In ihrem zweiten Roman läßt Aglaja Veteranyi die erwachsen gewordene Erzählerin aus ihrem erfolgreichen Erstling "Warum das Kind in der Polenta kocht" einen neuen, geänderten Blick auf Familie und Leben werfen, hin- und hergerissen zwischen Mutter und Tante und immer neu auftauchender Verwandtschaft. Mit ihrem ersten Buch schrieb sich Aglaja Veteranyi in die Herzen ihrer Leser. In ihrem neuen Roman, den sie vor ihrem tragischen Tod vollenden konnte, erzählt sie von der inzwischen erwachsenen Heldin, die als junge Frau, verstrickt in die eigene Geschichte, versucht, sich aus ihren Zwängen zu lösen. Das Sterben der Tante gibt den Anstoß, auf ihr Leben zu blicken und den Familienkosmos zu durchleuchten. Wiederum besticht die Autorin durch ihre Sensibilität und Sprachkraft. Aglaja Veteranyi hat mit "Das Regal der letzten Atemzüge" ein eindrückliches, persönliches Andenken für ihre Leser hinterlassen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Sibylle Birrer hat den letzten Roman der im vergangenen Februar durch Selbstmord verstorbenen rumänisch-schweizerischen Autorin Aglaia Veteranyi gelesen. Darin bewegt sich die Autorin laut Birrer auf zwei Achsen, gebildet durch "das fremde Rumänien der Familienbande und die fremde Schweiz ihrer Gegenwart". Birrer begreift den Roman, der vom Sterben der Tante, begleitet von der Nichte, erzählt, nicht als Abschiedsbuch: "wer mit einer solchen Intensität von Sterben spricht, steht mitten im Leben". So lobt die Rezensentin das Können der Autorin, die "komplexe Geschichten in ganz einfachen und knappen Zügen" erzählt, "indem sie die Charaktere entlang ihrer Körperwärme skizziert". Daher trauert Birrer um diese besondere Stimme der Literaturwelt, deren letztes Buch eine Art "Totenkuchen" darstellt, von dem Lebende und Tote zehren: "Ganz in diesem Sinne leuchten die bunten Smarties auf ihrem Totenkuchen irgendwie herzlich zum Abschied".
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Auch Augenklimpern kostet
Aglaja Veteranyis Protokoll der Warenwelt / Von Pia Reinacher
Zwei Geschichten kreuzen sich in diesem Roman: jene vom Sterben der Tante und jene vom Zerfall der eigenen Familie. Im Schnittpunkt beider Reden gähnt das schwarze Loch der Ausweglosigkeit. Daraus bezieht der Roman "Das Regal der letzten Atemzüge" von Aglaja Veteranyi seine Dynamik. In welchem Maß Schreiben als autobiographische Schwerarbeit und Überlebenstherapie angelegt war, offenbart sich damit auf einen Schlag. Die Schriftstellerin hat sich zu Beginn des Jahres in Zürich das Leben genommen (F.A.Z. vom 6. Februar). Seit langem hatte sie an ihrem zweiten Buch, das jetzt erschienen ist, gearbeitet.
Wer nun fürchtet, diese Publikation könnte das Produkt taktvoller postumer Empfindsamkeit sein, sieht sich getäuscht. Der schmale Band mit den merkwürdig gemeißelten Sätzen ist im Gegenteil ein Beleg für das literarische Potential, das da im Dunkeln pulsierte. Aglaja Veteranyi gehörte zu den begabtesten Nachwuchstalenten hierzulande. Dies, obwohl sie sich als rumänisches Zirkuskind die deutsche Sprache in einem mühsamen Alphabetisierungsprozeß erst selber beibringen mußte. Die naiven Sätze, die der Sprachlosigkeit abgerungen sind, entwickeln eine eigenartige Explosivkraft. Die Reduktion, die äußerste Sparsamkeit im Umgang mit den Wörtern gehören zum Erkennungszeichen dieser Prosa. Es ist, wie wenn sich diese verdichteten Sprachgebilde dem allgemeinen Stimmengewirr aufzwingen, der chaotischen Geräuschkulisse entgegenstellen und auf dieser Folie die eigene Geschichte einschreiben würden.
