Amartya Sens meistzitierter und einflussreichster Aufsatz: Die ökonomische Theorie reduziert den Menschen auf Gier und Egoismus. Dabei verfolgen Menschen in konkreten Situationen zum Glück häufig gar keine rein eigennützige, sondern eine vielschichtige Strategie. In Wahrheit gibt es also auf uneigennützigen Verpflichtungen beruhende Motive und Handlungen, ohne die jedes politische und wirtschaftliche System zusammenbrechen müsste. Sen zeigt, dass die Vereinfachungen der ökonomischen Theorie daher nicht nur kurzsichtig oder falsch sind, sondern sogar schädlich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2020Reale Akteure gegen ökonomische Modelle
Philosophisch gedacht und wirtschaftswissenschaftlich geerdet: Drei Neuerscheinungen des diesjährigen Friedenspreisträgers Amartya Sen
Der frisch gekürte Träger des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Amartya Sen, zählt zu den wenigen Denkern, die sowohl in den Wirtschaftswissenschaften als auch in der Philosophie Gehör finden. Wenn man manchen Kommentatoren glauben darf, ist seine Stellung in der Philosophie sogar als höher einzuschätzen als jene in den Wirtschaftswissenschaften. Sicher, Sen hat 1998 den Nobelpreis für seine Disziplin erhalten und wird gern als weltweit einflussreicher Ökonom gefeiert. Schaut man sich aber sein Werk genauer an, wird schnell deutlich, dass es von philosophischen Intuitionen getragen wird, die mit zentralen ökonomischen Thesen und Theorien brechen. Immer wieder, so könnte man etwas plakativ sagen, nutzt Sen sein philosophisches Werkzeug, um in den heiligen Hallen der Ökonomie die stützenden Wände mal mehr, mal weniger rabiat zu bearbeiten. Gerne, so darf man vermuten, würde er seiner Disziplin ein neues Fundament geben, so manche Wand darf, soll, ja muss fallen.
Ein Blick in drei deutsche Neuerscheinungen vermag zu erklären, warum diese kritische Sicht nicht jedem gefallen kann. "Ökonomie für den Menschen" geht aus Vorlesungen hervor, die Sen schon 1996 und 1997 vor der Weltbank gehalten hat. Gegenstand des Buches ist die Frage nach den besten Bedingungen für die Entwicklung von schwachen Volkswirtschaften. Die über Jahre gegebene Antwort der Weltbank auf diese Frage lautete: Austerität, Kürzungen im Sozialbereich, gebührenpflichtige Bildung und Gesundheitsvorsorge, Demokratisierung als Luxus, den sich ärmere Länder eigentlich nicht leisten können - im Zweifel erhalten auch Diktaturen Kredit. Sen nennt diesen Weg einmal den "nüchtern-harten" Weg und stellt ihm einen "freundlichen" Weg gegenüber: Entwicklung, so Sen, müsse als Erweiterung "realer Freiheiten" begriffen werden, weder das Bruttosozialprodukt noch die Höhe des durchschnittlichen Einkommens solle im Mittelpunkt stehen, wenn es darum geht, den Zustand einer Volkswirtschaft zu beurteilen.
Damit ist schon klar, dass Sen sich eines philosophischen Grundbegriffs bedient, um seine wirtschaftspolitischen Analysen neu zu justieren. Was ist reale Freiheit? Wir sind frei, wenn wir über die Fähigkeit verfügen, bestimmte wichtige Güter oder, wie Sen gelegentlich sagt, "Funktionsweisen" zu nutzen oder auch nicht zu nutzen. Im Lichte dieser Bestimmung sind wir etwa dann nicht frei, wenn wir zwar über ein hohes Einkommen verfügen, aber unsere politischen Ansichten nicht frei äußern können. Wir sind frei, wenn wir uns freiwillig entscheiden zu fasten, aber nicht, wenn wir keine Wahl haben und hungern müssen. Entscheidend ist also die Freiheit als Fähigkeit, Möglichkeiten zu nutzen oder nicht zu nutzen; entscheidend ist aber auch, dass es in diesem Sinne nicht nur eine generelle Freiheit gibt, sondern so viele Freiheiten, wie wir Möglichkeiten haben, wichtige Ziele zu verwirklichen.
