BÉNÉDICTE SAVOY STEHT AUF DER TIME-LISTE DER "100 MOST INFLUENTIAL PEOPLE 2021" WIE AFRIKA SCHON VOR 50 JAHREN UM SEINE KUNST KÄMPFTE - UND VERLOR Schon vor 50 Jahren kämpfte Afrika um seine Kunst, die während der Kolonialzeit massenweise in europäische Museen gelangt war. Und es fand durchaus Unterstützung im Westen. Am Ende jedoch war der Kampf nicht nur vergebens, er wurde auch erfolgreich vergessen gemacht. Auf der Grundlage von unzähligen unbekannten Quellen aus Europa und Afrika erzählt Bénédicte Savoy die gespenstische Geschichte einer verpassten Chance, einer Niederlage, die heute mit umso größerer Wucht auf uns zurückschlägt. Afrikas Bemühungen um seine in der Kolonialzeit nach Europa verbrachte Kunst sind keineswegs neu. Schon bald nach 1960, als 18 ehemalige Kolonien die Unabhängigkeit erlangten, wurde von afrikanischen Intellektuellen, Politikern und Museumsleuten eine ungeheure Dynamik in Gang gesetzt. In ganz Europa suchten daraufhin Politikerinnen und Politiker, Journalisten, Akademiker und einige Musemsleute einen Weg, afrikanische Kulturgüter im Sinne einer postkolonialen und postrassistischen Solidarität zurückzugeben. Die Argumente aber, mit denen andere versuchten, die Forderungen aus Afrika zu entkräften und Lösungen zu verhindern, ähneln auf frappierende Weise denen von heute. Schließlich verlief alles im Sand. Bénédicte Savoy verfolgt den postkolonialen Aufbruch und sein Ersticken und fragt, welche Akteure, Strukturen und Ideologien damals dafür sorgten, dass das Projekt einer geordneten, fairen Rückgabe von Kulturgütern traurig scheiterte. * Ein historisches Lehrstück von unheimlicher Aktualität * Die Geschichte einer verpassten Chance nach dem Ende des Kolonialismus * Bénédicte Savoy ist Koautorin des vielbeachteten "Berichts über die Restitution afrikanischer Kulturgüter" für Emmanuel Macron * Nur zehn Prozent der afrikanischen Kulturgüter befinden sich heute auf afrikanischem Boden
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Kulturkampf, erster Akt
Bénédicte Savoy ist die wichtigste wissenschaftliche Stimme in der Debatte um die Rückgabe während der Kolonialzeit entwendeter afrikanischer Kunstwerke. Ihr neues Buch schildert, wie sich die Staaten Afrikas um Restitutionen bemühten - und wie sie scheiterten.
Von Andreas Kilb
Im Januar 1965 veröffentlicht die in Dakar, der Hauptstadt des Senegals, erscheinende Monatszeitschrift "Bingo" einen Leitartikel ihres Chefredakteurs, des in Dahomey unter französischer Kolonialherrschaft geborenen und in Gabun aufgewachsenen Schriftstellers und Journalisten Paulin Joachim. In dem Text mit dem Titel "Rendez-nous l'art nègre" ("Gebt uns die Negerkunst zurück") fordert Joachim seine Leser auf, "an allen Fronten in Europa und Amerika" die "Schlacht" um die Rückgewinnung afrikanischer Kunstwerke zu schlagen. Die Rückgewinnung der "materiellen Zeugnisse der schwarzafrikanischen Seele", so Joachim, könne dem Kontinent "ein wenig vom Stolz Griechenlands schenken", das ebenfalls ausgeplündert worden sei. Doch der Leitartikler begnügt sich nicht damit, Forderungen zu erheben; er malt sich auch aus, wie die Gegenseite darauf reagieren wird.
"Wir haben geplündert", lässt Paulin Joachim die Museumsleute des Westens sagen, "um die künstlerischen Produktionen der schwarzen Welt vor Würmern und Termiten, vor dem Rauch eurer Hütten zu schützen. In Wahrheit schulden uns die Afrikaner unendliche Dankbarkeit für die Arbeit, die wir da geleistet haben. Sie verdanken uns das Überleben ihrer traditionellen Kunst, die heute in den Augen der ganzen Welt ihr seit langem geleugnetes Genie veranschaulicht."
Wenn man diese Sätze im Jahr 2021 liest, weiß man kaum, worüber man mehr bestürzt sein soll: darüber, dass auch nach einem halben Jahrhundert postkolonialer Restitutionsdebatten noch immer dieselben Begründungen gegen die Rückgabe von Kunstwerken aus Afrika bemüht werden; oder über die Klarheit, mit der ihr Verfasser schon kurz nach der Unabhängigkeit der meisten schwarzafrikanischen Staaten die kommenden Kulturkämpfe vorweggenommen hat. Die Tonlage der Zurück- und Zurechtweisungen, die die Eigentumsansprüche der Afrikaner in Europa und Amerika ausgelöst haben, trifft Paulin Joachim jedenfalls genau. Von den drei Hauptargumenten der Restitutionsgegner lässt er nur das dritte aus, vermutlich, weil es ihm schon anno 1965 absurd erschien - dass nämlich die beanspruchten Objekte auf faire und ehrliche Weise von ihren heutigen Besitzern erworben wurden.
Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy zitiert Joachims Kommentar im ersten Kapitel ihrer Studie über die "Geschichte einer postkolonialen Niederlage": den verlorenen Kampf um die Restitution afrikanischer Kunst in den siebziger Jahren. Selten wohl hat ein wissenschaftliches Buch so ins Schwarze eines aufgeheizten Expertenstreits getroffen wie dieses. Die Autorin selbst steht im Zentrum der Debatte, seit sie 2017 die mangelnde Transparenz der geplanten ethnologischen Dauerausstellung im Berliner Humboldt-Forum mit einem Tschernobyl-Vergleich anprangerte. Savoys Intervention beförderte das Thema koloniale Raubkunst aus der Aktivisten-Ecke auf die Ebene der Politik. Ein Jahr später entwarf sie zusammen mit ihrem senegalesischen Kollegen Felwine Sarr im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Macron den ersten konkreten Aktionsplan zur Dekolonialisierung der Museen ihres Geburtslandes. Der Bericht von Sarr und Savoy löste viel Widerspruch aus und blieb in praktischer Hinsicht größtenteils folgenlos, aber sein Appell hallt bis heute nach. Auch das Humboldt-Forum hat sich von Savoys Attacke bislang noch nicht wieder erholt.
Nach diesem Vorlauf durfte man von dem neuen Buch ein weiteres massives antikoloniales Statement erwarten. Aber "Afrikas Kampf um seine Kunst" ist alles andere als eine Polemik. Vielmehr zeichnet Savoy anhand von Archivmaterial in allen Einzelheiten nach, wie mehrere afrikanische Staaten, allen voran Nigeria und Zaire, seit ihrer Unabhängigkeit versucht haben, Teile ihres in westlichen Museen lagernden Kulturerbes zurückzuerlangen - und wie der Westen diese Versuche abschmetterte oder ins Leere laufen ließ. Dabei ist weniger die institutionelle Form der Ablehnungen empörend - denn das Eigentumsrecht praktisch aller kunstbesitzenden Staaten lässt summarische Restitutionen nach wie vor nicht zu - als die Haltung, aus der heraus sie erfolgten. Diese Haltung lässt sich in dem von Museumsverantwortlichen vielfach variierten Satz zusammenfassen, dass die Kulturgüter Afrikas in Europa und Amerika am besten aufgehoben seien, weil sie dort erstens geschützt und zweitens von Experten betreut würden. Das zugehörige Geschichtsbild verriet Werner Knopp, von 1977 bis 1998 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, mit seiner gesprächsweise gemachten Bemerkung, es sei eben ein historisch wiederkehrendes Phänomen, "dass der politisch oder wirtschaftlich Unterlegene Gegenstände verschiedenen Charakters an den Überlegenen abgeben" müsse. So war damals der herrschende Ton.
Savoys Studie konzentriert sich, wie es naheliegt, auf Westdeutschland, ohne deshalb die Schauplätze London, Paris oder auch Ost-Berlin gänzlich auszublenden. Im Zentrum des Geschehens aber steht eine Gruppe älterer Männer, die seinerzeit an den Schalthebeln der deutschen Museumsmacht saßen: Hans-Georg Wormit, bis 1976 Preußenstiftungspräsident, und sein Nachfolger Knopp; Stephan Waetzoldt, bis 1983 Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin; Friedrich Kußmaul, bis 1986 Direktor des Linden-Museums in Stuttgart; und Hermann Auer, bis 1992 Präsident der deutschen Sektion des Internationalen Museumsrates ICOM.
Als ab Anfang der siebziger Jahre aus Afrika die ersten Anträge auf Leihgaben und später auf Restitutionen eingingen, war den Beteiligten sofort klar, was auf dem Spiel stand. "Der Bestand ganzer Völkerkundemuseen, archäologischer Museen und vorderasiatischer Abteilungen" komme für Rückgabeforderungen in Frage, meldete Waetzoldt an Knopp. Auf diese Horrorvision reagierten die Hierarchen wie Wanderer im Sturm: Sie rückten zusammen. 1978 gründeten Kußmaul, Auer und Knopp mit Gleichgesinnten in Bonn die Arbeitsgruppe "Rückgabe von Kulturgut", die die deutschen Anstrengungen zur Nichtrückgabe koordinierte. In einem Memorandum erklärten sie, es stünde im Widerspruch zur Kulturfreiheit, "wenn Kunstwerke in ein Land gebracht würden, nur weil sie dort erzeugt wurden". Auch vor der Erstellung von Objektlisten warnten die Experten, weil so "Begehrlichkeiten erst recht geweckt" würden. Bevor Rückgaben in Betracht kämen, müsse sichergestellt sein, "dass in den betroffenen Ländern wirklich nichts mehr an Kulturgut ist". Denn: "Sehr oft haben sie nämlich sehr viel, wissen es aber nicht."
Den einsamen Gegenpol zu dieser Betonfraktion bildete der Direktor des Bremer Überseemuseums, Herbert Ganslmayr. Ganslmayr, der jahrelang in Nigeria gelebt hatte, sah Restitutionen als kulturellen Beitrag zur Entwicklungshilfe und wurde darin von Außenpolitikern wie Hildegard Hamm-Brücher unterstützt. 1984 veröffentlichte er mit dem Journalisten Gert von Paczensky die Streitschrift "Nofretete will nach Hause". Das Buch wurde allgemein verrissen, und den Mitgliedern der Bonner Gruppe gelang es, Ganslmayr politisch auszubremsen. Aber in der Öffentlichkeit war das Thema gesetzt.
Warum ist damals trotzdem nichts passiert? Savoys Chronologie endet, nach unzähligen Artikeln, Filmen, Unesco-Resolutionen, Schriftwechseln und Fernsehsendungen, im Jahr 1985 mit einer Initiative der Grünen im baden-württembergischen Landtag, aus der nichts folgte. Zuvor hat die Autorin beiläufig das "langsame Verschwinden der kulturellen Eliten" Afrikas und das Erlöschen der Rückgabeforderungen konstatiert. Aber den Blick auf die politischen Hintergründe und damit die historische Einordnung der Vorgänge, die sie beschreibt, bleibt sie uns schuldig.