Aglaja Veteranyis Roman zehrt wie schon ihr Erstling mit dem merkwürdigen Titel "Warum das Kind in der Polenta kocht" (1999) vom eigenen Stoff. Damals war es das Kind, das in der anarchischen Zirkuswelt der rumänischen Eltern überleben und sich zurechtfinden mußte. "Wir dürfen nichts liebgewinnen", so lautete das Leitmotiv der Artistin, die sich jederzeit auf den Abbruch der prekären Heimat - ein paar Quadratmeter des Zirkuswagens - einrichten mußte. Jetzt ist es eine junge Frau, die den schleichenden Zerfall des Körpers ihrer Tante mitansieht. Sie steht ihr näher als die Mutter. Winzige Beobachtungen, erschreckende Vorgänge, abergläubische Rituale ballen sich zu einem Ereignis zusammen, das die Frau halb betäubt, halb zerfetzt, halb in ungläubiges Staunen versetzt. Sie sieht, wie der Kopf der Sterbenden mit dem Speichel herunterfällt; sie entdeckt den amputierten Fuß; sie beobachtet, wie die Krankenschwester den stinkenden Leib mit Lavendel einreibt; sie bemerkt plötzlich, wie das Sterben von unten anfängt: der Fuß wird kalt, dann erstarrt der ganze Leib. Als die Tante tot ist, bewegt sich ihre rechte Gesichtshälfte: ein Omen, das vom rumänischen Onkel sofort abergläubisch als Zeichen gedeutet wird, daß bald einer von ihnen nachfolgen werde.
Die Autorin findet für das Sterben scheinbar kindliche, zerstückelte, löchrige Sätze, die aber unversehens eindringliche Bilder formen. Sie leuchten im Text auf wie gespenstische Spiegelungen in der Wüste. Ihre Wirkung ist suggestiv: "Als die Tante starb, froren die Gesichter im Spiegel." Mit derselben kargen Hartnäckigkeit, mit der die Dämonie des Todes in den Text hereingeholt wird, schildert sie den unaufhaltsamen Untergang der Familie in der fremden Welt. Das Unglück entfaltet sich unter einer warmen Decke scheinbar neuer Geborgenheit: Zwar hat sich die Artistenfamilie aus bedrückenden rumänischen Verhältnissen in die glänzende schweizerische Bilderbuchwelt gerettet. Zwar werden ihr die Segnungen des reichen Westens sofort in Form von finanzieller Unterstützung und Eingliederungsangeboten zuteil. Und doch wird der Riß durch die eigene Identität immer tiefer.
Ein Leben im Niemandsland: Die Mutter empfindet Seßhaftigkeit als eine Schüttelkrankheit. Sie rafft Nerzmäntel, Krokodiltaschen und Chinateppiche zusammen und kann am Ende die Miete nicht mehr bezahlen. Man hält sich in der reglementierten Bürgerwelt mit Schlaumeieren und Betrügereien über Wasser und versinkt jeden Tag ein Stück weiter im Sumpf der Warenwelt. Der Vater verzichtet auf die Verlängerung des Ausländerausweises. Er wandert nach Australien aus, weil man in der Schweiz selbst fürs Augenklimpern bezahlen müsse. Der schwule Onkel Petru, der in der Heimat zwanzig Jahre lang im Gefängnis malträtiert wurde, lebt heimlich auf dem Dachboden bei der Tante. Als der Hausmeister mit Kündigung droht, reist er zurück nach Rumänien.