Mit dieser Theorie der Freiheit als Fähigkeit hat Sen für philosophische Freiheitsmodelle wichtige Impulse geliefert. Die zentrale Pointe von "Ökonomie für den Menschen" ist aber letztlich keine philosophische; vielmehr versucht Sen zu zeigen, dass eine an der Wohlfahrt des Einzelnen orientierte Politik darauf hinarbeiten sollte, Strukturen und Bedingungen zu schaffen, die zur Entfaltung möglichst vieler Fähigkeiten beitragen, da nur eine solche Politik auch die im engeren Sinn ökonomischen Parameter verbessern wird. Das Recht auf demokratische Mitbestimmung etwa ist nicht ein Luxusbedürfnis, das zurückstehen sollte, wenn es darum geht, Hunger zu bekämpfen. Ganz im Gegenteil, politische Bürgerrechte können dazu beitragen, ökonomische Missstände rechtzeitig zu benennen, und erlauben es, eine "geeignete Sozialpolitik einzuklagen". In ähnlicher Weise lässt sich zeigen, dass die Kindersterblichkeit in Regionen sinkt, in denen Mütter und Frauen eine Schul- und Berufsausbildung erhalten. Bildung und Demokratie sind also aus ökonomischer Sicht mindestens so sinnvoll wie sie es an sich schon sind.
So kombiniert Sen in seinen Schriften auf einzigartige Weise philosophische Begrifflichkeit mit wirtschaftspolitischer Reflexion und plädiert lautstark für die Aufgabe manch orthodoxer Position. Er zweifelt etwa daran, das Realeinkommen, das die reale Kaufkraft eines Geldeinkommens indiziert, als Maßstab für Wohlergehen heranzuziehen. Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, so dass der gleiche Geldbetrag für den einen ausreichend ist, für den anderen aber nicht. Diese Pluralität wird durch einen einheitlichen Index verzerrt. Natürlich ist die Höhe des Einkommens ein wichtiger Indikator für Wohlergehen, aber er darf nicht verabsolutiert werden und bedarf einer Ergänzung um weitere Faktoren. Wir können nicht wissen, so Sen, "wie entscheidend die Einkommensdifferenzen sind, ohne dass wir ausdrücklich ihre Folgen in dem Bereich betrachten, der letztlich zählt. Wenn die Schlacht verloren ist, weil es an einem Nagel fehlte (. . .), dann macht dieser Nagel einen riesigen Unterschied aus, gleichgültig, wie trivial er sich im Bereich des Einkommens oder der Ausgaben ausnimmt."
Philosophisch ist Sens Modell der Verwirklichungschancen gar nicht einmal leicht einzuordnen, weil er Elemente von Aristoteles ebenso übernimmt wie Elemente von Kant oder des Utilitarismus. Sein berühmter Aufsatz "Rationale Dummköpfe", der schon 1977 erschien und nun wie der Aufsatz "Elemente einer Theorie der Menschenrechte" erstmals (leider mitunter schlecht redigiert) auf Deutsch vorliegt, macht diesen theoretischen Synkretismus sehr deutlich.
Als Angriffspunkt dieses Texts dient das Modell des Menschen als homo oeconomicus, also als Wesen, das sein Handeln einzig an der Maximierung des eigenen Nutzens orientiert. Für Sen steht fest, dass dieses Modell schon allein deswegen falsch sein muss, weil wir oft genug Verpflichtungen übernehmen, an denen wir auch dann festhalten, wenn dies "ein geringeres Maß an persönlichem Wohl enthält als eine ebenfalls verfügbare Alternative." Wir sind, anders gesagt, durchaus bereit, unser persönliches Wohl oder unseren unmittelbaren Nutzen zu opfern, wenn uns etwa an der Aufrechterhaltung einer Beziehung oder an der moralisch orientierten Erfüllung eines Versprechens etwas liegt. Der Punkt mag banal scheinen, und die Modellbauer ökonomischer Rationalität lässt er in der Regel unbeeindruckt. Für Sen aber folgt aus den Modellannahmen, dass der ökonomische Mensch auch als Idealtyp dumm sein muss, weil er die Komplexität und Vielfalt seiner eigenen Interessen und Bedürfnisse systematisch ausblendet.
