Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2010Ohne Punkt und Komma
Späte Entdeckung: Georges Perecs "Gehaltserhöhung"
Hat man sich nach ein paar Seiten an die fehlenden Satzzeichen und die Kleinschreibung gewöhnt, liest sich dieses Buch vergleichsweise störungsfrei. Man versteht, worauf es dem Autor ankommt und auf was es hinausläuft: Der ideale Zeitpunkt, seinen Chef um eine Gehaltserhöhung zu bitten, lässt sich zwar arithmetisch ermitteln, führt aber keinesfalls zu der erwünschten Gehaltsanhebung.
Ein exemplarischer Angestellter jedenfalls gerät in Kalamitäten, wenn er sich dazu entscheidet, sein Anliegen an einem Freitag vorzubringen, schreibt Perec: "entweder ihr dienstvorgesetzter hat eine gräte verschluckt oder ihr dienstvorgesetzter hat keine gräte verschluckt". Und tatsächlich, das muss jedem einleuchten, wird es von der Wahl des Kantinengerichts abhängen, ob der Vorgesetzte später zu einem Gespräch aufgelegt ist oder nicht. Perec lässt seinen fiktiven Angestellten deswegen auf einen anderen Wochentag ausweichen, an dem sich die Unsicherheit aber nur fortsetzt, denn nun, da das Fischproblem aus der Welt geschafft ist, entsteht ein neues: das von faulen Eiern.
Perec muss gedacht haben, wer Fisch sagt, muss auch Hühnerei sagen, als er diesen Schaltplan des Lebens verfasste, wohl nach den Berechnungen eines befreundeten Sozialforschers an der Maison des sciences de l'homme. Der hatte die unterschiedlichen Strategien, sich seinem Vorgesetzten zu nähern, in einem Pfeildiagramm zur Darstellung gebracht. Mit erschreckendem Ergebnis: Statt hoher Feldherrenkunst zeigte die Grafik nur das anarchistische Wüten des Zufalls (Fischgräten und faule Eier) und ein Individuum am Rande der Handlungsunfähigkeit ("sie versuchen ihr glück nicht am nächsten tag denn der nächste tag ist ein Donnerstag und wenn monsieur x sie auf den übernächsten tag vertrösten würde so wäre der übernächste tag ein freitag und monsieur x würde riskieren sich an einer gräte zu verletzen").
Die "Gehaltserhöhung" gehört zu den späten Entdeckungen aus Perecs Nachlass und wurde deshalb erst jetzt ins Deutsche übertragen. Sie ist der Versuch, sprachliche Entsprechung für ein stochastisches Problem zu finden. Mit Interpunktionslosigkeit lässt sich aber auch sonst allerlei anstellen, herrlicher Sprachquatsch zum Beispiel, wie ihn, mit Verlaub, am besten die Franzosen beherrschen.
Georges Perec wurde 1936 als Sohn polnischer Juden in Paris geboren. Von 1967 an war er Mitglied der von Raymond Queneau gegründeten Literatengruppe Oulipo, der "Werkstatt für potentielle Literatur". Ihren Mitgliedern, zu denen zeitweilig auch Oskar Pastior und Italo Calvino zählten, ging es um "Spracherweiterung durch formale Zwänge". In Perecs leipogrammatischer Erzählung "La Disparition" findet sich beispielsweise kein einziges Mal der Buchstabe "e". Perec verfasste auch ein Palindrom, einen rückwärts lesbaren Brief aus 1300 Wörtern. Raymond Queneau hingegen erfand einen Algorithmus, mit dem sich eine Sonettsammlung so lange variieren ließ, dass ihre Lektüre mehr als 190 Millionen Jahre gedauert hätte.
Seit den Nouveau Romanciers ist der Sprache niemand mehr so sehr zu Leibe gerückt wie die Oulipoten. Auf dem letzten Literaturfestival in Berlin konnte man sechs ihrer noch aktiven Mitglieder erleben. Sie beschrieben vor schmunzelndem Publikum ihr Leben als Liebhaber, Skichampion und Schriftsteller. Sie variierten einen Satz von Marcel Proust und einen von Goethe. Man konnte es genießen, dachte aber auch: Sprachkritik aus einer anderen Ära! Auch Perecs Abhandlung ohne Punkt und Komma entstammt den diskursverliebten Sechzigern, in denen selbst bildende Künstler ins lettristische Fach wechselten und die Philosophie sich linguistisch drehte.
Am Ende seiner imaginären Gehaltsverhandlung steht Perecs kleiner Angestellter übrigens kurz vor der Rente. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Immerhin arbeitete er dreißig Jahre lang im selben Betrieb.
KATHARINA TEUTSCH
Georges Perec: "Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten". Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 110 S., geb. 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Späte Entdeckung: Georges Perecs "Gehaltserhöhung"
Hat man sich nach ein paar Seiten an die fehlenden Satzzeichen und die Kleinschreibung gewöhnt, liest sich dieses Buch vergleichsweise störungsfrei. Man versteht, worauf es dem Autor ankommt und auf was es hinausläuft: Der ideale Zeitpunkt, seinen Chef um eine Gehaltserhöhung zu bitten, lässt sich zwar arithmetisch ermitteln, führt aber keinesfalls zu der erwünschten Gehaltsanhebung.
