In ihrem zweiten Roman läßt Aglaja Veteranyi die erwachsen gewordene Erzählerin aus ihrem erfolgreichen Erstling "Warum das Kind in der Polenta kocht" einen neuen, geänderten Blick auf Familie und Leben werfen, hin- und hergerissen zwischen Mutter und Tante und immer neu auftauchender Verwandtschaft. Mit ihrem ersten Buch schrieb sich Aglaja Veteranyi in die Herzen ihrer Leser. In ihrem neuen Roman, den sie vor ihrem tragischen Tod vollenden konnte, erzählt sie von der inzwischen erwachsenen Heldin, die als junge Frau, verstrickt in die eigene Geschichte, versucht, sich aus ihren Zwängen zu lösen. Das Sterben der Tante gibt den Anstoß, auf ihr Leben zu blicken und den Familienkosmos zu durchleuchten. Wiederum besticht die Autorin durch ihre Sensibilität und Sprachkraft. Aglaja Veteranyi hat mit "Das Regal der letzten Atemzüge" ein eindrückliches, persönliches Andenken für ihre Leser hinterlassen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Sibylle Birrer hat den letzten Roman der im vergangenen Februar durch Selbstmord verstorbenen rumänisch-schweizerischen Autorin Aglaia Veteranyi gelesen. Darin bewegt sich die Autorin laut Birrer auf zwei Achsen, gebildet durch "das fremde Rumänien der Familienbande und die fremde Schweiz ihrer Gegenwart". Birrer begreift den Roman, der vom Sterben der Tante, begleitet von der Nichte, erzählt, nicht als Abschiedsbuch: "wer mit einer solchen Intensität von Sterben spricht, steht mitten im Leben". So lobt die Rezensentin das Können der Autorin, die "komplexe Geschichten in ganz einfachen und knappen Zügen" erzählt, "indem sie die Charaktere entlang ihrer Körperwärme skizziert". Daher trauert Birrer um diese besondere Stimme der Literaturwelt, deren letztes Buch eine Art "Totenkuchen" darstellt, von dem Lebende und Tote zehren: "Ganz in diesem Sinne leuchten die bunten Smarties auf ihrem Totenkuchen irgendwie herzlich zum Abschied".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Auch Augenklimpern kostet
Aglaja Veteranyis Protokoll der Warenwelt / Von Pia Reinacher
Zwei Geschichten kreuzen sich in diesem Roman: jene vom Sterben der Tante und jene vom Zerfall der eigenen Familie. Im Schnittpunkt beider Reden gähnt das schwarze Loch der Ausweglosigkeit. Daraus bezieht der Roman "Das Regal der letzten Atemzüge" von Aglaja Veteranyi seine Dynamik. In welchem Maß Schreiben als autobiographische Schwerarbeit und Überlebenstherapie angelegt war, offenbart sich damit auf einen Schlag. Die Schriftstellerin hat sich zu Beginn des Jahres in Zürich das Leben genommen (F.A.Z. vom 6. Februar). Seit langem hatte sie an ihrem zweiten Buch, das jetzt erschienen ist, gearbeitet.
Wer nun fürchtet, diese Publikation könnte das Produkt taktvoller postumer Empfindsamkeit sein, sieht sich getäuscht. Der schmale Band mit den merkwürdig gemeißelten Sätzen ist im Gegenteil ein Beleg für das literarische Potential, das da im Dunkeln pulsierte. Aglaja Veteranyi gehörte zu den begabtesten Nachwuchstalenten hierzulande. Dies, obwohl sie sich als rumänisches Zirkuskind die deutsche Sprache in einem mühsamen Alphabetisierungsprozeß erst selber beibringen mußte. Die naiven Sätze, die der Sprachlosigkeit abgerungen sind, entwickeln eine eigenartige Explosivkraft. Die Reduktion, die äußerste Sparsamkeit im Umgang mit den Wörtern gehören zum Erkennungszeichen dieser Prosa. Es ist, wie wenn sich diese verdichteten Sprachgebilde dem allgemeinen Stimmengewirr aufzwingen, der chaotischen Geräuschkulisse entgegenstellen und auf dieser Folie die eigene Geschichte einschreiben würden.