Genau um diese Komplexität einzufangen, nutzt Sen die Ressourcen der klassischen und modernen Moralphilosophie, die zwar auf ihre Art auch eher modellhaft entwickelt werden, aber ein größeres Gespür für die oft durchaus konflikthaften Motivschichten realer Akteure haben. Gleichzeitig schärft der ökonomische Blick die philosophische Perspektive und zieht sie gelegentlich auf die Erde. Manchmal hilft es einfach zu wissen, was sich ereignet hat, um besser einzuschätzen, was sich ereignen soll. Das zeigt sich etwa, wenn Sen in seiner Menschenrechtstheorie annimmt, dass zur Einschätzung der Freiheit eines Menschen seine "tatsächlichen Möglichkeiten" und nicht nur die Mittel, über die er verfügt, berücksichtigt werden müssen.
Was tatsächlich möglich ist, hängt an vielem: an sozialen Kontakten ebenso wie an umfassender Gesundheitsfürsorge, robuster Sicherheit oder echten, nicht monopolartig verzerrten Märkten. Nur eine Gesellschaft, die diese Vielfalt an stützenden Strukturen schätzt und fördert, verdient es, reich genannt zu werden. So kann es nicht überraschen, dass Sen wirtschaftliche und soziale Rechte in seinen Menschenrechtskatalog integriert. Für manche ist das unrealistisch, aber Sen antwortet als Philosoph: Nur weil einige Rechte aktuell nicht umsetzbar sind, folgt keineswegs, dass sie keine Rechte sind.
MARTIN HARTMANN
Amartya Sen: "Ökonomie für den Menschen". Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Verlag, München 2020. 424 S., geb., 26,- [Euro].
Amartya Sen: "Elemente einer Theorie der Menschenrechte".
Aus dem Englischen von Ute Kruse-Ebeling. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 122 S., geb., 12,- [Euro].
Amartya Sen: "Rationale Dummköpfe". Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Aus dem Englischen von Valerie Gföhler. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 72 S., br., 6,- [Euro].
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Philosophisch gedacht und wirtschaftswissenschaftlich geerdet: Drei Neuerscheinungen des diesjährigen Friedenspreisträgers Amartya Sen
Der frisch gekürte Träger des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Amartya Sen, zählt zu den wenigen Denkern, die sowohl in den Wirtschaftswissenschaften als auch in der Philosophie Gehör finden. Wenn man manchen Kommentatoren glauben darf, ist seine Stellung in der Philosophie sogar als höher einzuschätzen als jene in den Wirtschaftswissenschaften. Sicher, Sen hat 1998 den Nobelpreis für seine Disziplin erhalten und wird gern als weltweit einflussreicher Ökonom gefeiert. Schaut man sich aber sein Werk genauer an, wird schnell deutlich, dass es von philosophischen Intuitionen getragen wird, die mit zentralen ökonomischen Thesen und Theorien brechen. Immer wieder, so könnte man etwas plakativ sagen, nutzt Sen sein philosophisches Werkzeug, um in den heiligen Hallen der Ökonomie die stützenden Wände mal mehr, mal weniger rabiat zu bearbeiten. Gerne, so darf man vermuten, würde er seiner Disziplin ein neues Fundament geben, so manche Wand darf, soll, ja muss fallen.
Ein Blick in drei deutsche Neuerscheinungen vermag zu erklären, warum diese kritische Sicht nicht jedem gefallen kann. "Ökonomie für den Menschen" geht aus Vorlesungen hervor, die Sen schon 1996 und 1997 vor der Weltbank gehalten hat. Gegenstand des Buches ist die Frage nach den besten Bedingungen für die Entwicklung von schwachen Volkswirtschaften. Die über Jahre gegebene Antwort der Weltbank auf diese Frage lautete: Austerität, Kürzungen im Sozialbereich, gebührenpflichtige Bildung und Gesundheitsvorsorge, Demokratisierung als Luxus, den sich ärmere Länder eigentlich nicht leisten können - im Zweifel erhalten auch Diktaturen Kredit. Sen nennt diesen Weg einmal den "nüchtern-harten" Weg und stellt ihm einen "freundlichen" Weg gegenüber: Entwicklung, so Sen, müsse als Erweiterung "realer Freiheiten" begriffen werden, weder das Bruttosozialprodukt noch die Höhe des durchschnittlichen Einkommens solle im Mittelpunkt stehen, wenn es darum geht, den Zustand einer Volkswirtschaft zu beurteilen.