Ein exemplarischer Angestellter jedenfalls gerät in Kalamitäten, wenn er sich dazu entscheidet, sein Anliegen an einem Freitag vorzubringen, schreibt Perec: "entweder ihr dienstvorgesetzter hat eine gräte verschluckt oder ihr dienstvorgesetzter hat keine gräte verschluckt". Und tatsächlich, das muss jedem einleuchten, wird es von der Wahl des Kantinengerichts abhängen, ob der Vorgesetzte später zu einem Gespräch aufgelegt ist oder nicht. Perec lässt seinen fiktiven Angestellten deswegen auf einen anderen Wochentag ausweichen, an dem sich die Unsicherheit aber nur fortsetzt, denn nun, da das Fischproblem aus der Welt geschafft ist, entsteht ein neues: das von faulen Eiern.
Perec muss gedacht haben, wer Fisch sagt, muss auch Hühnerei sagen, als er diesen Schaltplan des Lebens verfasste, wohl nach den Berechnungen eines befreundeten Sozialforschers an der Maison des sciences de l'homme. Der hatte die unterschiedlichen Strategien, sich seinem Vorgesetzten zu nähern, in einem Pfeildiagramm zur Darstellung gebracht. Mit erschreckendem Ergebnis: Statt hoher Feldherrenkunst zeigte die Grafik nur das anarchistische Wüten des Zufalls (Fischgräten und faule Eier) und ein Individuum am Rande der Handlungsunfähigkeit ("sie versuchen ihr glück nicht am nächsten tag denn der nächste tag ist ein Donnerstag und wenn monsieur x sie auf den übernächsten tag vertrösten würde so wäre der übernächste tag ein freitag und monsieur x würde riskieren sich an einer gräte zu verletzen").
Die "Gehaltserhöhung" gehört zu den späten Entdeckungen aus Perecs Nachlass und wurde deshalb erst jetzt ins Deutsche übertragen. Sie ist der Versuch, sprachliche Entsprechung für ein stochastisches Problem zu finden. Mit Interpunktionslosigkeit lässt sich aber auch sonst allerlei anstellen, herrlicher Sprachquatsch zum Beispiel, wie ihn, mit Verlaub, am besten die Franzosen beherrschen.
Georges Perec wurde 1936 als Sohn polnischer Juden in Paris geboren. Von 1967 an war er Mitglied der von Raymond Queneau gegründeten Literatengruppe Oulipo, der "Werkstatt für potentielle Literatur". Ihren Mitgliedern, zu denen zeitweilig auch Oskar Pastior und Italo Calvino zählten, ging es um "Spracherweiterung durch formale Zwänge". In Perecs leipogrammatischer Erzählung "La Disparition" findet sich beispielsweise kein einziges Mal der Buchstabe "e". Perec verfasste auch ein Palindrom, einen rückwärts lesbaren Brief aus 1300 Wörtern. Raymond Queneau hingegen erfand einen Algorithmus, mit dem sich eine Sonettsammlung so lange variieren ließ, dass ihre Lektüre mehr als 190 Millionen Jahre gedauert hätte.
Seit den Nouveau Romanciers ist der Sprache niemand mehr so sehr zu Leibe gerückt wie die Oulipoten. Auf dem letzten Literaturfestival in Berlin konnte man sechs ihrer noch aktiven Mitglieder erleben. Sie beschrieben vor schmunzelndem Publikum ihr Leben als Liebhaber, Skichampion und Schriftsteller. Sie variierten einen Satz von Marcel Proust und einen von Goethe. Man konnte es genießen, dachte aber auch: Sprachkritik aus einer anderen Ära! Auch Perecs Abhandlung ohne Punkt und Komma entstammt den diskursverliebten Sechzigern, in denen selbst bildende Künstler ins lettristische Fach wechselten und die Philosophie sich linguistisch drehte.
Am Ende seiner imaginären Gehaltsverhandlung steht Perecs kleiner Angestellter übrigens kurz vor der Rente. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Immerhin arbeitete er dreißig Jahre lang im selben Betrieb.
KATHARINA TEUTSCH
Georges Perec: "Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten". Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 110 S., geb. 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Georges Perec konnte den Rezensenten Alex Rühle nicht wirklich überzeugen mit seinem Brevier "Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten", das, wie schon der Titel verrät, sich mit dem mühevollen Gang zu mehr Geld beschäftigt. Der Rezensent erläutert, dass das Buch auf einem Organigramm von Jacques Perriaud basiert, einem Freund des Autors, der darin die verschiedenen Wege zum Chefgespräch grafisch darstellte. Jedoch stört Rühle, dass die Übersichtlichkeit des Organigramm durch die "erschöpfende Durchführung" bei Perec verloren geht. Auch brauche man beim Lesen des Buches nicht auf einen gewöhnlichen Ratgeber oder einen "How to make things better"-Optimismus hoffen. Viel mehr sieht Rühle in dem Buch ein "Dokument der Vergeblichkeit", des "sinnlosen Ehrgeizes" und deshalb bekommt der Angestellte letzten Endes auch nicht das, was er will. Weiter klärt Rühle auf, dass Perec, wie schon in vorhergehenden Büchern, vollkommen auf sprachliche Formalitäten verzichtet. In diesem Fall auf Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung - ein anderes Buch schrieb er ganz ohne den Vokal "e".
© Perlentaucher Medien GmbH
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