In der aktuellen Flüchtlingsdebatte stellt sich immer dringlicher die Frage nach einem neuen Gesellschaftsvertrag. Dabei sind insbesondere drei Aspekte zu berücksichtigen: erstens die politische Durchsetzung von Menschenrechten als eine moderne Errungenschaft der Geschichte;zweitens die soziale Unterfütterung dieses rechtlichen Schutzes durch uralte kulturelle Werte wie Empathie und Solidarität, und drittens ein Kanon von Regeln des fairen und respektvollen Zusammenlebens unter Einheimischen und Zugewanderten. Für diesen Kanon, der jenseits kultureller Differenzen als gemeinsame Verpflichtung anerkannt wird, schlägt Friedenspreisträgerin Aleida Assmann den Begriff der »Menschenpflichten« vor, deren fünftausendjährige Geschichte sie rekonstruiert und für die Gegenwart aktualisiert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2018Ideen, die bewegen Menschenrechte und Pressefreiheit sind Schwerpunktthemen der 70. Frankfurter Buchmesse
Jenseits der Barmherzigkeit
In ihrem neuen Buch „Menschenrechte und Menschenpflichten“ plädiert
die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“
VON ANDREAS ZIELCKE
Als der Börsenverein im Juni meldete, dass Aleida und Jan Assmann den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten werden, lenkte er den Blick ausdrücklich auch auf eine kleine, im Jahr zuvor erschienene Schrift von Aleida Assmann mit dem Titel „Menschenrechte und Menschenpflichten“. In dem Buch plädiere „sie angesichts der aktuellen Flüchtlingsdebatte für einen neuen Gesellschaftsvertrag, für den die Menschenrechte, Werte wie Empathie und Solidarität sowie ein Kanon von Regeln für ein faires und respektvolles Zusammenleben von Einheimischen und Zugewanderten maßgeblich sind.“
Da nun der Scheinwerfer plötzlich auf „dieses unscheinbare Bändchen“, wie es Aleida Assmann selbst bezeichnet, gerichtet war, sah sie sich ermutigt, ihr doch sehr fragmentarisches Plädoyer noch vor der Preisverleihung auszubauen und neu aufzulegen. Der Titel ist unverändert, nur der Untertitel „Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft“ zeigt die Neufassung an. Noch immer ist es ein schmaler Band, und nach wie vor bleibt sein Ertrag zur Frage, wie bedeutsam Menschenrechte für den Umgang mit Flüchtlingen sind, recht überschaubar. Umso gehaltvoller aber erörtert er jetzt „Schlüsselbegriffe“ wie Geselligkeit, Anerkennung, Respekt oder Empathie. Paradoxerweise liefert das Buch damit zugleich starke Gründe, warum es nicht wirklich um einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ geht.
Formen der Mitmenschlichkeit wie Anteilnahme, Anstand oder Mitgefühl zur Menschenpflicht zu erklären, ist ein alter Gedanke der Ethik, selbst Kant nannte die „Freundschaft unter Menschen eine Pflicht derselben“. Doch in das Korsett durchsetzbarer Schuldigkeit oder gar Rechtspflicht kann man sie nicht zwängen, ohne sie um ihren humanen Antrieb zu bringen; das erkennt auch Aleida Assman an. Dann könnte aber auch kein Gesellschaftsvertrag soziale Verhaltenstugenden auferlegen, die nur als intrinsische Haltung zu den zivilisatorischen Errungenschaften werden, für die das Buch wirbt.
Und dieses Werben gelingt dem Buch am besten, wo es nicht appelliert, sondern erklärt. Hier bewährt sich die gerühmte Kulturwissenschaftlerin, die besondere Erfahrung damit hat, wie sich soziale Bewusstseinsmuster in diversen Zeit- und Kulturschichten herausbilden, verändern oder eben auch verformen. Je mehr die Flüchtlingsdebatte geprägt ist von neu-alten Bocksgesängen, Nostalgien und als überwunden geglaubten Fundamentalismen, desto weniger kann es schaden, rote Fäden und Entwicklungspfade für eine zeitgemäße Zivilität zu finden.
