im englischsprachigen Raum gefeiert, geradezu beiläufig. Zwar ist das Zentrum von „Kleine Dinge wie diese“ ein handfester, über Jahrzehnte hinweg verschwiegener Skandal, doch findet Claire Keegan einen subtilen und eleganten Weg, um auf engem Raum sowohl die Verdrängungsmechanismen als auch einen inneren Erkenntnisprozess sichtbar zu machen. Beides vollzieht sich in der Hauptfigur Bill Furlong, dem Kohlen- und Brennstoffhändler von New Ross.
Furlong ist ein aufrechter Mann, vaterlos aufgewachsen, der seine sechsköpfige Familie gerade so durchbringt und es sich hin und wieder gestattet, von einem anderen Leben zu träumen. Eines Tages stöbert er bei einer seiner Kohlenauslieferungen im oberhalb von New Ross gelegenen Kloster ein verwahrlostes junges Mädchen auf, das ihn um Hilfe bittet. Kurz darauf sind die Nonnen da und bereinigen die Situation, doch Bills Gedanken kreisen von nun an um das, was er gesehen hat.
Und vor allem darum, dass er etwas nicht wissen wollte, das er schon lange hätte wissen können: In den sogenannten Magdalenen-Wäschereien, betrieben von der katholischen Kirche, wurden seit den späten 1820er-Jahren bis ins Jahr 1996, man kann sich das kaum vorstellen, „gefallene Mädchen“ – Prostituierte oder auch alleinstehende schwangere Mädchen – gefangen gehalten und zur Arbeit gezwungen. Die neugeborenen Kinder wurden ihnen weggenommen. Die Arbeitsbedingungen waren unmenschlich. Wie viele Frauen dort im Lauf der Jahrzehnte gestorben sind, liegt bis heute im Dunkeln.
Claire Keegan erläutert die Historie der Wäschereien in einem knappen Nachwort. Ihr Roman arbeitet die Kette von Verschweigemechanismen und Abhängigkeiten heraus, die das Unterdrückungssystem in den Wäschereien überhaupt erst ermöglicht hat.
Ja, Gerüchte hat es gegeben über die Mädchen, doch Bill Furlong hat sie nie geglaubt oder wollte sie nicht glauben. Und darüber hinaus: Wie könnte er, selbst wenn er wollte, sich gegen die mächtige katholische Kirche stellen und damit die Zukunft seiner Töchter aufs Spiel setzen, die er im katholischen Mädcheninternat anmelden möchte?
Claire Keegan braucht keine großen Worte, um das Hin- und Hergerissensein ihres Protagonisten darzustellen. Sie ist eine hochbegabte Verknapperin, deren Figuren sich auf dünnem Eis bewegen, zwischen tatsächlicher Unschuld und perfektionierter Ignoranz. „Kleine Dinge wie diese“ ist letztendlich ein optimistisches Buch, weil in Bill Furlong selbst die Erkenntnis reift, dass er die Verpflichtung hat, nicht mehr zu schweigen, jetzt, da er mit eigenen Augen gesehen hat, was vor sich geht.
Es sind kurze, beiläufige Sätze, in denen Keegan ihrer Hauptfigur das höhere moralische Gesetz einschreibt: Es bedürfe, so heißt es, „einer fremden Person, um Dinge an den Tag zu bringen“. Und ganz am Ende denkt sich Bill, dass das Schlimmste, was hätte passieren können, schon hinter ihm liegt: „das, was nicht getan wurde“. Dickens’ „A Christmas Carol“ hat Bill in seiner Kindheit stets getröstet. Claire Keegan hat das Weihnachtsmärchen ins nächste Jahrhundert transportiert. Ende offen.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Wie viele Frauen in den Heimen
zur Arbeit gezwungen wurden
und starben, ist noch unbekannt
Letztlich ein optimistischer
Roman: er handelt von der Pflicht,
nicht länger zu schweigen
Claire Keegan: Kleine Dinge wie diese. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl, Göttingen 2022.
110 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wäscherinnen
Wie konnte die Gewalt der Kirche
so lange verheimlicht werden?