Dabei lässt sich diese Geschichtsstunde leicht nachholen. Nigeria, das an der Spitze der Restitutionsbewegung gestanden hatte, geriet durch die Ölkrise in eine Abwärtsspirale, die in den Militärputsch von 1983 mündete. Im Kongo entwickelte sich die populäre Diktatur Mobutus zum Terrorregime. Staaten wie Ghana, Tansania, Kamerun und Mali erging es ähnlich. Die Kultureliten dieser Länder verschwanden nicht einfach, sie wurden ins Exil getrieben, inhaftiert oder ermordet. Ihren Verfolgern war private Bereicherung wichtiger als der symbolische Gewinn durch die Rückholung afrikanischer Kunst.
Das bedeutet nicht, dass die Ansprüche Afrikas auf sein Kulturerbe auch nur einen Deut weniger legitim sind. Aber die frühe Formulierung und das Scheitern dieser Ansprüche gehören in einen geschichtlichen Zusammenhang, dem auch das skandalöse Verhalten der damaligen deutschen Kulturgranden entsprungen ist. Hätten sie anders reagiert, wäre uns vermutlich manche ideologische Verirrung in der aktuellen Kolonialismusdebatte erspart geblieben. So gesehen hat Bénédicte Savoy nicht nur eine Darstellung dessen geschrieben, was in den siebziger Jahren falsch gelaufen ist. Ihr Buch zeigt auch, was man heute richtig machen kann.
Bénédicte Savoy: "Afrikas Kampf um seine Kunst". Geschichte einer postkolonialen Niederlage.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 256 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Erscheint am 18. März.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bénédicte Savoy ist die wichtigste wissenschaftliche Stimme in der Debatte um die Rückgabe während der Kolonialzeit entwendeter afrikanischer Kunstwerke. Ihr neues Buch schildert, wie sich die Staaten Afrikas um Restitutionen bemühten - und wie sie scheiterten.
Von Andreas Kilb
Im Januar 1965 veröffentlicht die in Dakar, der Hauptstadt des Senegals, erscheinende Monatszeitschrift "Bingo" einen Leitartikel ihres Chefredakteurs, des in Dahomey unter französischer Kolonialherrschaft geborenen und in Gabun aufgewachsenen Schriftstellers und Journalisten Paulin Joachim. In dem Text mit dem Titel "Rendez-nous l'art nègre" ("Gebt uns die Negerkunst zurück") fordert Joachim seine Leser auf, "an allen Fronten in Europa und Amerika" die "Schlacht" um die Rückgewinnung afrikanischer Kunstwerke zu schlagen. Die Rückgewinnung der "materiellen Zeugnisse der schwarzafrikanischen Seele", so Joachim, könne dem Kontinent "ein wenig vom Stolz Griechenlands schenken", das ebenfalls ausgeplündert worden sei. Doch der Leitartikler begnügt sich nicht damit, Forderungen zu erheben; er malt sich auch aus, wie die Gegenseite darauf reagieren wird.
"Wir haben geplündert", lässt Paulin Joachim die Museumsleute des Westens sagen, "um die künstlerischen Produktionen der schwarzen Welt vor Würmern und Termiten, vor dem Rauch eurer Hütten zu schützen. In Wahrheit schulden uns die Afrikaner unendliche Dankbarkeit für die Arbeit, die wir da geleistet haben. Sie verdanken uns das Überleben ihrer traditionellen Kunst, die heute in den Augen der ganzen Welt ihr seit langem geleugnetes Genie veranschaulicht."
Wenn man diese Sätze im Jahr 2021 liest, weiß man kaum, worüber man mehr bestürzt sein soll: darüber, dass auch nach einem halben Jahrhundert postkolonialer Restitutionsdebatten noch immer dieselben Begründungen gegen die Rückgabe von Kunstwerken aus Afrika bemüht werden; oder über die Klarheit, mit der ihr Verfasser schon kurz nach der Unabhängigkeit der meisten schwarzafrikanischen Staaten die kommenden Kulturkämpfe vorweggenommen hat. Die Tonlage der Zurück- und Zurechtweisungen, die die Eigentumsansprüche der Afrikaner in Europa und Amerika ausgelöst haben, trifft Paulin Joachim jedenfalls genau. Von den drei Hauptargumenten der Restitutionsgegner lässt er nur das dritte aus, vermutlich, weil es ihm schon anno 1965 absurd erschien - dass nämlich die beanspruchten Objekte auf faire und ehrliche Weise von ihren heutigen Besitzern erworben wurden.
Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy zitiert Joachims Kommentar im ersten Kapitel ihrer Studie über die "Geschichte einer postkolonialen Niederlage": den verlorenen Kampf um die Restitution afrikanischer Kunst in den siebziger Jahren. Selten wohl hat ein wissenschaftliches Buch so ins Schwarze eines aufgeheizten Expertenstreits getroffen wie dieses. Die Autorin selbst steht im Zentrum der Debatte, seit sie 2017 die mangelnde Transparenz der geplanten ethnologischen Dauerausstellung im Berliner Humboldt-Forum mit einem Tschernobyl-Vergleich anprangerte. Savoys Intervention beförderte das Thema koloniale Raubkunst aus der Aktivisten-Ecke auf die Ebene der Politik. Ein Jahr später entwarf sie zusammen mit ihrem senegalesischen Kollegen Felwine Sarr im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Macron den ersten konkreten Aktionsplan zur Dekolonialisierung der Museen ihres Geburtslandes. Der Bericht von Sarr und Savoy löste viel Widerspruch aus und blieb in praktischer Hinsicht größtenteils folgenlos, aber sein Appell hallt bis heute nach. Auch das Humboldt-Forum hat sich von Savoys Attacke bislang noch nicht wieder erholt.