Aglaja Veteranyis Roman zehrt wie schon ihr Erstling mit dem merkwürdigen Titel "Warum das Kind in der Polenta kocht" (1999) vom eigenen Stoff. Damals war es das Kind, das in der anarchischen Zirkuswelt der rumänischen Eltern überleben und sich zurechtfinden mußte. "Wir dürfen nichts liebgewinnen", so lautete das Leitmotiv der Artistin, die sich jederzeit auf den Abbruch der prekären Heimat - ein paar Quadratmeter des Zirkuswagens - einrichten mußte. Jetzt ist es eine junge Frau, die den schleichenden Zerfall des Körpers ihrer Tante mitansieht. Sie steht ihr näher als die Mutter. Winzige Beobachtungen, erschreckende Vorgänge, abergläubische Rituale ballen sich zu einem Ereignis zusammen, das die Frau halb betäubt, halb zerfetzt, halb in ungläubiges Staunen versetzt. Sie sieht, wie der Kopf der Sterbenden mit dem Speichel herunterfällt; sie entdeckt den amputierten Fuß; sie beobachtet, wie die Krankenschwester den stinkenden Leib mit Lavendel einreibt; sie bemerkt plötzlich, wie das Sterben von unten anfängt: der Fuß wird kalt, dann erstarrt der ganze Leib. Als die Tante tot ist, bewegt sich ihre rechte Gesichtshälfte: ein Omen, das vom rumänischen Onkel sofort abergläubisch als Zeichen gedeutet wird, daß bald einer von ihnen nachfolgen werde.
Die Autorin findet für das Sterben scheinbar kindliche, zerstückelte, löchrige Sätze, die aber unversehens eindringliche Bilder formen. Sie leuchten im Text auf wie gespenstische Spiegelungen in der Wüste. Ihre Wirkung ist suggestiv: "Als die Tante starb, froren die Gesichter im Spiegel." Mit derselben kargen Hartnäckigkeit, mit der die Dämonie des Todes in den Text hereingeholt wird, schildert sie den unaufhaltsamen Untergang der Familie in der fremden Welt. Das Unglück entfaltet sich unter einer warmen Decke scheinbar neuer Geborgenheit: Zwar hat sich die Artistenfamilie aus bedrückenden rumänischen Verhältnissen in die glänzende schweizerische Bilderbuchwelt gerettet. Zwar werden ihr die Segnungen des reichen Westens sofort in Form von finanzieller Unterstützung und Eingliederungsangeboten zuteil. Und doch wird der Riß durch die eigene Identität immer tiefer.
Ein Leben im Niemandsland: Die Mutter empfindet Seßhaftigkeit als eine Schüttelkrankheit. Sie rafft Nerzmäntel, Krokodiltaschen und Chinateppiche zusammen und kann am Ende die Miete nicht mehr bezahlen. Man hält sich in der reglementierten Bürgerwelt mit Schlaumeieren und Betrügereien über Wasser und versinkt jeden Tag ein Stück weiter im Sumpf der Warenwelt. Der Vater verzichtet auf die Verlängerung des Ausländerausweises. Er wandert nach Australien aus, weil man in der Schweiz selbst fürs Augenklimpern bezahlen müsse. Der schwule Onkel Petru, der in der Heimat zwanzig Jahre lang im Gefängnis malträtiert wurde, lebt heimlich auf dem Dachboden bei der Tante. Als der Hausmeister mit Kündigung droht, reist er zurück nach Rumänien.
Das Ungewöhnliche ist nun, wie die Autorin das langsame Absterben der Ich-Erzählerin im Kreuzpunkt dieser Unglücksfährten beschreibt. Keineswegs mit virtuoser Brillanz. Auch nicht mit scharfsinniger intellektueller Analyse. Sondern mit Leerstellen und Pausen und stammelnder Rede. Dabei kommt nie Larmoyanz auf oder selbstgerechtes Schwelgen in Anklagen. Es ist nur so, daß die Frau überall nach Halt sucht und an all den lackierten Oberflächen abgleitet. Das ist das eigentlich Herausragende an diesem Text, das auch seinen besonderen Ton ausmacht: der Zusammenfall von Wissen und Ignoranz, die Gleichzeitigkeit von Ausgeliefertsein und Souveränität, die Doppelung von Sprachvermögen und Sprachangst. "Das Regal der letzten Atemzüge" ist das Protokoll eines Lebens im Bodenlosen inmitten von Seßhaften. Und damit ein bemerkenswertes, höchst aktuelles Dokument.
