Erwachsenwerden ist, wenn die Eltern beginnen, einem peinlich zu werden. Aber Ipek, der Hauptfigur in Dilek Güngörs Roman „Vater und ich“ waren ihre Eltern und ihre Herkunft schon viel früher unangenehm. Sie wuchs in den 1970er-Jahren als Kind einer Gastarbeiterfamilie in Schwaben auf. Inzwischen
ist sie erwachsen, lebt als Radiojournalistin in Berlin und verbringt drei Tage mit ihrem Vater im…mehrErwachsenwerden ist, wenn die Eltern beginnen, einem peinlich zu werden. Aber Ipek, der Hauptfigur in Dilek Güngörs Roman „Vater und ich“ waren ihre Eltern und ihre Herkunft schon viel früher unangenehm. Sie wuchs in den 1970er-Jahren als Kind einer Gastarbeiterfamilie in Schwaben auf. Inzwischen ist sie erwachsen, lebt als Radiojournalistin in Berlin und verbringt drei Tage mit ihrem Vater im elterlichen Haus, da ihre Mutter Wellness-Urlaub macht. So weit, so gut. Aber Vater und Tochter, die sich früher so nahegestanden hatten, haben sich seit Jahren nichts zu sagen.
Das Schweigen heißt aber nicht, dass es zwischen ihnen still ist. Manchmal wird geredet, aber nichts gesagt. Und doch viel ausgedrückt. In Rückblenden erinnert sich Ipek an ihre Kindheit und Jugend, ihre Schulzeit und an die Zeit, in der zwischen ihr und dem Vater alles anders wurde. Wurde vorher miteinander gebalgt und gekuschelt, wurde später nur noch die Hand geschüttelt und Luftküsse gegeben. Weil sie heranwuchs, eine Frau wurde und ihr Vater nicht die Liebe und Zuneigung zu ihr verlor, sondern seine Unbefangenheit.
Er liebt seine Tochter, das kann man zwischen den Zeilen herauslesen. Aber er kann es ihr aus einer gewissen väterlichen Unbeholfenheit heraus nicht sagen, nur zeigen. Kleine Gesten statt großer Worte. „Ein einziges Mal habe ich gesagt, wie sehr ich die Brezeln vom Bäcker Weidemann vermisse. Seither gibt es, wenn ich bei euch bin, Frühstücksbrezeln.“ Als er auf dem Gartenstuhl einschläft, bringt sie ihm ein Kissen, um es ihm zwischen Kopf und Schulter zu schieben („Du sollst nicht ohne Kissen schlafen“). Und wäre er vor dem Fernseher eingenickt, hätte sie ihm eine Decke gebracht.
Aber sie schreibt auch über Reibereien, Streit in der Familie übers Ausgehen und Wegbleiben. Über Rassismus, Unsicherheit, Unsichtbarkeit und Anpassung. Ipeks Eltern waren nach Deutschland gekommen, um zu bleiben. Über die Gründe weiß sie selbst wenig, das meiste musste sie sich zusammenreimen. Sie weiß von Armut, Pistazienanbau und Prügel, die ihr Vater als Kind bezogen hat. Und dass er lieber weiter zur Schule gegangen wäre, als Pistazienbauer zu werden. Im Endeffekt arbeitete er in Deutschland 20 Jahre bei derselben Firma als Polsterer. Als Kind hatte Ipek versucht, ihre Eltern zur Anpassung zu zwingen. Sich eine andere Unterschrift anzugewöhnen, zum Beispiel. Und sie selbst verleugnete zum Teil ihre Herkunft („Und in der Schule behauptete ich, ich verstünde überhaupt kein Türkisch, das machte sich besser.“)
Mit ihrem Heranwachsen wuchs auch eine Kluft zwischen ihr und dem Vater. Ein Generationenkonflikt, aber auch der Konflikt Mann/Frau, Vater/Tochter und zwischen seinem von Armut und Arbeit geprägten Leben und ihrem sorgenfreien. „Und weißt es nicht einmal, weißt es nicht zu schätzen. Das sagte er nicht, ich verstand auch so. Wie es dir als Kind im Dorf ergangen war, erzähltest du nie, aber anscheinend lebte ich im Vergleich dazu das Leben jener Prinzessin, deren Hochzeit wir uns im Fernsehen angesehen hatten.“ Und ihr Vater findet, ihr fehle die Demut. Sie sind sich fremd und fern und doch tief im Inneren nah. Eine Beziehung mit Konfliktpotential, vor allem aber mit Potential. Wenn beide Seiten aufeinander zugehen. Das Buch endet nach drei Tagen und knapp 100 Seiten für mich viel zu früh mit Ipeks Heimreise nach Berlin. Sie sind sich näher gekommen, aber nicht nahe. „Wir sagen nicht du, nicht Papa, nicht Vater, nicht Baba und du nicht Ipek. Wir sprechen miteinander ohne Ansprache“ – denkt Ipek am Anfang. Gegen Ende nennt er sie „kızım“- Tochter und sie ihn baba.
Sprachlich ist das Buch unfassbar intensiv und gut geschrieben. Ich konnte mich hervorragend einfühlen, die Hauptfigur und mich verbindet offensichtlich sehr vieles, nicht nur die schwäbische Herkunft. Wie viel von der Autorin in ihrer Protagonistin steckt, vermag ich nicht zu sagen, ich kannte sie vorher nicht. Es ist ein kleines Büchlein, aber für mich ein ganz großes Buch. Daher von mir fünf St