Nach diesem Vorlauf durfte man von dem neuen Buch ein weiteres massives antikoloniales Statement erwarten. Aber "Afrikas Kampf um seine Kunst" ist alles andere als eine Polemik. Vielmehr zeichnet Savoy anhand von Archivmaterial in allen Einzelheiten nach, wie mehrere afrikanische Staaten, allen voran Nigeria und Zaire, seit ihrer Unabhängigkeit versucht haben, Teile ihres in westlichen Museen lagernden Kulturerbes zurückzuerlangen - und wie der Westen diese Versuche abschmetterte oder ins Leere laufen ließ. Dabei ist weniger die institutionelle Form der Ablehnungen empörend - denn das Eigentumsrecht praktisch aller kunstbesitzenden Staaten lässt summarische Restitutionen nach wie vor nicht zu - als die Haltung, aus der heraus sie erfolgten. Diese Haltung lässt sich in dem von Museumsverantwortlichen vielfach variierten Satz zusammenfassen, dass die Kulturgüter Afrikas in Europa und Amerika am besten aufgehoben seien, weil sie dort erstens geschützt und zweitens von Experten betreut würden. Das zugehörige Geschichtsbild verriet Werner Knopp, von 1977 bis 1998 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, mit seiner gesprächsweise gemachten Bemerkung, es sei eben ein historisch wiederkehrendes Phänomen, "dass der politisch oder wirtschaftlich Unterlegene Gegenstände verschiedenen Charakters an den Überlegenen abgeben" müsse. So war damals der herrschende Ton.
Savoys Studie konzentriert sich, wie es naheliegt, auf Westdeutschland, ohne deshalb die Schauplätze London, Paris oder auch Ost-Berlin gänzlich auszublenden. Im Zentrum des Geschehens aber steht eine Gruppe älterer Männer, die seinerzeit an den Schalthebeln der deutschen Museumsmacht saßen: Hans-Georg Wormit, bis 1976 Preußenstiftungspräsident, und sein Nachfolger Knopp; Stephan Waetzoldt, bis 1983 Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin; Friedrich Kußmaul, bis 1986 Direktor des Linden-Museums in Stuttgart; und Hermann Auer, bis 1992 Präsident der deutschen Sektion des Internationalen Museumsrates ICOM.
Als ab Anfang der siebziger Jahre aus Afrika die ersten Anträge auf Leihgaben und später auf Restitutionen eingingen, war den Beteiligten sofort klar, was auf dem Spiel stand. "Der Bestand ganzer Völkerkundemuseen, archäologischer Museen und vorderasiatischer Abteilungen" komme für Rückgabeforderungen in Frage, meldete Waetzoldt an Knopp. Auf diese Horrorvision reagierten die Hierarchen wie Wanderer im Sturm: Sie rückten zusammen. 1978 gründeten Kußmaul, Auer und Knopp mit Gleichgesinnten in Bonn die Arbeitsgruppe "Rückgabe von Kulturgut", die die deutschen Anstrengungen zur Nichtrückgabe koordinierte. In einem Memorandum erklärten sie, es stünde im Widerspruch zur Kulturfreiheit, "wenn Kunstwerke in ein Land gebracht würden, nur weil sie dort erzeugt wurden". Auch vor der Erstellung von Objektlisten warnten die Experten, weil so "Begehrlichkeiten erst recht geweckt" würden. Bevor Rückgaben in Betracht kämen, müsse sichergestellt sein, "dass in den betroffenen Ländern wirklich nichts mehr an Kulturgut ist". Denn: "Sehr oft haben sie nämlich sehr viel, wissen es aber nicht."
Den einsamen Gegenpol zu dieser Betonfraktion bildete der Direktor des Bremer Überseemuseums, Herbert Ganslmayr. Ganslmayr, der jahrelang in Nigeria gelebt hatte, sah Restitutionen als kulturellen Beitrag zur Entwicklungshilfe und wurde darin von Außenpolitikern wie Hildegard Hamm-Brücher unterstützt. 1984 veröffentlichte er mit dem Journalisten Gert von Paczensky die Streitschrift "Nofretete will nach Hause". Das Buch wurde allgemein verrissen, und den Mitgliedern der Bonner Gruppe gelang es, Ganslmayr politisch auszubremsen. Aber in der Öffentlichkeit war das Thema gesetzt.
Warum ist damals trotzdem nichts passiert? Savoys Chronologie endet, nach unzähligen Artikeln, Filmen, Unesco-Resolutionen, Schriftwechseln und Fernsehsendungen, im Jahr 1985 mit einer Initiative der Grünen im baden-württembergischen Landtag, aus der nichts folgte. Zuvor hat die Autorin beiläufig das "langsame Verschwinden der kulturellen Eliten" Afrikas und das Erlöschen der Rückgabeforderungen konstatiert. Aber den Blick auf die politischen Hintergründe und damit die historische Einordnung der Vorgänge, die sie beschreibt, bleibt sie uns schuldig.
Dabei lässt sich diese Geschichtsstunde leicht nachholen. Nigeria, das an der Spitze der Restitutionsbewegung gestanden hatte, geriet durch die Ölkrise in eine Abwärtsspirale, die in den Militärputsch von 1983 mündete. Im Kongo entwickelte sich die populäre Diktatur Mobutus zum Terrorregime. Staaten wie Ghana, Tansania, Kamerun und Mali erging es ähnlich. Die Kultureliten dieser Länder verschwanden nicht einfach, sie wurden ins Exil getrieben, inhaftiert oder ermordet. Ihren Verfolgern war private Bereicherung wichtiger als der symbolische Gewinn durch die Rückholung afrikanischer Kunst.