Aglaja Veteranyi: "Das Regal der letzten Atemzüge". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002. 132 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aglaja Veteranyis Protokoll der Warenwelt / Von Pia Reinacher
Zwei Geschichten kreuzen sich in diesem Roman: jene vom Sterben der Tante und jene vom Zerfall der eigenen Familie. Im Schnittpunkt beider Reden gähnt das schwarze Loch der Ausweglosigkeit. Daraus bezieht der Roman "Das Regal der letzten Atemzüge" von Aglaja Veteranyi seine Dynamik. In welchem Maß Schreiben als autobiographische Schwerarbeit und Überlebenstherapie angelegt war, offenbart sich damit auf einen Schlag. Die Schriftstellerin hat sich zu Beginn des Jahres in Zürich das Leben genommen (F.A.Z. vom 6. Februar). Seit langem hatte sie an ihrem zweiten Buch, das jetzt erschienen ist, gearbeitet.
Wer nun fürchtet, diese Publikation könnte das Produkt taktvoller postumer Empfindsamkeit sein, sieht sich getäuscht. Der schmale Band mit den merkwürdig gemeißelten Sätzen ist im Gegenteil ein Beleg für das literarische Potential, das da im Dunkeln pulsierte. Aglaja Veteranyi gehörte zu den begabtesten Nachwuchstalenten hierzulande. Dies, obwohl sie sich als rumänisches Zirkuskind die deutsche Sprache in einem mühsamen Alphabetisierungsprozeß erst selber beibringen mußte. Die naiven Sätze, die der Sprachlosigkeit abgerungen sind, entwickeln eine eigenartige Explosivkraft. Die Reduktion, die äußerste Sparsamkeit im Umgang mit den Wörtern gehören zum Erkennungszeichen dieser Prosa. Es ist, wie wenn sich diese verdichteten Sprachgebilde dem allgemeinen Stimmengewirr aufzwingen, der chaotischen Geräuschkulisse entgegenstellen und auf dieser Folie die eigene Geschichte einschreiben würden.
Aglaja Veteranyis Roman zehrt wie schon ihr Erstling mit dem merkwürdigen Titel "Warum das Kind in der Polenta kocht" (1999) vom eigenen Stoff. Damals war es das Kind, das in der anarchischen Zirkuswelt der rumänischen Eltern überleben und sich zurechtfinden mußte. "Wir dürfen nichts liebgewinnen", so lautete das Leitmotiv der Artistin, die sich jederzeit auf den Abbruch der prekären Heimat - ein paar Quadratmeter des Zirkuswagens - einrichten mußte. Jetzt ist es eine junge Frau, die den schleichenden Zerfall des Körpers ihrer Tante mitansieht. Sie steht ihr näher als die Mutter. Winzige Beobachtungen, erschreckende Vorgänge, abergläubische Rituale ballen sich zu einem Ereignis zusammen, das die Frau halb betäubt, halb zerfetzt, halb in ungläubiges Staunen versetzt. Sie sieht, wie der Kopf der Sterbenden mit dem Speichel herunterfällt; sie entdeckt den amputierten Fuß; sie beobachtet, wie die Krankenschwester den stinkenden Leib mit Lavendel einreibt; sie bemerkt plötzlich, wie das Sterben von unten anfängt: der Fuß wird kalt, dann erstarrt der ganze Leib. Als die Tante tot ist, bewegt sich ihre rechte Gesichtshälfte: ein Omen, das vom rumänischen Onkel sofort abergläubisch als Zeichen gedeutet wird, daß bald einer von ihnen nachfolgen werde.
Die Autorin findet für das Sterben scheinbar kindliche, zerstückelte, löchrige Sätze, die aber unversehens eindringliche Bilder formen. Sie leuchten im Text auf wie gespenstische Spiegelungen in der Wüste. Ihre Wirkung ist suggestiv: "Als die Tante starb, froren die Gesichter im Spiegel." Mit derselben kargen Hartnäckigkeit, mit der die Dämonie des Todes in den Text hereingeholt wird, schildert sie den unaufhaltsamen Untergang der Familie in der fremden Welt. Das Unglück entfaltet sich unter einer warmen Decke scheinbar neuer Geborgenheit: Zwar hat sich die Artistenfamilie aus bedrückenden rumänischen Verhältnissen in die glänzende schweizerische Bilderbuchwelt gerettet. Zwar werden ihr die Segnungen des reichen Westens sofort in Form von finanzieller Unterstützung und Eingliederungsangeboten zuteil. Und doch wird der Riß durch die eigene Identität immer tiefer.