Schon im alten Ägypten lehrten Weisheiten, Idealbiografien und Maximen, dass einen nichts mehr auszeichnet, als Notleidenden, Schwachen und Besitzlosen zur Seite zu stehen. Wer weiß, wieweit solche Losungen tatsächlich befolgt wurden, doch als Gebote des guten Lebens galten sie drei Jahrtausende, um später „im neuen Gewand der christlichen Werke der Barmherzigkeit“ wieder aufzuleben. Ob ein solcher direkter Übergang ohne die griechisch-römischen und jüdischen Zwischenstufen plausibel erscheint, ist fraglich, charakteristisch ist aber, dass sowohl das altägyptische Ethos als auch die christliche Barmherzigkeit nicht selbstlos gedacht sind: im Jenseits oder Himmel wartet die Belohnung.
Die für heute relevante Entwicklung löst sich seit dem späten Mittelalter vom karitativen Motiv und Almosengeist, indem sich Regeln der Höflichkeit und friedlicher Umgangsformen herausbilden, die nun nicht nur von säkularer, sondern im emphatischen Sinn auch von sozialer Natur sind, weil sie zugleich tief in die gesellschaftliche Struktur hineinwirken. Nach und nach entstehen an den Höfen, in Handelsszenen und Bürgerschaften von aufblühenden Stadtzentren wie London neue Formen des zivilen Umgangs, der Geselligkeit, der Urbanität und überhaupt eines offeneren, neugierigeren und weltläufigeren Austauschs mit Dritten und Fremden.
Niklas Luhmann vereinfachend könnte man sagen, nicht mehr Status und Förmlichkeit oder das gemeinsame Regelwerk des Glaubens, sondern die Kommunikation als solche trägt und formt jetzt die Vergemeinschaftung. Dass dies über lokale Horizonte hinaus gelingt, liegt nicht zuletzt an den immer wirkungsvolleren Medien Geld und Handel, die alle Unterschiede zwischen Einheimischen und anderen, zwischen Innen und Außen neutralisieren. Aleida Assmann spricht von einer neuen „Anthropologie der Sozialität“. Zu Recht besteht sie darauf, dass Sozialität nicht verstanden wird, wenn nur die Einzelperson, das idealistische Ich, das bürgerliche Individuum in den Blick gerät. Empathie, Solidarität, Respekt, ja selbst die höchstpersönliche Identität ist nur in intersubjektiven Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten.
Es reicht nicht, sich mit den Augen des anderen sehen zu können – die eigene Identität wäre eine Chimäre und im gesellschaftlichen Getriebe im Nu vom Winde verweht, würde der andere einen nicht ebenfalls so sehen und vor allem, würde er einen nicht als sein Gegenüber mit all den Besonderheiten anerkennen.
Jede Identität, ob individuelle oder kollektive, ist ein Ringen um Anerkennung. Sie ist ständig von diesem zumindest stillschweigenden performativen Akt des sozialen Umfelds abhängig. Ein sehr prekärer Faktor nicht nur der menschlichen Existenz, sondern der menschlichen Freiheit. Warum im Moment so viele in allen westlichen Demokratien das Gefühl haben, dass ihrer Identität die nötige Anerkennung versagt und damit ihre soziale Geltung infrage gestellt wird, kann ein kleines Buch wie dieses von Aleida Assmann natürlich nicht klären. Wer könnte das schon? Aber dass hier eine der Quellen für Ohnmacht, Wut und Ausbruch liegt, das macht es trotz seiner Knappheit deutlich.
Aleida Assmann: Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft. Picus Verlag, Wien 2018. 192 S., 22 Euro
Das altägyptische Ethos wie
die christliche Barmherzigkeit
sind nicht selbstlos gedacht
Warum haben derzeit so viele
das Gefühl, dass ihrer Identität
die Anerkennung versagt wird?
Am Sonntag erhalten sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Aleida und Jan Assmann.