Das bedeutet nicht, dass die Ansprüche Afrikas auf sein Kulturerbe auch nur einen Deut weniger legitim sind. Aber die frühe Formulierung und das Scheitern dieser Ansprüche gehören in einen geschichtlichen Zusammenhang, dem auch das skandalöse Verhalten der damaligen deutschen Kulturgranden entsprungen ist. Hätten sie anders reagiert, wäre uns vermutlich manche ideologische Verirrung in der aktuellen Kolonialismusdebatte erspart geblieben. So gesehen hat Bénédicte Savoy nicht nur eine Darstellung dessen geschrieben, was in den siebziger Jahren falsch gelaufen ist. Ihr Buch zeigt auch, was man heute richtig machen kann.
Bénédicte Savoy: "Afrikas Kampf um seine Kunst". Geschichte einer postkolonialen Niederlage.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 256 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Erscheint am 18. März.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Philipp Meier liest Benedicte Savoys Studie über die Rückgabe-Debatte zur afrikanischen Kunst in europäischen Museen als Geschichte verpasster beziehungsweise verpatzter Chancen. Wie lange der Streit mit afrikanischen Ländern wie Nigeria schon schwelt, erfährt Meier von Savoy und auch wie renitent sich Politiker und Museumsleute gegenüber Rückgabeansprüchen zeigten und zeigen. Dass afrikanische Kunst zumeist in den Depots europäischer Museen verstaubt und es mitnichten um einen kulturnationalistischen Kampf geht, sondern lediglich um die Aufhebung eines "absurden Missstands", vermittelt die Autorin dem Rezensenten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2021Triumph der gezielten Lügen
Strategische Entmutigung und blanke Ignoranz: Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat den koordinierten
Abwehrkampf Europas gegen die Rückgabe geraubter afrikanischer Kunst detailliert rekonstruiert
VON TILL BRIEGLEB
Fragt man verantwortliche Personen in Museen und der Politik, die sich mit der hitzigen Debatte über den Kolonialismus und die Rückgabe des Kulturguts an die einst besetzten Länder befassen, warum das Thema plötzlich so präsent ist, erhält man meist eher hilflose Antworten. Eigentlich nie sagen die Angesprochenen aber etwas zu der historischen Kontinuität der aktuellen Diskussion. Selbst Direktorinnen und Direktoren von ethnologischen Museen oder von Kunstsammlungen, die alt genug sind, um es besser zu wissen, zeigten sich in den vergangenen Jahren überrascht von der Heftigkeit der Debatte.
Zwar haben nicht alle von ihnen vergessen, dass in den Jahren rund um die Proteste von 1968 der Kolonialismus zentraler Gegenstand intellektueller Debatten war, dass Frantz Fanon diskutiert wurde, Che Guevara, Patrice Lumumba oder wie Kolonialismus zum Indochina- und Vietnamkrieg führte. Aber dass exakt die gleiche Debatte über geraubte Kulturgüter, über Restitution und Verantwortlichkeiten, die seit ein paar Jahren vor allem die ehemaligen „Völkerkunde“-Museen intensiv ergreift, von den Sechzigern an bereits global geführt worden ist, scheint versunken in kultureller Amnesie.
„Bleimantel des Schweigens“ nennt Bénédicte Savoy in ihrem neuen Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst – Geschichte einer postkolonialen Niederlage“ die Taktik westlicher Museumsleiter, mit der diese die erste Debatte um Restitution geraubter Kulturgüter nicht nur beendeten, sondern sogar aus dem kulturellen Gedächtnis tilgen konnten. Ab dem sogenannten „Afrikanischen Jahr“ 1960, als 17 ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten, gab es klare, wenn auch häufig erstaunlich höflich vorgetragene Bitten der neuen Nationen an die ehemaligen Kolonialherren, die wichtigsten Objekte ihrer Kultur wenigstens als Dauerleihgaben zurückzuerhalten. Die Reaktion der Angesprochenen war durchweg beschämend und eine unmittelbare Fortsetzung imperialer Arroganz.
Savoy, die 2018 gemeinsam mit Felwin Sarr durch ihren Bericht an den französischen Präsidenten Macron, „Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain“ (Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter), die aktuelle Debatte maßgeblich mit wiederbelebt hat, ruft nun die erste Epoche des Konflikts in einem kommentierenden Ereignisprotokoll wieder in Erinnerung. Für die Jahre 1965 bis 1985, also ab dem Zeitpunkt, wo die internationale Debatte Fahrt aufnahm, bis zu dem Punkt, als die Blockadehaltung europäischer Museen die Restitutionsanliegen aus Afrika und Asien mit gezielter Frustration zum Verstummen brachte, rekonstruiert sie haarklein den koordinierten Abwehrkampf europäischer Direktoren gegen jedes Entgegenkommen.
Speziell in Deutschland nahm diese Verweigerungspolitik die Züge einer Verschwörung an. Eine Gruppe geheim agierender Sammlungsleiter und Politiker taten alles bis zum gezielten Lügen, damit der deutsche Sesam der Raubkunst sich keinen Spalt öffnen musste. Wenig überraschend hatten die meisten dieser Kulturbeamten ihre Karriere aus dem Dritten Reich in der BRD lückenlos fortführen können – etwa der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hans-Georg Wormit, der Direktor des Linden-Museums in Stuttgart, Friedrich Kußmaul, der Präsident des deutschen Nationalkomitees des Internationalen Museumsrates ICOM, Hermann Auer, oder der Leiter des Bereichs „Kulturpflege“ im Bundesinnenministerium, Carl Gussone.
