Anfang 1968, Gudrun Ensslin verläßt Bernward Vesper und zieht mit ihrem sieben Monate alten Sohn Felix zu Andreas Baader. Bald darauf brennen in Frankfurt zwei Kaufhäuser; Baader, Ensslin und Thorwald Proll werden als mutmaßliche Brandstifter verhaftet, Felix ist bei Vesper, die Geschichte der RAF nimmt ihren Lauf.In keinem anderen Dokument kommt man ihrer Entstehung so nah, wie in den hier erstmals vollständig veröffentlichten Briefen, die Vesper und Ensslin bis zu ihrer bedingten Freilassung und Flucht Mitte 1969 gewechselt haben. Nach allen Glorifizierungen und Pathologisierungen, Verflimungen und Deutungen besteht nun die Möglichkeit, sich am Original ein eigenes Urteil zu bilden, Epochales und Banales, Mythos und Historie unvoreingenommen zu sondieren und einen großen, tragischen Liebes-Brief-Roman zu entdecken, der zugleich Realität war. Nicht umsonst steht auf der Mappe, in der Vesper die Briefe gesammelt hat: "Notstandsgesetze von Deiner Hand".
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Mit großem Interesse hat Ina Hartwig diese Briefe von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper gelesen, die sie im Aufmacher der Dezember-Beilage bespricht. Sie stammen vornehmlich aus der Zeit, als Ensslin wegen des Kaufhausbrandes im Gefängnis sitzt, ihren Lebensgefährten und Vater des gemeinsamen Kindes Felix hatte sie bereits für Andreas Baader verlassen. "Heißkalt" nennt Hartwig die Briefe in ihrer Mischung aus "Selbsterfüllung, Egotrip, Erotik und ideologischer Verhärtung", und sie kann dem Historiker Gerd Koenen nur zustimmen, der darin "Urszenen des deutschen Terrorismus" erkannt hat. Aber auch literarisch findet Hartwig die Briefe aufschlussreich: Vesper, dem Sohn des Nazi-Schriftstellers Will Vesper attestiert sie eine deutliche Begabung, bei Ensslin sieht sie vor allem ihre wechselhaften Stimmungen in stilistisches Wünschelrutengängertum umschlagen, sie schwanke ständig zwischen Innerlichkeit und Kollevbeschwörung, zwischen Härte und Genuss, zwischen der Absage an alle Konventionen und Mütterlichkeitseruptionen ("Knuff, puff, schmus das Pütsche-Monstre von der Mama"). Schließlich erkennt Hartwig mit diesem Briefwechsel, mit welcher Lust die RAF "Sexus, Gewalt und Praxis" vereinte, und darin auch die "Pervertierung der deutschen Romantik im Hass".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Briefwechsel ist das Protokoll eines persönlichen wie politischen Scheiterns. Doch gerade ihre Geschichte ist es, die einen berührt.« Ruben Donsbach ZEIT ONLINE 20091204