Ein Leben im Niemandsland: Die Mutter empfindet Seßhaftigkeit als eine Schüttelkrankheit. Sie rafft Nerzmäntel, Krokodiltaschen und Chinateppiche zusammen und kann am Ende die Miete nicht mehr bezahlen. Man hält sich in der reglementierten Bürgerwelt mit Schlaumeieren und Betrügereien über Wasser und versinkt jeden Tag ein Stück weiter im Sumpf der Warenwelt. Der Vater verzichtet auf die Verlängerung des Ausländerausweises. Er wandert nach Australien aus, weil man in der Schweiz selbst fürs Augenklimpern bezahlen müsse. Der schwule Onkel Petru, der in der Heimat zwanzig Jahre lang im Gefängnis malträtiert wurde, lebt heimlich auf dem Dachboden bei der Tante. Als der Hausmeister mit Kündigung droht, reist er zurück nach Rumänien.
Das Ungewöhnliche ist nun, wie die Autorin das langsame Absterben der Ich-Erzählerin im Kreuzpunkt dieser Unglücksfährten beschreibt. Keineswegs mit virtuoser Brillanz. Auch nicht mit scharfsinniger intellektueller Analyse. Sondern mit Leerstellen und Pausen und stammelnder Rede. Dabei kommt nie Larmoyanz auf oder selbstgerechtes Schwelgen in Anklagen. Es ist nur so, daß die Frau überall nach Halt sucht und an all den lackierten Oberflächen abgleitet. Das ist das eigentlich Herausragende an diesem Text, das auch seinen besonderen Ton ausmacht: der Zusammenfall von Wissen und Ignoranz, die Gleichzeitigkeit von Ausgeliefertsein und Souveränität, die Doppelung von Sprachvermögen und Sprachangst. "Das Regal der letzten Atemzüge" ist das Protokoll eines Lebens im Bodenlosen inmitten von Seßhaften. Und damit ein bemerkenswertes, höchst aktuelles Dokument.
Aglaja Veteranyi: "Das Regal der letzten Atemzüge". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002. 132 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2002Wie eine zweite Haut
Aglaja Veteranyis Roman „Das Regal der letzten Atemzüge”
Unruhig flackernde, dunkle Augen, schnelle Bewegungen, schwarze Locken, meist eine Stoffmütze auf dem Kopf. Wer unter fünfzig paradierenden deutschsprachigen Autoren ein Zirkuskind hätte zeigen sollen, wäre geradewegs auf sie zugelaufen. Aglaja Veteranyi, die 1962 in Bukarest geborene, als Siebzehnjährige nach Zürich gekommene Tochter eines Clowns und einer Hochseil-Artistin entsprach äußerlich so sehr dem Vagabunden-Klischee, dass ihre Texte für den gelenkig einordnenden Literaturkonsum nicht taugen wollten. Doch nie hat Thomas Hettche, ein für seine feinen Analyseanstrengungen und abrupten Ausfälle geliebter Bachmann-Preis-Juror, schiefer gelegen als in seinem showreifen 1999er Kurzstatement, was er gehört habe, sei „unerträglicher Kinder-Rumänien-Armuts-Zirkus-Kitsch”.
Eher stimmt, was Hettche damals anfügte: „Ein fürchterlicher Text”. Schon in ihrem Erstling „Warum das Kind in der Polenta kocht”, aus dem Aglaja Veteranyi damals in Klagenfurt las, ist nicht nur das inzwischen übliche Zur- Sprache-Bringen der eigenen Fremdheit da, gibt es mehr zu lesen als sympathieheischende Bilder aus dem poetischen Überfluss des Ostens: Nein, „das Kind kocht in der Polenta” nicht, weil diese gut schmeckt, sondern „weil es der Mutter eine Schere ins Gesicht gesteckt hat”. Was sich da sprunghaft surrealistisch von Sentenz zu Sentenz entwickelt, ist ein Familien-Hass-Roman, wie es ihn in der deutschsprachigen Literatur sonst nicht gibt. Familienromane sind hierzulande gewöhnlicherweise innerlichkeitsorientiert, denn für die wirklich ernsten Fälle gibt es skandalträchtige Opferberichte, da traut sich die Literatur selten hin.