Dabei glichen die Argumente, die dieser sinistre Herrenklub in seitenlangen ablehnenden Stellungsnahmen zusammentrug, frappant jenen Einwänden, die auch heute wieder vorgebracht werden, wenn es um die Rückgabe von Objekten geht, die ohne Zustimmung der Herkunftsländer in europäischen Museen gelandet sind. Sie seien nationales Kulturgut (der besitzenden Länder natürlich, nicht etwa der bestohlenen). Es sei rechtlich nicht möglich, diesen Besitz zu veräußern, und man dürfe keinen Präzedenzfall schaffen, weil dann sofort Anspruch auf alles erhoben würde. Das sei eine „Gefährdung bedeutender, in langer mühevoller Arbeit zusammengetragener Sammlungen“, die zum „Totalverlust“ führen könne, wie es die Hüter des kolonialen Diebesguts in ihren scharfen Expertisen für die Politik als Szenario verbreiteten.
Weiter behaupteten Museumsleiter in ganz Europa, es gäbe in den Herkunftsländern keine adäquaten Institutionen, die das Kulturgut sicher verwahren und ausstellen könnten (wobei der Gang durch viele europäische Depots der ethnologischen Museen noch heute die Frage aufwirft, ob das hier jemals der Fall war). Pauschal wurden die Länder des afrikanischen Kontinents zudem der Korruption und krimineller Machenschaften bezichtigt, durch die alle zurückgegebenen Objekte sofort auf dem europäischen Kunstmarkt verhökert würden. Außerdem könnten Provenienzen sowieso nicht zweifelsfrei bestimmt werden, und überhaupt seien alle Objekte legal auf dem Kunstmarkt erworben oder Schenkungen.
Die meisten dieser Argumente konnten schon damals nur in peinlicher Unkenntnis der eigenen Bestände oder mit bewusster Tatsachenverdrehung aufrechterhalten werden. Besonders perfide wurde die Argumentation der Direktoren aber, wenn sie forsch erklärten, dass sie dank akribischer wissenschaftlicher Sammeltätigkeit viele kulturelle Zeugnisse in den europäischen Kolonien „gerettet“ hätten, die in den Ursprungsländern doch sowieso als „wertlos“ galten. Hermann Kußmaul, der engagierteste der Blockierer, konnte deswegen kategorisch und recht unwidersprochen erklären, „dass eine moralische Verpflichtung zur Rückgabe nicht existiert“.
Nun ist diese moralische Verpflichtung anders als vor 40 Jahren heute sicherlich allgemeiner akzeptiert, eine neue Generation in den Museen (darunter endlich auch viele Frauen) sogar aktiv damit beschäftigt, mit ihren Kolleginnen und Kollegen in den Herkunftsländern einvernehmliche Lösungen zu finden, wie Objekte sowohl in ihren ursprünglichen Kulturen als auch in den Museen der Welt zur Geltung kommen können. Aber abgesehen von den immer noch bestehenden rechtlichen Hindernissen, die sich seit der Nachkriegszeit kaum geändert haben, bleiben bestimmte fatale Konsequenzen der damaligen „Verschwörung“ bis heute virulent. Das betrifft vor allem, wie Savoy dezidiert aus dem geheimen Schriftverkehr der Abwehrexperten nachweist, die Frage der Transparenz, die von den Politikern und Intellektuellen der selbständigen Staaten Afrikas und Asiens seit den Sechzigern gefordert wurde. Um bloß niemandem Material zugänglich zu machen, was sich in den Depots der europäischen Museen tatsächlich an Werten aus anderen Ländern befindet, wurde nicht nur die Veröffentlichung möglicher Listen hintertrieben. Schon eine seriöse Inventarisierung unterblieb, um keine „Gelüste“ irgendwo zu wecken. Mit dem Resultat, dass auch heute noch einige der größten Institutionen, die sich mit Weltkultur befassen, nicht öffentlich präsent machen können, was sich in ihren Regalen stapelt.
Savoy, Professorin für Kunst- und Kulturgeschichte in Berlin und Paris, betrachtet in ihrer Chronologie aber nicht nur die besonders verstockte deutsche Haltung. Sie zeigt vielmehr, wie selbst bei größerer Kompromissbereitschaft in manchen der europäischen Länder mit kolonialer Vergangenheit die Denkweise relativ einheitlich rassistisch blieb. Wenn es darum ging, den von ihnen geplünderten Staaten mit Respekt zu begegnen und ihre Ansprüche an Restitution mit Fairness zu beantworten, versagte jedes europäische Land, ob England, Frankreich oder Belgien. Und speziell versagten damals fast alle für das Thema zuständigen Herren und Damen in den Kulturinstitutionen. Die Anerkennung der begangenen Kolonialverbrechen als Voraussetzung einer gerechten Verständigung, so Savoys Ergebnis, wurde damals von allen Museen verweigert, selbst, wenn einmal etwas gnädig zurückging. Stattdessen folgten die Leiter großer Institutionen fast durchgängig dem Reflex der Besitzstandswahrung. Sie versuchten, das Thema auszusitzen, oder traten mit größter Borniertheit und der dreisten Behauptung auf, nur ihre Institutionen könnten den Wert dieser Objekte richtig bemessen und einem großen internationalen Publikum als bedeutendes Kulturgut vermitteln.