Das Ungewöhnliche ist nun, wie die Autorin das langsame Absterben der Ich-Erzählerin im Kreuzpunkt dieser Unglücksfährten beschreibt. Keineswegs mit virtuoser Brillanz. Auch nicht mit scharfsinniger intellektueller Analyse. Sondern mit Leerstellen und Pausen und stammelnder Rede. Dabei kommt nie Larmoyanz auf oder selbstgerechtes Schwelgen in Anklagen. Es ist nur so, daß die Frau überall nach Halt sucht und an all den lackierten Oberflächen abgleitet. Das ist das eigentlich Herausragende an diesem Text, das auch seinen besonderen Ton ausmacht: der Zusammenfall von Wissen und Ignoranz, die Gleichzeitigkeit von Ausgeliefertsein und Souveränität, die Doppelung von Sprachvermögen und Sprachangst. "Das Regal der letzten Atemzüge" ist das Protokoll eines Lebens im Bodenlosen inmitten von Seßhaften. Und damit ein bemerkenswertes, höchst aktuelles Dokument.
Aglaja Veteranyi: "Das Regal der letzten Atemzüge". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002. 132 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aglaja Veteranyis Protokoll der Warenwelt / Von Pia Reinacher
Zwei Geschichten kreuzen sich in diesem Roman: jene vom Sterben der Tante und jene vom Zerfall der eigenen Familie. Im Schnittpunkt beider Reden gähnt das schwarze Loch der Ausweglosigkeit. Daraus bezieht der Roman "Das Regal der letzten Atemzüge" von Aglaja Veteranyi seine Dynamik. In welchem Maß Schreiben als autobiographische Schwerarbeit und Überlebenstherapie angelegt war, offenbart sich damit auf einen Schlag. Die Schriftstellerin hat sich zu Beginn des Jahres in Zürich das Leben genommen (F.A.Z. vom 6. Februar). Seit langem hatte sie an ihrem zweiten Buch, das jetzt erschienen ist, gearbeitet.
Wer nun fürchtet, diese Publikation könnte das Produkt taktvoller postumer Empfindsamkeit sein, sieht sich getäuscht. Der schmale Band mit den merkwürdig gemeißelten Sätzen ist im Gegenteil ein Beleg für das literarische Potential, das da im Dunkeln pulsierte. Aglaja Veteranyi gehörte zu den begabtesten Nachwuchstalenten hierzulande. Dies, obwohl sie sich als rumänisches Zirkuskind die deutsche Sprache in einem mühsamen Alphabetisierungsprozeß erst selber beibringen mußte. Die naiven Sätze, die der Sprachlosigkeit abgerungen sind, entwickeln eine eigenartige Explosivkraft. Die Reduktion, die äußerste Sparsamkeit im Umgang mit den Wörtern gehören zum Erkennungszeichen dieser Prosa. Es ist, wie wenn sich diese verdichteten Sprachgebilde dem allgemeinen Stimmengewirr aufzwingen, der chaotischen Geräuschkulisse entgegenstellen und auf dieser Folie die eigene Geschichte einschreiben würden.
Aglaja Veteranyis Roman zehrt wie schon ihr Erstling mit dem merkwürdigen Titel "Warum das Kind in der Polenta kocht" (1999) vom eigenen Stoff. Damals war es das Kind, das in der anarchischen Zirkuswelt der rumänischen Eltern überleben und sich zurechtfinden mußte. "Wir dürfen nichts liebgewinnen", so lautete das Leitmotiv der Artistin, die sich jederzeit auf den Abbruch der prekären Heimat - ein paar Quadratmeter des Zirkuswagens - einrichten mußte. Jetzt ist es eine junge Frau, die den schleichenden Zerfall des Körpers ihrer Tante mitansieht. Sie steht ihr näher als die Mutter. Winzige Beobachtungen, erschreckende Vorgänge, abergläubische Rituale ballen sich zu einem Ereignis zusammen, das die Frau halb betäubt, halb zerfetzt, halb in ungläubiges Staunen versetzt. Sie sieht, wie der Kopf der Sterbenden mit dem Speichel herunterfällt; sie entdeckt den amputierten Fuß; sie beobachtet, wie die Krankenschwester den stinkenden Leib mit Lavendel einreibt; sie bemerkt plötzlich, wie das Sterben von unten anfängt: der Fuß wird kalt, dann erstarrt der ganze Leib. Als die Tante tot ist, bewegt sich ihre rechte Gesichtshälfte: ein Omen, das vom rumänischen Onkel sofort abergläubisch als Zeichen gedeutet wird, daß bald einer von ihnen nachfolgen werde.