Und wie will man jetzt ordentlich mit dem Faktum umgehen, dass eine vierzigjährige Schriftstellerin ihren zweiten Roman fast ausschließlich dem Thema Tod widmet und sich noch vor Abschluss des Textes wirklich umbringt? Darf man in einem solchen Roman auch noch schreiben: „ich selbstmordete mich täglich, hängte mich am Heizkörper auf (...) lag zerfetzt auf den Geleisen, erstickte in einem Plastiksack oder zog an meiner Zunge, bis alles rauskam. Ich starb an Dunkelheit, Sommer, Traurigkeit oder an langer Haut. Vor allem starb ich an meiner Mutter, die mir aus dem Gesicht wuchs.”
Was ist ein langes Gesicht?
Wie geht das zusammen, dieses flapsige „selbstmordete”, das banal direkte „bis alles rauskam” und die anschließende, überliefert schöne Romantik des an der Dunkelheit Sterbens, die dann in das seltsame Bild der „langen Haut” mündet. Wie soll die Mutter, an der man stirbt, aus dem Gesicht herauswachsen?
Das auf den ersten Blick Disparate von Aglaja Veteranyis Texten hat damit zu tun, dass sie nicht durchgehend auf eine Weise schreibt; dass sich in ihrem Schreiben das tägliche Leben, traditionsbewusste literarische Phantasien, in Bilder umgesetzte Gedanken und Gefühle in aller Dichte mischen; dass diese temporeiche Mischung ihr Stil ist, dass, wer ihn verstehen und nicht nur genießen will, manchmal über diese Wörter nachdenken muss. Gelegentlich reicht allerdings auch etwas Vorstellungskraft: Warum hat jemand ein langes Gesicht? Weil er lange Knochen, eine lange Haut hat?
Ursprünglich wollte Veteranyi, so das Nachwort des Lektors und des Lebensgefährten, in ihrem neuen Roman „Das Regal der letzten Atemzüge” das Leben einer erwachsen werdenden Frau erzählen. Die Verabschiedung der Kinderperspektive des Erstlings ist in der Tat gelungen, doch ein biografisches Ereignis hat das neue Buch derart stark geprägt, dass es zur großen Klage eines sehr autobiografischen Ichs über den Tod einer geliebten Frau geworden ist.
Diese Frau war die Tante, und sie war das Gegenbild der verhassten Mutter, die schön gewesen sein soll „wie Bambi”, aber nur zum Anschauen da; die das dreizehnjährige Kind zum Feigenblatt-Tanz in Nachtbars abgerichtet hat, usw. Während das Mädchen zur Tante ins Bett kriechen konnte.
„Die Hände der Tante waren dünn geworden. Sie lagen wie abgebrochen aufeinander.” Doch sie stirbt „von unten her”, zuerst ein Zeh, dann der Fuß. „Die Haut des abgeschnittenen Fußes wurde wie Teig aufeinander gelegt. In der Mitte war eine Öffnung, ein Mund. Der Fuß schrie.”
Auch die ungeliebte Mutter will ihre Schwester nicht los lassen. Die Hauspsychologin des schweizerischen „Erholungsheims” kommt: „Ihre Schwester liegt im Sterben, verstehen Sie das? Nein, sagte meine Mutter.” Die Mutter schüttelt die Schwester: „Geh nicht! Hörst du! Ich bin’s, hörst du? Die Tante riss die Augen auf. Sie waren mit Eiter überzogen. Wie eine zweite Haut. Ihr Mund schnappte nach Luft. Die Mutter ohrfeigen, das wäre der richtige Augenblick gewesen. Ich stieß sie aus dem Zimmer.”