Die Recherche Savoys liefert vielleicht auch eine Antwort darauf, warum die Debatte so emotional geführt wird. Es sind alte Wunden, die aufreißen. Die Entdeckung, dass die berechtigen Anliegen, gewaltsam entwendetes oder durch asymmetrische Machtverhältnisse angeeignetes Kulturgut zurückzuerhalten, über Jahrzehnte systematisch mit Lügen, Schweigen, strategischer Entmutigung und Ignoranz beantwortet wurden, muss schmerzen. Und sie führt sicher nicht zu mehr Vertrauen in die Nachfolger und Nachfolgerinnen an den Museen. Zumal, wenn sich die nicht ausdrücklich zur Rückgabe bekennen. Nach diesem Buch ist jedenfalls Unwissen keine Entschuldigung mehr.
Besonders die deutsche
Verweigerungspolitik hatte
Züge einer Verschwörung
Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst - Geschichte einer postkolonialen Niederlage. C.H. Beck, München 2021.
256 Seiten, 24 Euro.
Plattencover mit der Maske der Queen Idia aus dem British Museum, die als Emblem des panafrikanischen Festivals Festac ’77 berühmt wurde. Abb: Aus dem bespr.Band
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Strategische Entmutigung und blanke Ignoranz: Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat den koordinierten
Abwehrkampf Europas gegen die Rückgabe geraubter afrikanischer Kunst detailliert rekonstruiert
VON TILL BRIEGLEB
Fragt man verantwortliche Personen in Museen und der Politik, die sich mit der hitzigen Debatte über den Kolonialismus und die Rückgabe des Kulturguts an die einst besetzten Länder befassen, warum das Thema plötzlich so präsent ist, erhält man meist eher hilflose Antworten. Eigentlich nie sagen die Angesprochenen aber etwas zu der historischen Kontinuität der aktuellen Diskussion. Selbst Direktorinnen und Direktoren von ethnologischen Museen oder von Kunstsammlungen, die alt genug sind, um es besser zu wissen, zeigten sich in den vergangenen Jahren überrascht von der Heftigkeit der Debatte.
Zwar haben nicht alle von ihnen vergessen, dass in den Jahren rund um die Proteste von 1968 der Kolonialismus zentraler Gegenstand intellektueller Debatten war, dass Frantz Fanon diskutiert wurde, Che Guevara, Patrice Lumumba oder wie Kolonialismus zum Indochina- und Vietnamkrieg führte. Aber dass exakt die gleiche Debatte über geraubte Kulturgüter, über Restitution und Verantwortlichkeiten, die seit ein paar Jahren vor allem die ehemaligen „Völkerkunde“-Museen intensiv ergreift, von den Sechzigern an bereits global geführt worden ist, scheint versunken in kultureller Amnesie.
„Bleimantel des Schweigens“ nennt Bénédicte Savoy in ihrem neuen Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst – Geschichte einer postkolonialen Niederlage“ die Taktik westlicher Museumsleiter, mit der diese die erste Debatte um Restitution geraubter Kulturgüter nicht nur beendeten, sondern sogar aus dem kulturellen Gedächtnis tilgen konnten. Ab dem sogenannten „Afrikanischen Jahr“ 1960, als 17 ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten, gab es klare, wenn auch häufig erstaunlich höflich vorgetragene Bitten der neuen Nationen an die ehemaligen Kolonialherren, die wichtigsten Objekte ihrer Kultur wenigstens als Dauerleihgaben zurückzuerhalten. Die Reaktion der Angesprochenen war durchweg beschämend und eine unmittelbare Fortsetzung imperialer Arroganz.
Savoy, die 2018 gemeinsam mit Felwin Sarr durch ihren Bericht an den französischen Präsidenten Macron, „Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain“ (Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter), die aktuelle Debatte maßgeblich mit wiederbelebt hat, ruft nun die erste Epoche des Konflikts in einem kommentierenden Ereignisprotokoll wieder in Erinnerung. Für die Jahre 1965 bis 1985, also ab dem Zeitpunkt, wo die internationale Debatte Fahrt aufnahm, bis zu dem Punkt, als die Blockadehaltung europäischer Museen die Restitutionsanliegen aus Afrika und Asien mit gezielter Frustration zum Verstummen brachte, rekonstruiert sie haarklein den koordinierten Abwehrkampf europäischer Direktoren gegen jedes Entgegenkommen.
Speziell in Deutschland nahm diese Verweigerungspolitik die Züge einer Verschwörung an. Eine Gruppe geheim agierender Sammlungsleiter und Politiker taten alles bis zum gezielten Lügen, damit der deutsche Sesam der Raubkunst sich keinen Spalt öffnen musste. Wenig überraschend hatten die meisten dieser Kulturbeamten ihre Karriere aus dem Dritten Reich in der BRD lückenlos fortführen können – etwa der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hans-Georg Wormit, der Direktor des Linden-Museums in Stuttgart, Friedrich Kußmaul, der Präsident des deutschen Nationalkomitees des Internationalen Museumsrates ICOM, Hermann Auer, oder der Leiter des Bereichs „Kulturpflege“ im Bundesinnenministerium, Carl Gussone.
Dabei glichen die Argumente, die dieser sinistre Herrenklub in seitenlangen ablehnenden Stellungsnahmen zusammentrug, frappant jenen Einwänden, die auch heute wieder vorgebracht werden, wenn es um die Rückgabe von Objekten geht, die ohne Zustimmung der Herkunftsländer in europäischen Museen gelandet sind. Sie seien nationales Kulturgut (der besitzenden Länder natürlich, nicht etwa der bestohlenen). Es sei rechtlich nicht möglich, diesen Besitz zu veräußern, und man dürfe keinen Präzedenzfall schaffen, weil dann sofort Anspruch auf alles erhoben würde. Das sei eine „Gefährdung bedeutender, in langer mühevoller Arbeit zusammengetragener Sammlungen“, die zum „Totalverlust“ führen könne, wie es die Hüter des kolonialen Diebesguts in ihren scharfen Expertisen für die Politik als Szenario verbreiteten.