Damit ist schon klar, dass Sen sich eines philosophischen Grundbegriffs bedient, um seine wirtschaftspolitischen Analysen neu zu justieren. Was ist reale Freiheit? Wir sind frei, wenn wir über die Fähigkeit verfügen, bestimmte wichtige Güter oder, wie Sen gelegentlich sagt, "Funktionsweisen" zu nutzen oder auch nicht zu nutzen. Im Lichte dieser Bestimmung sind wir etwa dann nicht frei, wenn wir zwar über ein hohes Einkommen verfügen, aber unsere politischen Ansichten nicht frei äußern können. Wir sind frei, wenn wir uns freiwillig entscheiden zu fasten, aber nicht, wenn wir keine Wahl haben und hungern müssen. Entscheidend ist also die Freiheit als Fähigkeit, Möglichkeiten zu nutzen oder nicht zu nutzen; entscheidend ist aber auch, dass es in diesem Sinne nicht nur eine generelle Freiheit gibt, sondern so viele Freiheiten, wie wir Möglichkeiten haben, wichtige Ziele zu verwirklichen.
Mit dieser Theorie der Freiheit als Fähigkeit hat Sen für philosophische Freiheitsmodelle wichtige Impulse geliefert. Die zentrale Pointe von "Ökonomie für den Menschen" ist aber letztlich keine philosophische; vielmehr versucht Sen zu zeigen, dass eine an der Wohlfahrt des Einzelnen orientierte Politik darauf hinarbeiten sollte, Strukturen und Bedingungen zu schaffen, die zur Entfaltung möglichst vieler Fähigkeiten beitragen, da nur eine solche Politik auch die im engeren Sinn ökonomischen Parameter verbessern wird. Das Recht auf demokratische Mitbestimmung etwa ist nicht ein Luxusbedürfnis, das zurückstehen sollte, wenn es darum geht, Hunger zu bekämpfen. Ganz im Gegenteil, politische Bürgerrechte können dazu beitragen, ökonomische Missstände rechtzeitig zu benennen, und erlauben es, eine "geeignete Sozialpolitik einzuklagen". In ähnlicher Weise lässt sich zeigen, dass die Kindersterblichkeit in Regionen sinkt, in denen Mütter und Frauen eine Schul- und Berufsausbildung erhalten. Bildung und Demokratie sind also aus ökonomischer Sicht mindestens so sinnvoll wie sie es an sich schon sind.
So kombiniert Sen in seinen Schriften auf einzigartige Weise philosophische Begrifflichkeit mit wirtschaftspolitischer Reflexion und plädiert lautstark für die Aufgabe manch orthodoxer Position. Er zweifelt etwa daran, das Realeinkommen, das die reale Kaufkraft eines Geldeinkommens indiziert, als Maßstab für Wohlergehen heranzuziehen. Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, so dass der gleiche Geldbetrag für den einen ausreichend ist, für den anderen aber nicht. Diese Pluralität wird durch einen einheitlichen Index verzerrt. Natürlich ist die Höhe des Einkommens ein wichtiger Indikator für Wohlergehen, aber er darf nicht verabsolutiert werden und bedarf einer Ergänzung um weitere Faktoren. Wir können nicht wissen, so Sen, "wie entscheidend die Einkommensdifferenzen sind, ohne dass wir ausdrücklich ihre Folgen in dem Bereich betrachten, der letztlich zählt. Wenn die Schlacht verloren ist, weil es an einem Nagel fehlte (. . .), dann macht dieser Nagel einen riesigen Unterschied aus, gleichgültig, wie trivial er sich im Bereich des Einkommens oder der Ausgaben ausnimmt."