Der Wind bläst über das winterliche Land. Die Schornsteine stoßen Rauchschwaden aus. Die Menschen in der Kleinstadt New Ross stapfen durch die Kälte auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Es ist kurz vor Weihnachten, in der Stadt wird gebacken und gebraut, Geschenke gekauft, die Lichter glänzen, doch „es war ein Dezember der Krähen. Derartig viele hatte man noch nie gesehen. In schwarzen Schwärmen versammelten sie sich vor der Stadt, drangen dann ins Zentrum vor, hüpften durch die Straßen“.
In der Düsternis der Natur spiegelt sich in Claire Keegans bemerkenswerten und vom Steidl-Verlag außergewöhnlich schön gestalteten Roman die depravierte Lage eines Landes. Wir befinden uns, obwohl die Assoziation naheliegt und von Claire Keegan in Anspielungen auch bewusst geweckt wird, nicht in Charles Dickens’ Welt des 19. Jahrhunderts, sondern im ökonomisch und, wie sich herausstellen wird, auch moralisch heruntergewirtschafteten Irland des Jahres 1985. Scharenweise fliehen die jungen Menschen mangels Perspektive aus dem Land in Richtung Amerika.
All diese Begleitumstände inszeniert Claire Keegan, geboren 1968 und für ihren 2013 erschienenen Roman „Das dritte Licht“ im englischsprachigen Raum gefeiert, geradezu beiläufig. Zwar ist das Zentrum von „Kleine Dinge wie diese“ ein handfester, über Jahrzehnte hinweg verschwiegener Skandal, doch findet Claire Keegan einen subtilen und eleganten Weg, um auf engem Raum sowohl die Verdrängungsmechanismen als auch einen inneren Erkenntnisprozess sichtbar zu machen. Beides vollzieht sich in der Hauptfigur Bill Furlong, dem Kohlen- und Brennstoffhändler von New Ross.
Furlong ist ein aufrechter Mann, vaterlos aufgewachsen, der seine sechsköpfige Familie gerade so durchbringt und es sich hin und wieder gestattet, von einem anderen Leben zu träumen. Eines Tages stöbert er bei einer seiner Kohlenauslieferungen im oberhalb von New Ross gelegenen Kloster ein verwahrlostes junges Mädchen auf, das ihn um Hilfe bittet. Kurz darauf sind die Nonnen da und bereinigen die Situation, doch Bills Gedanken kreisen von nun an um das, was er gesehen hat.
Und vor allem darum, dass er etwas nicht wissen wollte, das er schon lange hätte wissen können: In den sogenannten Magdalenen-Wäschereien, betrieben von der katholischen Kirche, wurden seit den späten 1820er-Jahren bis ins Jahr 1996, man kann sich das kaum vorstellen, „gefallene Mädchen“ – Prostituierte oder auch alleinstehende schwangere Mädchen – gefangen gehalten und zur Arbeit gezwungen. Die neugeborenen Kinder wurden ihnen weggenommen. Die Arbeitsbedingungen waren unmenschlich. Wie viele Frauen dort im Lauf der Jahrzehnte gestorben sind, liegt bis heute im Dunkeln.
Claire Keegan erläutert die Historie der Wäschereien in einem knappen Nachwort. Ihr Roman arbeitet die Kette von Verschweigemechanismen und Abhängigkeiten heraus, die das Unterdrückungssystem in den Wäschereien überhaupt erst ermöglicht hat.
Ja, Gerüchte hat es gegeben über die Mädchen, doch Bill Furlong hat sie nie geglaubt oder wollte sie nicht glauben. Und darüber hinaus: Wie könnte er, selbst wenn er wollte, sich gegen die mächtige katholische Kirche stellen und damit die Zukunft seiner Töchter aufs Spiel setzen, die er im katholischen Mädcheninternat anmelden möchte?
Claire Keegan braucht keine großen Worte, um das Hin- und Hergerissensein ihres Protagonisten darzustellen. Sie ist eine hochbegabte Verknapperin, deren Figuren sich auf dünnem Eis bewegen, zwischen tatsächlicher Unschuld und perfektionierter Ignoranz. „Kleine Dinge wie diese“ ist letztendlich ein optimistisches Buch, weil in Bill Furlong selbst die Erkenntnis reift, dass er die Verpflichtung hat, nicht mehr zu schweigen, jetzt, da er mit eigenen Augen gesehen hat, was vor sich geht.
