Wachstum, das ist der Gott der Moderne noch im Angesicht ihres Untergangs: Entgegen prominenter Lesarten erkennt Giorgos Kallis in Thomas Robert Malthus mit seinem berühmt-berüchtigten »Bevölkerungsgesetz« von 1798 nicht einen Propheten der natürlichen Grenzen, sondern im Gegenteil einen Apostel des unbegrenzten Wollens. Indem Malthus die Unersättlichkeit zur Natur erklärt, verewigt er ironischerweise zugleich die Knappheit. In seiner unorthodoxen Parallellektüre der Ideengeschichte der politischen Ökonomie und des ökologischen Denkens kommt Kallis' anregende Studie deren geteilter Grundannahme auf die Spur: der Gleichsetzung von Begrenzung und Knappheit. Doch Grenzen sind nicht natürlich. Sie sind eine Wahl, die wir treffen. In einer umfassenden und doch konzisen Tour de Force von der antiken Philosophie zu Malthus, von Sammler-Jäger-Gesellschaften zu den Romantikern und von anarchistischen Feministinnen zur radikalen Umweltbewegung der 1970er-Jahre zeigt »Grenzen«, wie erst eine institutionalisierte Kultur des Teilens kollektive Selbstbegrenzung möglich macht. Angesichts wachsender sozialer Ungleichheit und der Gegenwart der Klimakatastrophe könnte die Zukunft der menschlichen Existenz davon abhängen, Selbstbegrenzung als Freiheit zu verstehen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Fred Luks fragt sich schon, ob Giorgos Kallis' Thesen und Vorschläge zu den Grenzen des Wachstums auch umsetzbar sind. Aber auch wenn es sich dabei um ein "Minderheitenprogramm" handelt, wie der Rezensent vermutet, scheint das Buch Luks lesenswert, nämlich als "dichte", gut zu lesende, provokative Reflexion über Post-Wachstum. Da darf der Autor sogar Malthus neu interpretieren und den ökologischen Fußabdruck als wissenschaftliche Konstruktion darstellen, um seine "Politik der Selbstbegrenzung" zu propagieren, findet Luks.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2022Die Grenzen der Selbstbegrenzung
Wurde Thomas Robert Malthus falsch gedeutet?
2022 jährt sich die Publikation des Club-of-Rome-Berichts "Die Grenzen des Wachstums" zum fünfzigsten Male. Die Warnung vor "absoluten Wachstumsgrenzen" traf 1972 auf eine hohe gesellschaftliche Sensibilität und löste eine intensive Debatte aus. Man kann sicher sein, dass an dieses Jubiläum 2022 noch oft erinnert werden wird. In diese Landschaft passt das Buch von Giorgos Kallis über Grenzen.
Der Autor, auch Jahrgang 1972, liefert eine sehr dichte Reflexion eines höchst aktuellen Themas. Der Grieche Kallis nimmt uns mit in das klassische Griechenland, bezieht sich auf Denker wie Cornelius Castoriadis und Michel Foucault, zitiert Werke aus Literatur und Film und lässt persönliche Erfahrungen einfließen. Der gut zu lesende Text bietet eine Vielzahl von Ideen eines Autors, der sich dezidiert als Postwachstums-Ökonom verortet und der herrschenden Wirtschaftswissenschaft sehr kritisch gegenübersteht. Der Text ist eine Provokation, die zum Denken anregt.
Provokativ ist freilich nicht nur die Positionierung des Autors, sondern auch sein Zugriff auf das Thema. Kallis nimmt eine rigorose Neuinterpretation von Thomas Robert Malthus' 1798 erschienenem Essay über das Bevölkerungsgesetz vor und behauptet, dass Malthus bisher von fast allen Interpreten falsch gedeutet wurde: "Entgegen seinem ikonischen Status als Prophet der Grenzen war Malthus tatsächlich ein Wachstumsprophet" - und vor allem: ein "Prophet unbegrenzter Bedürfnisse". Zu bestreiten, dass Malthus die technologischen Möglichkeiten für Wachstum unterschätzt hat, lädt zum Staunen ein.
Warum Kallis hier Malthus so zurechtbiegt, wird im Laufe des Buches klar: Der Text ist ganz wesentlich ein Versuch, dem Diskurs über Nachhaltigkeit seine Orientierung an ökologischen Grenzen auszutreiben und stattdessen den Fokus auf eine Politik der Selbstbegrenzung zu legen. Ökonomischer formuliert: Kallis möchte, dass wir mehr über Ziele sprechen und weniger über die Mittel, die zu Erreichung dieser Ziele benötigt werden. Diesem Kompass folgt der gesamte Text.