Foto: Gion Pfander / epd
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Jenseits der Barmherzigkeit
In ihrem neuen Buch „Menschenrechte und Menschenpflichten“ plädiert
die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“
VON ANDREAS ZIELCKE
Als der Börsenverein im Juni meldete, dass Aleida und Jan Assmann den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten werden, lenkte er den Blick ausdrücklich auch auf eine kleine, im Jahr zuvor erschienene Schrift von Aleida Assmann mit dem Titel „Menschenrechte und Menschenpflichten“. In dem Buch plädiere „sie angesichts der aktuellen Flüchtlingsdebatte für einen neuen Gesellschaftsvertrag, für den die Menschenrechte, Werte wie Empathie und Solidarität sowie ein Kanon von Regeln für ein faires und respektvolles Zusammenleben von Einheimischen und Zugewanderten maßgeblich sind.“
Da nun der Scheinwerfer plötzlich auf „dieses unscheinbare Bändchen“, wie es Aleida Assmann selbst bezeichnet, gerichtet war, sah sie sich ermutigt, ihr doch sehr fragmentarisches Plädoyer noch vor der Preisverleihung auszubauen und neu aufzulegen. Der Titel ist unverändert, nur der Untertitel „Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft“ zeigt die Neufassung an. Noch immer ist es ein schmaler Band, und nach wie vor bleibt sein Ertrag zur Frage, wie bedeutsam Menschenrechte für den Umgang mit Flüchtlingen sind, recht überschaubar. Umso gehaltvoller aber erörtert er jetzt „Schlüsselbegriffe“ wie Geselligkeit, Anerkennung, Respekt oder Empathie. Paradoxerweise liefert das Buch damit zugleich starke Gründe, warum es nicht wirklich um einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ geht.
Formen der Mitmenschlichkeit wie Anteilnahme, Anstand oder Mitgefühl zur Menschenpflicht zu erklären, ist ein alter Gedanke der Ethik, selbst Kant nannte die „Freundschaft unter Menschen eine Pflicht derselben“. Doch in das Korsett durchsetzbarer Schuldigkeit oder gar Rechtspflicht kann man sie nicht zwängen, ohne sie um ihren humanen Antrieb zu bringen; das erkennt auch Aleida Assman an. Dann könnte aber auch kein Gesellschaftsvertrag soziale Verhaltenstugenden auferlegen, die nur als intrinsische Haltung zu den zivilisatorischen Errungenschaften werden, für die das Buch wirbt.
Und dieses Werben gelingt dem Buch am besten, wo es nicht appelliert, sondern erklärt. Hier bewährt sich die gerühmte Kulturwissenschaftlerin, die besondere Erfahrung damit hat, wie sich soziale Bewusstseinsmuster in diversen Zeit- und Kulturschichten herausbilden, verändern oder eben auch verformen. Je mehr die Flüchtlingsdebatte geprägt ist von neu-alten Bocksgesängen, Nostalgien und als überwunden geglaubten Fundamentalismen, desto weniger kann es schaden, rote Fäden und Entwicklungspfade für eine zeitgemäße Zivilität zu finden.
Schon im alten Ägypten lehrten Weisheiten, Idealbiografien und Maximen, dass einen nichts mehr auszeichnet, als Notleidenden, Schwachen und Besitzlosen zur Seite zu stehen. Wer weiß, wieweit solche Losungen tatsächlich befolgt wurden, doch als Gebote des guten Lebens galten sie drei Jahrtausende, um später „im neuen Gewand der christlichen Werke der Barmherzigkeit“ wieder aufzuleben. Ob ein solcher direkter Übergang ohne die griechisch-römischen und jüdischen Zwischenstufen plausibel erscheint, ist fraglich, charakteristisch ist aber, dass sowohl das altägyptische Ethos als auch die christliche Barmherzigkeit nicht selbstlos gedacht sind: im Jenseits oder Himmel wartet die Belohnung.