Es sind kurze, beiläufige Sätze, in denen Keegan ihrer Hauptfigur das höhere moralische Gesetz einschreibt: Es bedürfe, so heißt es, „einer fremden Person, um Dinge an den Tag zu bringen“. Und ganz am Ende denkt sich Bill, dass das Schlimmste, was hätte passieren können, schon hinter ihm liegt: „das, was nicht getan wurde“. Dickens’ „A Christmas Carol“ hat Bill in seiner Kindheit stets getröstet. Claire Keegan hat das Weihnachtsmärchen ins nächste Jahrhundert transportiert. Ende offen.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Wie viele Frauen in den Heimen
zur Arbeit gezwungen wurden
und starben, ist noch unbekannt
Letztlich ein optimistischer
Roman: er handelt von der Pflicht,
nicht länger zu schweigen
Claire Keegan: Kleine Dinge wie diese. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl, Göttingen 2022.
110 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2022Was aber hätte getan werden können
Claire Keegan erkundet in "Kleine Dinge wie diese", woher der Mut zum Widerstand kommt
Vier Bücher in zweiundzwanzig Jahren und ein Ruf wie Donnerhall in der angelsächsischen Literaturwelt. Claire Keegan, 1968 im County Wicklow zur Welt gekommen als Tochter einer katholischen Bauernfamilie mit sechs Kindern, macht sich rar, und sie verschwendet keine Worte. Im Alter von siebzehn Jahren zieht sie zum Studium von Literatur und Politik nach New Orleans, dann weiter nach Wales. 1999 ist der erste Band mit Kurzgeschichten fertig, auf "Antarctica" folgt "Walk The Blue Fields" (2008). Den Lebensunterhalt verdient sich Keegan einige Jahre als Lehrerin für kreatives Schreiben in Cambridge, heute lebt sie im Westen Irlands.
Familie ist ein großes Thema bei Claire Keegan. 2010 erschien "Foster" (deutsch "Das dritte Licht", wie auch die Vorgängerbände bei Steidl), fünfundachtzig luftige Druckseiten: die Geschichte eines Mädchens, das von seinem Vater zu einem kinderlosen Ehepaar gebracht wird, weil schon wieder ein Kind unterwegs ist und man so ein hungriges Mäulchen weniger zu stopfen hat. 2021 folgte der lange erwartete Band "Small Things Like These", und wieder kam sogleich die Frage auf, womit man es zu tun habe - einer längeren Erzählung, einer Novelle, einem Roman? Knapp hundertzehn Seiten, und doch ist alles angelegt, was ein großes Buch braucht: Zeitlosigkeit, die Aura von Klassizität, kein Wort zu viel, und doch ausreichend Fett, um, wie Keegan in einem Interview verriet, als gutes Stück Fleisch gelten zu können.
New Ross, eine Kleinstadt im Südosten Irlands anno 1985. Es steht nicht gut um die Insel, hohe Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft auf Talfahrt, die Jugend emigriert einmal mehr. Die Werft hat schon dichtgemacht, die Düngemittelfabrik schlingert, Läden schließen, Häuser bleiben kalt. Inmitten dieser von katholischer Tradition grundierten Misere ein hart arbeitender Kohlen- und Holzhändler namens Bill Furlong. Verheiratet, fünf Töchter, er geht auf die Vierzig zu und ahnt, wie schnell sich sein bescheidener Wohlstand in Luft auflösen könnte. Weihnachten steht vor der Tür, und trotz der Rituale ist die Depression zum Greifen nah. "Es war ein Dezember der Krähen."
Da ist etwas in Furlongs Vergangenheit, das ihn von anderen unterscheidet. Seine Mutter war sechzehn, als sie mit ihm schwanger ging. Ihre Eltern wiesen ihr die Tür, die wohlhabende protestantische Witwe Mrs. Wilson ermöglichte es ihrem Hausmädchen, samt Baby im großen Haus außerhalb der Stadt zu leben. Später kümmerte sich die kinderlose Mrs. Wilson um Bills Ausbildung, half ihm, eine Firma aufzubauen. Wer sein Vater ist, hat er nie herausgefunden.