Frische Luft schadet der Leiche
Aglaja Veteranyis schillernde stilistische Vielseitigkeit bewährt sich gerade am schwierigen Sujet Tod. Schwarzer Humor (Costel, ein Besucher, schließt das Fenster: „Frische Luft schadet der Leiche”) und sachlich-sarkastische Beschreibungen („Der Onkel griff der Tante zwischen die Beine und schnitt den Katheterschlauch durch. Er hing wie eine Nabelschnur. Den Rest ließ er in der Tante.”) haben hier nichts mit Splatter-Ästhetik für gelangweilte Buben zu tun. Der direkte Stil entspricht der Nähe zur sinnlich erfahrbaren Welt, ob sie gerade „gut” oder „böse” sei. Costel sagt es so: „Hier kann man die Nüsse gemahlen kaufen, ich weiß. Gefüttertes Toilettenpapier, geschnittenen Salat (...)”. Und fügt dann hinzu: „Ich will meine Hände nicht daran gewöhnen, dass sie die Tüten nur zu öffnen brauchen. Sonst werden sie zu Hause verrückt.” Das ist kein Kitsch.
Ein kraftvoller Trauer–, Wut- und Verzweiflungs-Drive bestimmt den gesamten Text, der weit eindringlicher ist als die „Polenta”. Doch über die Lebensgeschichte der Tante, die bis Südamerika gekommen ist, bevor sie in der Schweiz stirbt; über einige Nebenfiguren wie den schwulen, verrückten Maler Onkel Petru, der aus der Schweiz wieder ausgewiesen wird und über den bekanntesten aller Schuhmacher, Nicolae Ceausescu, geht dieser sehr privaten Todes- und Leidensgeschichte die Außenperspektive nicht verloren: Die dramatische Lebenswahrnehmung der Figuren hat ihre Basis in einer unsicheren sozialen Welt.
Zwiespältig wirkt das sehr persönlich gehaltene Nachwort. Es ist in mancher Hinsicht informativ, bietet aber auch klassische Beispiele für Sätze, die in Nachworten nicht unterlaufen sollten. Der Text sei „übernommen” worden, „wie von der Autorin hinterlassen”, wird behauptet. Dann aber folgt: „Allein offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die Unterteilung in Teile und Kapitel, die noch nicht durchgängig vorgenommen war, wurde nach dem Vorbild der ,Polenta‘ eingerichtet.” Jede Begründung für die Notwendigkeit der „Unterteilung” fehlt, ebenso jede Markierung der Einfügungen. Man vermutet Rücksicht auf „den Leser”, der aber gern gelesen hätte, was Aglaja Veteranyi selber als Letztes schrieb.
Die Autorin hat nach dem Misserfolg beim Bachmann-Wettbewerb für ihren ersten Roman einige Preise erhalten. Für ihren zweiten, so preiswürdig er ist, wird sie keinen mehr entgegen nehmen können. Aglaja Veteranyi litt an einem mysteriösen Augenleiden und konnte schließlich, in Depression versunken, offenbar nicht mehr schreiben. Lapidar endet die Agenturmeldung über ihren Tod in der Nacht zum 3. Februar 2002, in der die deutschsprachige Literatur eines ihrer kraftvollsten und eigenwilligsten Talente verlor: „Am frühen Sonntag morgen hat sie ein Spaziergänger am Ufer des Zürichsees tot aufgefunden.” HANS-PETER KUNISCH
AGLAJA VETERANYI: Das Regal der letzten Atemzüge. Roman. Mit einem Nachwort von Werner Löcher-Lawrence und Jens Nielsen. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und München 2002. 132 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Aglaja Veteranyis Roman „Das Regal der letzten Atemzüge”
Unruhig flackernde, dunkle Augen, schnelle Bewegungen, schwarze Locken, meist eine Stoffmütze auf dem Kopf. Wer unter fünfzig paradierenden deutschsprachigen Autoren ein Zirkuskind hätte zeigen sollen, wäre geradewegs auf sie zugelaufen. Aglaja Veteranyi, die 1962 in Bukarest geborene, als Siebzehnjährige nach Zürich gekommene Tochter eines Clowns und einer Hochseil-Artistin entsprach äußerlich so sehr dem Vagabunden-Klischee, dass ihre Texte für den gelenkig einordnenden Literaturkonsum nicht taugen wollten. Doch nie hat Thomas Hettche, ein für seine feinen Analyseanstrengungen und abrupten Ausfälle geliebter Bachmann-Preis-Juror, schiefer gelegen als in seinem showreifen 1999er Kurzstatement, was er gehört habe, sei „unerträglicher Kinder-Rumänien-Armuts-Zirkus-Kitsch”.