Die für heute relevante Entwicklung löst sich seit dem späten Mittelalter vom karitativen Motiv und Almosengeist, indem sich Regeln der Höflichkeit und friedlicher Umgangsformen herausbilden, die nun nicht nur von säkularer, sondern im emphatischen Sinn auch von sozialer Natur sind, weil sie zugleich tief in die gesellschaftliche Struktur hineinwirken. Nach und nach entstehen an den Höfen, in Handelsszenen und Bürgerschaften von aufblühenden Stadtzentren wie London neue Formen des zivilen Umgangs, der Geselligkeit, der Urbanität und überhaupt eines offeneren, neugierigeren und weltläufigeren Austauschs mit Dritten und Fremden.
Niklas Luhmann vereinfachend könnte man sagen, nicht mehr Status und Förmlichkeit oder das gemeinsame Regelwerk des Glaubens, sondern die Kommunikation als solche trägt und formt jetzt die Vergemeinschaftung. Dass dies über lokale Horizonte hinaus gelingt, liegt nicht zuletzt an den immer wirkungsvolleren Medien Geld und Handel, die alle Unterschiede zwischen Einheimischen und anderen, zwischen Innen und Außen neutralisieren. Aleida Assmann spricht von einer neuen „Anthropologie der Sozialität“. Zu Recht besteht sie darauf, dass Sozialität nicht verstanden wird, wenn nur die Einzelperson, das idealistische Ich, das bürgerliche Individuum in den Blick gerät. Empathie, Solidarität, Respekt, ja selbst die höchstpersönliche Identität ist nur in intersubjektiven Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten.
Es reicht nicht, sich mit den Augen des anderen sehen zu können – die eigene Identität wäre eine Chimäre und im gesellschaftlichen Getriebe im Nu vom Winde verweht, würde der andere einen nicht ebenfalls so sehen und vor allem, würde er einen nicht als sein Gegenüber mit all den Besonderheiten anerkennen.
Jede Identität, ob individuelle oder kollektive, ist ein Ringen um Anerkennung. Sie ist ständig von diesem zumindest stillschweigenden performativen Akt des sozialen Umfelds abhängig. Ein sehr prekärer Faktor nicht nur der menschlichen Existenz, sondern der menschlichen Freiheit. Warum im Moment so viele in allen westlichen Demokratien das Gefühl haben, dass ihrer Identität die nötige Anerkennung versagt und damit ihre soziale Geltung infrage gestellt wird, kann ein kleines Buch wie dieses von Aleida Assmann natürlich nicht klären. Wer könnte das schon? Aber dass hier eine der Quellen für Ohnmacht, Wut und Ausbruch liegt, das macht es trotz seiner Knappheit deutlich.
Aleida Assmann: Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft. Picus Verlag, Wien 2018. 192 S., 22 Euro
Das altägyptische Ethos wie
die christliche Barmherzigkeit
sind nicht selbstlos gedacht
Warum haben derzeit so viele
das Gefühl, dass ihrer Identität
die Anerkennung versagt wird?
Am Sonntag erhalten sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Aleida und Jan Assmann.
Foto: Gion Pfander / epd
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Dieses Buch von Aleida Assmann ist bereits vor einem Jahr erschienen, angesichts des Friedenspreises für die Autorin und ihren Ehemann, den Ägyptologen Jan Assmann, jetzt um einen zweiten Teil erweitert worden, informiert Kritiker Ulrich Gutmair. Im ersten Teil beschreibt Assmann, wie sich der "Kanon der guten Lebensführung" über die Jahrhunderte global gebildet hat. Dabei steht die Pflicht zu einem zivilisierten sozialen Umgang neben den universell geltenden Menschenrechten, lesen wir. Im zweiten Teil erklärt Assmann ganz konkret, wie wichtig Höflichkeit, Anstand, Zivilität, Anerkennung, Respekt und Empathie sind - wobei sie Empathie und Respekt nicht uneingeschränkt empfehlen kann. So ausgerüstet, meint Gutmair, braucht man fürs gute Zusammenleben keine spezifisch deutsche Leitkultur mehr.
© Perlentaucher Medien GmbH
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