Philosophisch ist Sens Modell der Verwirklichungschancen gar nicht einmal leicht einzuordnen, weil er Elemente von Aristoteles ebenso übernimmt wie Elemente von Kant oder des Utilitarismus. Sein berühmter Aufsatz "Rationale Dummköpfe", der schon 1977 erschien und nun wie der Aufsatz "Elemente einer Theorie der Menschenrechte" erstmals (leider mitunter schlecht redigiert) auf Deutsch vorliegt, macht diesen theoretischen Synkretismus sehr deutlich.
Als Angriffspunkt dieses Texts dient das Modell des Menschen als homo oeconomicus, also als Wesen, das sein Handeln einzig an der Maximierung des eigenen Nutzens orientiert. Für Sen steht fest, dass dieses Modell schon allein deswegen falsch sein muss, weil wir oft genug Verpflichtungen übernehmen, an denen wir auch dann festhalten, wenn dies "ein geringeres Maß an persönlichem Wohl enthält als eine ebenfalls verfügbare Alternative." Wir sind, anders gesagt, durchaus bereit, unser persönliches Wohl oder unseren unmittelbaren Nutzen zu opfern, wenn uns etwa an der Aufrechterhaltung einer Beziehung oder an der moralisch orientierten Erfüllung eines Versprechens etwas liegt. Der Punkt mag banal scheinen, und die Modellbauer ökonomischer Rationalität lässt er in der Regel unbeeindruckt. Für Sen aber folgt aus den Modellannahmen, dass der ökonomische Mensch auch als Idealtyp dumm sein muss, weil er die Komplexität und Vielfalt seiner eigenen Interessen und Bedürfnisse systematisch ausblendet.
Genau um diese Komplexität einzufangen, nutzt Sen die Ressourcen der klassischen und modernen Moralphilosophie, die zwar auf ihre Art auch eher modellhaft entwickelt werden, aber ein größeres Gespür für die oft durchaus konflikthaften Motivschichten realer Akteure haben. Gleichzeitig schärft der ökonomische Blick die philosophische Perspektive und zieht sie gelegentlich auf die Erde. Manchmal hilft es einfach zu wissen, was sich ereignet hat, um besser einzuschätzen, was sich ereignen soll. Das zeigt sich etwa, wenn Sen in seiner Menschenrechtstheorie annimmt, dass zur Einschätzung der Freiheit eines Menschen seine "tatsächlichen Möglichkeiten" und nicht nur die Mittel, über die er verfügt, berücksichtigt werden müssen.
Was tatsächlich möglich ist, hängt an vielem: an sozialen Kontakten ebenso wie an umfassender Gesundheitsfürsorge, robuster Sicherheit oder echten, nicht monopolartig verzerrten Märkten. Nur eine Gesellschaft, die diese Vielfalt an stützenden Strukturen schätzt und fördert, verdient es, reich genannt zu werden. So kann es nicht überraschen, dass Sen wirtschaftliche und soziale Rechte in seinen Menschenrechtskatalog integriert. Für manche ist das unrealistisch, aber Sen antwortet als Philosoph: Nur weil einige Rechte aktuell nicht umsetzbar sind, folgt keineswegs, dass sie keine Rechte sind.
MARTIN HARTMANN
Amartya Sen: "Ökonomie für den Menschen". Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Verlag, München 2020. 424 S., geb., 26,- [Euro].
Amartya Sen: "Elemente einer Theorie der Menschenrechte".
Aus dem Englischen von Ute Kruse-Ebeling. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 122 S., geb., 12,- [Euro].
Amartya Sen: "Rationale Dummköpfe". Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Aus dem Englischen von Valerie Gföhler. Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 72 S., br., 6,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Martin Hartmann stößt in dem erstmals 1977 erschienenen Buch von Amartya Sen über die Fragwürdigkeit des Modells des homo oeconomicus auf einen "theoretischen Synkretismus". Weil Sen Gedanken von Aristoteles mit Elementen von Kant oder des Utilitarismus kombiniert, entziehen sich seine Texte laut Rezensent einer leichten Einordnung. Dass der Autor in seiner Kritik der Ökonomischen Theorie moderne Moralphilosophie auf Realökonomie anwendet, scheint Hartmann indes durchaus wechselseitig erhellend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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