Brillant inszenierte Familiengeschichte. Und wie sich Psychosen auswirken können.
Es hätte schön sein können für den Rest ihres Lebens. Harmonisch, erfolgreich, gut situiert. Theoretisch. Doch das Leben spielt auf seiner unendlichen Klaviatur so manche Misstöne, die das Lied vom Dolce Vita in
gesellschaftlichen Disharmonien verwandelt. Liegt es an den einzelnen Personen? Angeboren? Oder…mehrBrillant inszenierte Familiengeschichte. Und wie sich Psychosen auswirken können.
Es hätte schön sein können für den Rest ihres Lebens. Harmonisch, erfolgreich, gut situiert. Theoretisch. Doch das Leben spielt auf seiner unendlichen Klaviatur so manche Misstöne, die das Lied vom Dolce Vita in gesellschaftlichen Disharmonien verwandelt. Liegt es an den einzelnen Personen? Angeboren? Oder verrückt der Druck der Umwelt die Denkweise von so manchem Zeitgenossen?
Erwin und Maria haben sich gefunden, verliebt, eine Familie gegründet. Sie wohnen im Großraum Zürich, die Kinder Lukas und Florence wachsen behütet auf, stürzen in die Pubertät und bringen damit auch das Familiengefüge ins Wanken. Während Maria stets versucht, den Weg der Liebe zu gehen, wird Erwin immer unbeherrschter. Wutausbrüche seinen Kindern gegenüber sind nur der Anfang. Florence verfällt in die Bulimie und leidet jahrelang daran. Lukas geht und findet andere Wege, beginnt zu kiffen.
Mit Erwins Jobs und Selbständigkeit läuft es nicht mehr gut. Sein Vater war ihm nie ein Halt. Im Gegenteil, was auch Erwin machte, er bekam nie die Anerkennung, die er sich wünschte.
Mit Mitte Fünfzig geht es dann so richtig rapide bergab. Erwin, der ein Freigeist war, bricht aus dem Gefüge aus. Sein Realitätsverlust läuft Amok und lässt ihn in die Natur flüchten, fort von allem. In seinen Hirngespinsten malt er sich die schönsten Situationen aus, wie er in und mit der Natur lebt, keinerlei Zivilisation mehr benötigt. Er verschwindet, hinterlässt ein paar wenige Spuren, denn schließlich ist es ein Spiel. Er möchte, dass er gesucht wird. Er will, dass die, die ihn immer noch lieben, leiden. Doch viel Liebe von seinen Kindern gibt es nicht mehr – die hat er sich mit Geltungs- und Kontrollzwang verscherzt.
Erwin sieht sich als Opfer, was in gewissem Maße stimmen mag. Aber vor allem ist er Täter. Durch seine von je her sehr bestimmende Art hat er Mauern um sich gebaut. Denn er ist es doch, der das Geld nach Hause bringt, mühsam erwirtschaftet. Dann können die anderen doch spuren und nach seiner Pfeife tanzen. Besonders seine Kinder. Überhaupt dann, wenn deren Motivation zur häuslichen Mithilfe wieder mal etwas schwankt.
S.173: „Die Antwort lautet stets: nein. Nein, sie [Anm.: Florence] hat nicht genug getan. Was sie auch macht, wie sie sich auch Mühe gibt: Es reicht nicht. Es ist nicht genug. Nein, sie ist nicht genug.“
Erwin, der sich vieles erlauben darf, auch Seitensprünge, denn das läge einfach in seiner Natur, gewährt anderen kaum einen Millimeter persönliche Freiheit. Es kommt, wie es kommen muss und eskaliert eines Tages.
Sprachgewaltig erzählt Doris Wirth diese Familiengeschichte. Die erzählende Gegenwart ist Erwins „Flucht“. In Rückblenden wird die Familienchronik peu a peu aufgearbeitet. Man bekommt ein sehr deutliches Bild der handelnden Personen, lernt die Familie kennen. Man lebt und leidet mit ihr, spielt alle Facetten des täglichen Lebens mit ihr durch.
Erwins Psychose wächst und wächst, seine verbale Gewalt manifestiert sich auf andere Art. Sein Umfeld hat Angst vor ihm.
S.276: „ ...Florence sieht die Scheinwerfer über ihre Wand kriechen. Jedes Mal schlägt sie die Augen auf und hält still. […] Was, wenn er kommt und sie findet? Sie weiß nicht, wozu er fähig ist im Moment.“
Es stellt sich vermehrt die Frage nach den Ursachen für diese psychische Erkrankung. Gesellschaftlicher Druck? Arbeit? Leistungserwartung? Oder einfach von Haus aus ein paar Synapsen zu locker?
Virtuos leitet uns die Autorin durch diese Fragen, packt sie sehr geschickt in die Familiengeschichte ein und verwebt sie zu einem spannenden, äußerst gut und angenehm zu lesenden Roman. Ganz große Leseempfehlung.