Weiter behaupteten Museumsleiter in ganz Europa, es gäbe in den Herkunftsländern keine adäquaten Institutionen, die das Kulturgut sicher verwahren und ausstellen könnten (wobei der Gang durch viele europäische Depots der ethnologischen Museen noch heute die Frage aufwirft, ob das hier jemals der Fall war). Pauschal wurden die Länder des afrikanischen Kontinents zudem der Korruption und krimineller Machenschaften bezichtigt, durch die alle zurückgegebenen Objekte sofort auf dem europäischen Kunstmarkt verhökert würden. Außerdem könnten Provenienzen sowieso nicht zweifelsfrei bestimmt werden, und überhaupt seien alle Objekte legal auf dem Kunstmarkt erworben oder Schenkungen.
Die meisten dieser Argumente konnten schon damals nur in peinlicher Unkenntnis der eigenen Bestände oder mit bewusster Tatsachenverdrehung aufrechterhalten werden. Besonders perfide wurde die Argumentation der Direktoren aber, wenn sie forsch erklärten, dass sie dank akribischer wissenschaftlicher Sammeltätigkeit viele kulturelle Zeugnisse in den europäischen Kolonien „gerettet“ hätten, die in den Ursprungsländern doch sowieso als „wertlos“ galten. Hermann Kußmaul, der engagierteste der Blockierer, konnte deswegen kategorisch und recht unwidersprochen erklären, „dass eine moralische Verpflichtung zur Rückgabe nicht existiert“.
Nun ist diese moralische Verpflichtung anders als vor 40 Jahren heute sicherlich allgemeiner akzeptiert, eine neue Generation in den Museen (darunter endlich auch viele Frauen) sogar aktiv damit beschäftigt, mit ihren Kolleginnen und Kollegen in den Herkunftsländern einvernehmliche Lösungen zu finden, wie Objekte sowohl in ihren ursprünglichen Kulturen als auch in den Museen der Welt zur Geltung kommen können. Aber abgesehen von den immer noch bestehenden rechtlichen Hindernissen, die sich seit der Nachkriegszeit kaum geändert haben, bleiben bestimmte fatale Konsequenzen der damaligen „Verschwörung“ bis heute virulent. Das betrifft vor allem, wie Savoy dezidiert aus dem geheimen Schriftverkehr der Abwehrexperten nachweist, die Frage der Transparenz, die von den Politikern und Intellektuellen der selbständigen Staaten Afrikas und Asiens seit den Sechzigern gefordert wurde. Um bloß niemandem Material zugänglich zu machen, was sich in den Depots der europäischen Museen tatsächlich an Werten aus anderen Ländern befindet, wurde nicht nur die Veröffentlichung möglicher Listen hintertrieben. Schon eine seriöse Inventarisierung unterblieb, um keine „Gelüste“ irgendwo zu wecken. Mit dem Resultat, dass auch heute noch einige der größten Institutionen, die sich mit Weltkultur befassen, nicht öffentlich präsent machen können, was sich in ihren Regalen stapelt.
Savoy, Professorin für Kunst- und Kulturgeschichte in Berlin und Paris, betrachtet in ihrer Chronologie aber nicht nur die besonders verstockte deutsche Haltung. Sie zeigt vielmehr, wie selbst bei größerer Kompromissbereitschaft in manchen der europäischen Länder mit kolonialer Vergangenheit die Denkweise relativ einheitlich rassistisch blieb. Wenn es darum ging, den von ihnen geplünderten Staaten mit Respekt zu begegnen und ihre Ansprüche an Restitution mit Fairness zu beantworten, versagte jedes europäische Land, ob England, Frankreich oder Belgien. Und speziell versagten damals fast alle für das Thema zuständigen Herren und Damen in den Kulturinstitutionen. Die Anerkennung der begangenen Kolonialverbrechen als Voraussetzung einer gerechten Verständigung, so Savoys Ergebnis, wurde damals von allen Museen verweigert, selbst, wenn einmal etwas gnädig zurückging. Stattdessen folgten die Leiter großer Institutionen fast durchgängig dem Reflex der Besitzstandswahrung. Sie versuchten, das Thema auszusitzen, oder traten mit größter Borniertheit und der dreisten Behauptung auf, nur ihre Institutionen könnten den Wert dieser Objekte richtig bemessen und einem großen internationalen Publikum als bedeutendes Kulturgut vermitteln.
Die Recherche Savoys liefert vielleicht auch eine Antwort darauf, warum die Debatte so emotional geführt wird. Es sind alte Wunden, die aufreißen. Die Entdeckung, dass die berechtigen Anliegen, gewaltsam entwendetes oder durch asymmetrische Machtverhältnisse angeeignetes Kulturgut zurückzuerhalten, über Jahrzehnte systematisch mit Lügen, Schweigen, strategischer Entmutigung und Ignoranz beantwortet wurden, muss schmerzen. Und sie führt sicher nicht zu mehr Vertrauen in die Nachfolger und Nachfolgerinnen an den Museen. Zumal, wenn sich die nicht ausdrücklich zur Rückgabe bekennen. Nach diesem Buch ist jedenfalls Unwissen keine Entschuldigung mehr.
Besonders die deutsche
Verweigerungspolitik hatte
Züge einer Verschwörung
Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst - Geschichte einer postkolonialen Niederlage. C.H. Beck, München 2021.
256 Seiten, 24 Euro.
Plattencover mit der Maske der Queen Idia aus dem British Museum, die als Emblem des panafrikanischen Festivals Festac ’77 berühmt wurde. Abb: Aus dem bespr.Band
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