Als er eine Lieferung Kohle im Schuppen des Klosters über der Stadt ablädt, findet er dort eine verwirrte, verängstigte junge Frau, die Brüste voller Muttermilch. Man habe ihr den Sohn genommen, stößt sie hervor, ob er sie mitnehmen könne, fortbringen von diesem Ort. Die Mutter Oberin spielt die Fürsorgliche, beschwichtigt den verstörten Lieferanten und schickt ihn mit einem fetten Trinkgeld weg. Die Geschichte will ihm aber nicht aus dem Kopf gehen. Es sind Frauen, seine eigene und eine Wirtin, die ihn warnen, sich nicht mit den Ordensschwestern anzulegen, die hätten ihre Finger überall im Spiel.
Die Nonnen, die gefallene Mädchen umerziehen, sie zur Arbeit zwingen, ihnen die Kinder wegnehmen - sie waschen nicht nur Wäsche für die besseren Kreise, sie verkaufen auch Neugeborene ins Ausland, erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand. Die Geschichte der sogenannten Magdalenen-Wäschereien ist ein grausames Kapitel in der Geschichte Irlands, eines, in dem Kirche und Staat Hand in Hand arbeiteten. Zweihundert Jahre existierte dieses Zwangssystem, die letzte Wäscherei schloss erst 1996. Die Forschung schätzt heute die Zahl der missbrauchten jungen Frauen auf dreißigtausend, die der toten Babys auf neuntausend. Offiziell entschuldigt hat sich Irland erst 2013.
Aber Keegan geht es nicht vordergründig um eine Abrechnung mit Kirche und Staat, der Horror der Wäschereien läuft eher im Hintergrund mit. Die Autorin konzentriert sich auf Herz und Hirn ihres Protagonisten. Der fragt sich, wie sinnvoll es ist, "ein ganzes Leben weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen". Anders als die meisten Kinder, die man früher nicht so wichtig nahm wie heute, hat Furlong bei Mrs. Wilson so etwas wie Liebe erlebt. Was ihn zu der Überlegung führt, ob es "einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half". Am Ende wird er eine Entscheidung treffen.
"Kleine Dinge wie diese" ist keine Gutmenschen-Fabel, sondern ein berührendes Lehrstück über Mut, der sich aus Empathie speist. Ein glänzend gearbeitetes Stück Literatur, die Übersetzung von Hans-Christian Oeser trifft Keegans trügerisch einfachen Klang. Vielleicht klappt es diesmal mit dem Booker-Preis für Claire Keegan; auf die Shortlist hat es das Buch geschafft, und am 17. Oktober wissen wir mehr. Es wäre eine vortreffliche Wahl. HANNES HINTERMEIER
Claire Keegan: "Kleine Dinge wie diese". Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen, 2022. 109 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claire Keegan erkundet in "Kleine Dinge wie diese", woher der Mut zum Widerstand kommt
Vier Bücher in zweiundzwanzig Jahren und ein Ruf wie Donnerhall in der angelsächsischen Literaturwelt. Claire Keegan, 1968 im County Wicklow zur Welt gekommen als Tochter einer katholischen Bauernfamilie mit sechs Kindern, macht sich rar, und sie verschwendet keine Worte. Im Alter von siebzehn Jahren zieht sie zum Studium von Literatur und Politik nach New Orleans, dann weiter nach Wales. 1999 ist der erste Band mit Kurzgeschichten fertig, auf "Antarctica" folgt "Walk The Blue Fields" (2008). Den Lebensunterhalt verdient sich Keegan einige Jahre als Lehrerin für kreatives Schreiben in Cambridge, heute lebt sie im Westen Irlands.
Familie ist ein großes Thema bei Claire Keegan. 2010 erschien "Foster" (deutsch "Das dritte Licht", wie auch die Vorgängerbände bei Steidl), fünfundachtzig luftige Druckseiten: die Geschichte eines Mädchens, das von seinem Vater zu einem kinderlosen Ehepaar gebracht wird, weil schon wieder ein Kind unterwegs ist und man so ein hungriges Mäulchen weniger zu stopfen hat. 2021 folgte der lange erwartete Band "Small Things Like These", und wieder kam sogleich die Frage auf, womit man es zu tun habe - einer längeren Erzählung, einer Novelle, einem Roman? Knapp hundertzehn Seiten, und doch ist alles angelegt, was ein großes Buch braucht: Zeitlosigkeit, die Aura von Klassizität, kein Wort zu viel, und doch ausreichend Fett, um, wie Keegan in einem Interview verriet, als gutes Stück Fleisch gelten zu können.