Eher stimmt, was Hettche damals anfügte: „Ein fürchterlicher Text”. Schon in ihrem Erstling „Warum das Kind in der Polenta kocht”, aus dem Aglaja Veteranyi damals in Klagenfurt las, ist nicht nur das inzwischen übliche Zur- Sprache-Bringen der eigenen Fremdheit da, gibt es mehr zu lesen als sympathieheischende Bilder aus dem poetischen Überfluss des Ostens: Nein, „das Kind kocht in der Polenta” nicht, weil diese gut schmeckt, sondern „weil es der Mutter eine Schere ins Gesicht gesteckt hat”. Was sich da sprunghaft surrealistisch von Sentenz zu Sentenz entwickelt, ist ein Familien-Hass-Roman, wie es ihn in der deutschsprachigen Literatur sonst nicht gibt. Familienromane sind hierzulande gewöhnlicherweise innerlichkeitsorientiert, denn für die wirklich ernsten Fälle gibt es skandalträchtige Opferberichte, da traut sich die Literatur selten hin.
Und wie will man jetzt ordentlich mit dem Faktum umgehen, dass eine vierzigjährige Schriftstellerin ihren zweiten Roman fast ausschließlich dem Thema Tod widmet und sich noch vor Abschluss des Textes wirklich umbringt? Darf man in einem solchen Roman auch noch schreiben: „ich selbstmordete mich täglich, hängte mich am Heizkörper auf (...) lag zerfetzt auf den Geleisen, erstickte in einem Plastiksack oder zog an meiner Zunge, bis alles rauskam. Ich starb an Dunkelheit, Sommer, Traurigkeit oder an langer Haut. Vor allem starb ich an meiner Mutter, die mir aus dem Gesicht wuchs.”
Was ist ein langes Gesicht?
Wie geht das zusammen, dieses flapsige „selbstmordete”, das banal direkte „bis alles rauskam” und die anschließende, überliefert schöne Romantik des an der Dunkelheit Sterbens, die dann in das seltsame Bild der „langen Haut” mündet. Wie soll die Mutter, an der man stirbt, aus dem Gesicht herauswachsen?
Das auf den ersten Blick Disparate von Aglaja Veteranyis Texten hat damit zu tun, dass sie nicht durchgehend auf eine Weise schreibt; dass sich in ihrem Schreiben das tägliche Leben, traditionsbewusste literarische Phantasien, in Bilder umgesetzte Gedanken und Gefühle in aller Dichte mischen; dass diese temporeiche Mischung ihr Stil ist, dass, wer ihn verstehen und nicht nur genießen will, manchmal über diese Wörter nachdenken muss. Gelegentlich reicht allerdings auch etwas Vorstellungskraft: Warum hat jemand ein langes Gesicht? Weil er lange Knochen, eine lange Haut hat?
Ursprünglich wollte Veteranyi, so das Nachwort des Lektors und des Lebensgefährten, in ihrem neuen Roman „Das Regal der letzten Atemzüge” das Leben einer erwachsen werdenden Frau erzählen. Die Verabschiedung der Kinderperspektive des Erstlings ist in der Tat gelungen, doch ein biografisches Ereignis hat das neue Buch derart stark geprägt, dass es zur großen Klage eines sehr autobiografischen Ichs über den Tod einer geliebten Frau geworden ist.
Diese Frau war die Tante, und sie war das Gegenbild der verhassten Mutter, die schön gewesen sein soll „wie Bambi”, aber nur zum Anschauen da; die das dreizehnjährige Kind zum Feigenblatt-Tanz in Nachtbars abgerichtet hat, usw. Während das Mädchen zur Tante ins Bett kriechen konnte.
„Die Hände der Tante waren dünn geworden. Sie lagen wie abgebrochen aufeinander.” Doch sie stirbt „von unten her”, zuerst ein Zeh, dann der Fuß. „Die Haut des abgeschnittenen Fußes wurde wie Teig aufeinander gelegt. In der Mitte war eine Öffnung, ein Mund. Der Fuß schrie.”