Zentral ist dabei ein Punkt, dessen Bedeutung Kallis zu Recht betont: Begrenztheit generiert an sich noch keine Knappheit. Es versteht sich nicht von selbst, darauf hat (der von Kallis nicht zitierte) Niklas Luhmann schon 1994 hingewiesen, "dass Endlichkeiten, welcher Art auch immer, als Knappheiten wahrgenommen werden". "Öl", so Luhmanns Beispiel, "ist nicht schon deshalb knapp, weil es nur in begrenzten Mengen vorhanden ist." Der Zugriff auf diese Ressource erfolgt, weil Öl gebraucht wird, und hierdurch erst entsteht Knappheit. Oder, in Kallis' Worten: "Wenn wir kein Öl mehr verbrauchen, dann sind die Grenzen der Ölvorräte irrelevant."
Mit seiner Dekonstruktion herrschender Grenz- und Knappheitsbegriffe - die 1972 prägend für "Die Grenzen des Wachstums" waren und nach wie vor weitverbreitet sind - trifft Kallis einen wichtigen Punkt. Er betont, dass Konzepte wie der ökologische Fußabdruck oder die "Belastungsgrenzen der Erde" keine objektiven Abbildungen natürlicher Tatbestände sind, sondern wissenschaftliche Konstruktionen, die stets umstritten sind. Damit setzt er sich implizit deutlich vom Fridays-for-Future-Slogan "Hört auf die Wissenschaft!" ab. Kallis möchte keine ökologischen Grenzen diskutieren, sondern "verschiedene Visionen der Welt, in der wir leben wollen".
Letztlich gehe es um die Frage, "welche Welt wir schaffen wollen und für wen, nicht darum, wie wir uns an eine vorgegebene, von der Natur diktierte Realität anpassen". Kallis lässt keinen Zweifel daran, dass es sich hierbei um ein kollektives Unterfangen handelt. Auch dieser Punkt ist von Gewicht. "Postwachstum" setzt sonst oft auf Mäßigung und Konsumreduktion, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen zu reflektieren, unter denen Konsumveränderungen stattfinden sollen.
Gleichzeitig fragt man sich, wie ein kollektives Projekt von Selbstbegrenzung mit Freiheit und Pluralismus vereinbar ist. Der Autor beantwortet diese Frage mit fast entwaffnender Offenheit: "Anders als ein liberaler oder libertärer geht ein 'limitarischer' Ansatz von einem Prinzip der Vorsicht und Mäßigung aus." Selbstbeherrschung, Reflexion und Autonomie sind Eckpunkte dieses Freiheitsverständnisses. Das Nachdenken über die Begrenzung von Bedürfnissen setze voraus, "die Welt als Ort des Überflusses zu akzeptieren". Kallis fordert also vehement einen radikalen Perspektivenwechsel, der grundlegende ökonomische Kategorien infrage stellt.
Alles in allem liest man hier eine streckenweise höchst anregende intellektuelle Fingerübung. Die von Kallis behauptete Praxistauglichkeit freilich ist fragwürdig. Gewiss ist es vorstellbar, dass Umweltschützer "Träger einer erstrebenswerten Vision radikaler Einfachheit" sein können und Menschen "den Wert eines einfachen Lebens" erkennen können. Aber es ist doch offensichtlich, dass Kallis' Agenda einer kollektiven Selbstbegrenzung ein Minderheitenprogramm ist. Das Hier und Heute ist von rasanter Digitalisierung, einer großen Notwendigkeit von Innovationen und nach wie vor von bedrückender weltweiter Armut geprägt. Nach der Lektüre des Buches drängt sich die Frage auf, inwieweit Kallis' Überlegungen an diese Welt anschlussfähig sind. FRED LUKS
Giorgos Kallis: Grenzen - Warum Malthus falschlag und warum uns das alle angeht. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 171 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wurde Thomas Robert Malthus falsch gedeutet?
2022 jährt sich die Publikation des Club-of-Rome-Berichts "Die Grenzen des Wachstums" zum fünfzigsten Male. Die Warnung vor "absoluten Wachstumsgrenzen" traf 1972 auf eine hohe gesellschaftliche Sensibilität und löste eine intensive Debatte aus. Man kann sicher sein, dass an dieses Jubiläum 2022 noch oft erinnert werden wird. In diese Landschaft passt das Buch von Giorgos Kallis über Grenzen.
Der Autor, auch Jahrgang 1972, liefert eine sehr dichte Reflexion eines höchst aktuellen Themas. Der Grieche Kallis nimmt uns mit in das klassische Griechenland, bezieht sich auf Denker wie Cornelius Castoriadis und Michel Foucault, zitiert Werke aus Literatur und Film und lässt persönliche Erfahrungen einfließen. Der gut zu lesende Text bietet eine Vielzahl von Ideen eines Autors, der sich dezidiert als Postwachstums-Ökonom verortet und der herrschenden Wirtschaftswissenschaft sehr kritisch gegenübersteht. Der Text ist eine Provokation, die zum Denken anregt.