New Ross, eine Kleinstadt im Südosten Irlands anno 1985. Es steht nicht gut um die Insel, hohe Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft auf Talfahrt, die Jugend emigriert einmal mehr. Die Werft hat schon dichtgemacht, die Düngemittelfabrik schlingert, Läden schließen, Häuser bleiben kalt. Inmitten dieser von katholischer Tradition grundierten Misere ein hart arbeitender Kohlen- und Holzhändler namens Bill Furlong. Verheiratet, fünf Töchter, er geht auf die Vierzig zu und ahnt, wie schnell sich sein bescheidener Wohlstand in Luft auflösen könnte. Weihnachten steht vor der Tür, und trotz der Rituale ist die Depression zum Greifen nah. "Es war ein Dezember der Krähen."
Da ist etwas in Furlongs Vergangenheit, das ihn von anderen unterscheidet. Seine Mutter war sechzehn, als sie mit ihm schwanger ging. Ihre Eltern wiesen ihr die Tür, die wohlhabende protestantische Witwe Mrs. Wilson ermöglichte es ihrem Hausmädchen, samt Baby im großen Haus außerhalb der Stadt zu leben. Später kümmerte sich die kinderlose Mrs. Wilson um Bills Ausbildung, half ihm, eine Firma aufzubauen. Wer sein Vater ist, hat er nie herausgefunden.
Als er eine Lieferung Kohle im Schuppen des Klosters über der Stadt ablädt, findet er dort eine verwirrte, verängstigte junge Frau, die Brüste voller Muttermilch. Man habe ihr den Sohn genommen, stößt sie hervor, ob er sie mitnehmen könne, fortbringen von diesem Ort. Die Mutter Oberin spielt die Fürsorgliche, beschwichtigt den verstörten Lieferanten und schickt ihn mit einem fetten Trinkgeld weg. Die Geschichte will ihm aber nicht aus dem Kopf gehen. Es sind Frauen, seine eigene und eine Wirtin, die ihn warnen, sich nicht mit den Ordensschwestern anzulegen, die hätten ihre Finger überall im Spiel.
Die Nonnen, die gefallene Mädchen umerziehen, sie zur Arbeit zwingen, ihnen die Kinder wegnehmen - sie waschen nicht nur Wäsche für die besseren Kreise, sie verkaufen auch Neugeborene ins Ausland, erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand. Die Geschichte der sogenannten Magdalenen-Wäschereien ist ein grausames Kapitel in der Geschichte Irlands, eines, in dem Kirche und Staat Hand in Hand arbeiteten. Zweihundert Jahre existierte dieses Zwangssystem, die letzte Wäscherei schloss erst 1996. Die Forschung schätzt heute die Zahl der missbrauchten jungen Frauen auf dreißigtausend, die der toten Babys auf neuntausend. Offiziell entschuldigt hat sich Irland erst 2013.
Aber Keegan geht es nicht vordergründig um eine Abrechnung mit Kirche und Staat, der Horror der Wäschereien läuft eher im Hintergrund mit. Die Autorin konzentriert sich auf Herz und Hirn ihres Protagonisten. Der fragt sich, wie sinnvoll es ist, "ein ganzes Leben weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen". Anders als die meisten Kinder, die man früher nicht so wichtig nahm wie heute, hat Furlong bei Mrs. Wilson so etwas wie Liebe erlebt. Was ihn zu der Überlegung führt, ob es "einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half". Am Ende wird er eine Entscheidung treffen.
"Kleine Dinge wie diese" ist keine Gutmenschen-Fabel, sondern ein berührendes Lehrstück über Mut, der sich aus Empathie speist. Ein glänzend gearbeitetes Stück Literatur, die Übersetzung von Hans-Christian Oeser trifft Keegans trügerisch einfachen Klang. Vielleicht klappt es diesmal mit dem Booker-Preis für Claire Keegan; auf die Shortlist hat es das Buch geschafft, und am 17. Oktober wissen wir mehr. Es wäre eine vortreffliche Wahl. HANNES HINTERMEIER
Claire Keegan: "Kleine Dinge wie diese". Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen, 2022. 109 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main