Auch die ungeliebte Mutter will ihre Schwester nicht los lassen. Die Hauspsychologin des schweizerischen „Erholungsheims” kommt: „Ihre Schwester liegt im Sterben, verstehen Sie das? Nein, sagte meine Mutter.” Die Mutter schüttelt die Schwester: „Geh nicht! Hörst du! Ich bin’s, hörst du? Die Tante riss die Augen auf. Sie waren mit Eiter überzogen. Wie eine zweite Haut. Ihr Mund schnappte nach Luft. Die Mutter ohrfeigen, das wäre der richtige Augenblick gewesen. Ich stieß sie aus dem Zimmer.”
Frische Luft schadet der Leiche
Aglaja Veteranyis schillernde stilistische Vielseitigkeit bewährt sich gerade am schwierigen Sujet Tod. Schwarzer Humor (Costel, ein Besucher, schließt das Fenster: „Frische Luft schadet der Leiche”) und sachlich-sarkastische Beschreibungen („Der Onkel griff der Tante zwischen die Beine und schnitt den Katheterschlauch durch. Er hing wie eine Nabelschnur. Den Rest ließ er in der Tante.”) haben hier nichts mit Splatter-Ästhetik für gelangweilte Buben zu tun. Der direkte Stil entspricht der Nähe zur sinnlich erfahrbaren Welt, ob sie gerade „gut” oder „böse” sei. Costel sagt es so: „Hier kann man die Nüsse gemahlen kaufen, ich weiß. Gefüttertes Toilettenpapier, geschnittenen Salat (...)”. Und fügt dann hinzu: „Ich will meine Hände nicht daran gewöhnen, dass sie die Tüten nur zu öffnen brauchen. Sonst werden sie zu Hause verrückt.” Das ist kein Kitsch.
Ein kraftvoller Trauer–, Wut- und Verzweiflungs-Drive bestimmt den gesamten Text, der weit eindringlicher ist als die „Polenta”. Doch über die Lebensgeschichte der Tante, die bis Südamerika gekommen ist, bevor sie in der Schweiz stirbt; über einige Nebenfiguren wie den schwulen, verrückten Maler Onkel Petru, der aus der Schweiz wieder ausgewiesen wird und über den bekanntesten aller Schuhmacher, Nicolae Ceausescu, geht dieser sehr privaten Todes- und Leidensgeschichte die Außenperspektive nicht verloren: Die dramatische Lebenswahrnehmung der Figuren hat ihre Basis in einer unsicheren sozialen Welt.
Zwiespältig wirkt das sehr persönlich gehaltene Nachwort. Es ist in mancher Hinsicht informativ, bietet aber auch klassische Beispiele für Sätze, die in Nachworten nicht unterlaufen sollten. Der Text sei „übernommen” worden, „wie von der Autorin hinterlassen”, wird behauptet. Dann aber folgt: „Allein offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die Unterteilung in Teile und Kapitel, die noch nicht durchgängig vorgenommen war, wurde nach dem Vorbild der ,Polenta‘ eingerichtet.” Jede Begründung für die Notwendigkeit der „Unterteilung” fehlt, ebenso jede Markierung der Einfügungen. Man vermutet Rücksicht auf „den Leser”, der aber gern gelesen hätte, was Aglaja Veteranyi selber als Letztes schrieb.
Die Autorin hat nach dem Misserfolg beim Bachmann-Wettbewerb für ihren ersten Roman einige Preise erhalten. Für ihren zweiten, so preiswürdig er ist, wird sie keinen mehr entgegen nehmen können. Aglaja Veteranyi litt an einem mysteriösen Augenleiden und konnte schließlich, in Depression versunken, offenbar nicht mehr schreiben. Lapidar endet die Agenturmeldung über ihren Tod in der Nacht zum 3. Februar 2002, in der die deutschsprachige Literatur eines ihrer kraftvollsten und eigenwilligsten Talente verlor: „Am frühen Sonntag morgen hat sie ein Spaziergänger am Ufer des Zürichsees tot aufgefunden.” HANS-PETER KUNISCH
AGLAJA VETERANYI: Das Regal der letzten Atemzüge. Roman. Mit einem Nachwort von Werner Löcher-Lawrence und Jens Nielsen. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und München 2002. 132 Seiten, 16,90 Euro.
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"Hier schreibt eine Artistin auf dem hohen Seil, und ich schaue ihr von unten zu, und mir stockt der Atem." (Peter Bichsel über 'Warum das Kind in der Polenta kocht')