Die Autorin findet für das Sterben scheinbar kindliche, zerstückelte, löchrige Sätze, die aber unversehens eindringliche Bilder formen. Sie leuchten im Text auf wie gespenstische Spiegelungen in der Wüste. Ihre Wirkung ist suggestiv: "Als die Tante starb, froren die Gesichter im Spiegel." Mit derselben kargen Hartnäckigkeit, mit der die Dämonie des Todes in den Text hereingeholt wird, schildert sie den unaufhaltsamen Untergang der Familie in der fremden Welt. Das Unglück entfaltet sich unter einer warmen Decke scheinbar neuer Geborgenheit: Zwar hat sich die Artistenfamilie aus bedrückenden rumänischen Verhältnissen in die glänzende schweizerische Bilderbuchwelt gerettet. Zwar werden ihr die Segnungen des reichen Westens sofort in Form von finanzieller Unterstützung und Eingliederungsangeboten zuteil. Und doch wird der Riß durch die eigene Identität immer tiefer.
Ein Leben im Niemandsland: Die Mutter empfindet Seßhaftigkeit als eine Schüttelkrankheit. Sie rafft Nerzmäntel, Krokodiltaschen und Chinateppiche zusammen und kann am Ende die Miete nicht mehr bezahlen. Man hält sich in der reglementierten Bürgerwelt mit Schlaumeieren und Betrügereien über Wasser und versinkt jeden Tag ein Stück weiter im Sumpf der Warenwelt. Der Vater verzichtet auf die Verlängerung des Ausländerausweises. Er wandert nach Australien aus, weil man in der Schweiz selbst fürs Augenklimpern bezahlen müsse. Der schwule Onkel Petru, der in der Heimat zwanzig Jahre lang im Gefängnis malträtiert wurde, lebt heimlich auf dem Dachboden bei der Tante. Als der Hausmeister mit Kündigung droht, reist er zurück nach Rumänien.
Das Ungewöhnliche ist nun, wie die Autorin das langsame Absterben der Ich-Erzählerin im Kreuzpunkt dieser Unglücksfährten beschreibt. Keineswegs mit virtuoser Brillanz. Auch nicht mit scharfsinniger intellektueller Analyse. Sondern mit Leerstellen und Pausen und stammelnder Rede. Dabei kommt nie Larmoyanz auf oder selbstgerechtes Schwelgen in Anklagen. Es ist nur so, daß die Frau überall nach Halt sucht und an all den lackierten Oberflächen abgleitet. Das ist das eigentlich Herausragende an diesem Text, das auch seinen besonderen Ton ausmacht: der Zusammenfall von Wissen und Ignoranz, die Gleichzeitigkeit von Ausgeliefertsein und Souveränität, die Doppelung von Sprachvermögen und Sprachangst. "Das Regal der letzten Atemzüge" ist das Protokoll eines Lebens im Bodenlosen inmitten von Seßhaften. Und damit ein bemerkenswertes, höchst aktuelles Dokument.
Aglaja Veteranyi: "Das Regal der letzten Atemzüge". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002. 132 S., geb., 16,90 [Euro].
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"Hier schreibt eine Artistin auf dem hohen Seil, und ich schaue ihr von unten zu, und mir stockt der Atem." (Peter Bichsel über 'Warum das Kind in der Polenta kocht')