Provokativ ist freilich nicht nur die Positionierung des Autors, sondern auch sein Zugriff auf das Thema. Kallis nimmt eine rigorose Neuinterpretation von Thomas Robert Malthus' 1798 erschienenem Essay über das Bevölkerungsgesetz vor und behauptet, dass Malthus bisher von fast allen Interpreten falsch gedeutet wurde: "Entgegen seinem ikonischen Status als Prophet der Grenzen war Malthus tatsächlich ein Wachstumsprophet" - und vor allem: ein "Prophet unbegrenzter Bedürfnisse". Zu bestreiten, dass Malthus die technologischen Möglichkeiten für Wachstum unterschätzt hat, lädt zum Staunen ein.
Warum Kallis hier Malthus so zurechtbiegt, wird im Laufe des Buches klar: Der Text ist ganz wesentlich ein Versuch, dem Diskurs über Nachhaltigkeit seine Orientierung an ökologischen Grenzen auszutreiben und stattdessen den Fokus auf eine Politik der Selbstbegrenzung zu legen. Ökonomischer formuliert: Kallis möchte, dass wir mehr über Ziele sprechen und weniger über die Mittel, die zu Erreichung dieser Ziele benötigt werden. Diesem Kompass folgt der gesamte Text.
Zentral ist dabei ein Punkt, dessen Bedeutung Kallis zu Recht betont: Begrenztheit generiert an sich noch keine Knappheit. Es versteht sich nicht von selbst, darauf hat (der von Kallis nicht zitierte) Niklas Luhmann schon 1994 hingewiesen, "dass Endlichkeiten, welcher Art auch immer, als Knappheiten wahrgenommen werden". "Öl", so Luhmanns Beispiel, "ist nicht schon deshalb knapp, weil es nur in begrenzten Mengen vorhanden ist." Der Zugriff auf diese Ressource erfolgt, weil Öl gebraucht wird, und hierdurch erst entsteht Knappheit. Oder, in Kallis' Worten: "Wenn wir kein Öl mehr verbrauchen, dann sind die Grenzen der Ölvorräte irrelevant."
Mit seiner Dekonstruktion herrschender Grenz- und Knappheitsbegriffe - die 1972 prägend für "Die Grenzen des Wachstums" waren und nach wie vor weitverbreitet sind - trifft Kallis einen wichtigen Punkt. Er betont, dass Konzepte wie der ökologische Fußabdruck oder die "Belastungsgrenzen der Erde" keine objektiven Abbildungen natürlicher Tatbestände sind, sondern wissenschaftliche Konstruktionen, die stets umstritten sind. Damit setzt er sich implizit deutlich vom Fridays-for-Future-Slogan "Hört auf die Wissenschaft!" ab. Kallis möchte keine ökologischen Grenzen diskutieren, sondern "verschiedene Visionen der Welt, in der wir leben wollen".
Letztlich gehe es um die Frage, "welche Welt wir schaffen wollen und für wen, nicht darum, wie wir uns an eine vorgegebene, von der Natur diktierte Realität anpassen". Kallis lässt keinen Zweifel daran, dass es sich hierbei um ein kollektives Unterfangen handelt. Auch dieser Punkt ist von Gewicht. "Postwachstum" setzt sonst oft auf Mäßigung und Konsumreduktion, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen zu reflektieren, unter denen Konsumveränderungen stattfinden sollen.
Gleichzeitig fragt man sich, wie ein kollektives Projekt von Selbstbegrenzung mit Freiheit und Pluralismus vereinbar ist. Der Autor beantwortet diese Frage mit fast entwaffnender Offenheit: "Anders als ein liberaler oder libertärer geht ein 'limitarischer' Ansatz von einem Prinzip der Vorsicht und Mäßigung aus." Selbstbeherrschung, Reflexion und Autonomie sind Eckpunkte dieses Freiheitsverständnisses. Das Nachdenken über die Begrenzung von Bedürfnissen setze voraus, "die Welt als Ort des Überflusses zu akzeptieren". Kallis fordert also vehement einen radikalen Perspektivenwechsel, der grundlegende ökonomische Kategorien infrage stellt.
Alles in allem liest man hier eine streckenweise höchst anregende intellektuelle Fingerübung. Die von Kallis behauptete Praxistauglichkeit freilich ist fragwürdig. Gewiss ist es vorstellbar, dass Umweltschützer "Träger einer erstrebenswerten Vision radikaler Einfachheit" sein können und Menschen "den Wert eines einfachen Lebens" erkennen können. Aber es ist doch offensichtlich, dass Kallis' Agenda einer kollektiven Selbstbegrenzung ein Minderheitenprogramm ist. Das Hier und Heute ist von rasanter Digitalisierung, einer großen Notwendigkeit von Innovationen und nach wie vor von bedrückender weltweiter Armut geprägt. Nach der Lektüre des Buches drängt sich die Frage auf, inwieweit Kallis' Überlegungen an diese Welt anschlussfähig sind. FRED LUKS
Giorgos Kallis: Grenzen - Warum Malthus falschlag und warum uns das alle angeht. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 171 Seiten, 20 Euro.
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