Die erste deutsche Gesamtausgabe von Emily Dickinsons rund 1800 Gedichten zeigt die ganze Vielfalt ihrer Themen, ihren Einfallsreichtum im Formalen und ihre überraschende Entwicklung. Ihr lyrisches Werk kam zu früh für ihre engstirnige puritanische Umgebung in den USA. Kein Wunder, dass Dickinson ihre Zeitgenossen auf Distanz und ihre Lyrik unter Verschluss hielt - ihre Gedichte sind voller Ketzerei und Spottlust, ihr Werk mutig, frei und radikal im Nachdenken über die Grundfragen unserer Existenz. Die Übersetzerin Gunhild Kübler zeichnet im Nachwort ein Bild vom Leben dieser großen amerikanischen Dichterin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2015Mein Brief an die Welt
Emily Dickinson komplett, übersetzt von Gunhild Kübler
Das Nachleben Emily Dickinsons ist wahrhaft ein Wunder. Noch 1960 sagte der Dichter Robert Frost von seiner großen Kollegin: "Wir wussten gar nicht, dass sie da war." Heute gilt Emily Dickinson (1830 bis 1886) weltweit als die größte amerikanische Lyrikerin. Die zurückgezogen lebende "kleine Dame in Weiß", wie sie genannt wurde, betrieb zeitlebens einen veritablen Erfolgsstreik. Von ihren 1800 Gedichten publizierte sie ganze zehn. "Publizieren", so formuliert ein Gedicht, "heißt Versteigern eines Menschen Geist." Freilich schrieb sie auch: "Wäre der Ruhm mein, ich könnt' ihm nicht entkommen." Und so geschah es. Emily, wie sie liebevoll genannt wird, hat heute Leser in allen Ländern und Sprachen.
Für die deutsche Sprachwelt muss Paul Celan genannt werden, der, wenn auch nur mit zehn Übertragungen, den Anfang machte. In den neunziger Jahren folgten Lola Gruenthal und Susanne Schaup. Werner von Koppenfels verdanken wir eine zweisprachige Ausgabe der "Dichtungen", die mit 300 Stücken ein Korpus des Schönsten und Wesentlichen umfasst.
Warum aber nicht die ganze Emily? Warum nicht ihr ganzer "letter to the World"? Schon ihre ersten Herausgeber hatten diese Zeilen als Motto vorangesetzt: "Dies ist mein Brief an eine Welt / Die niemals schrieb an Mich." Die Schweizerin Gunhild Kübler, eine Schülerin Peter von Matts, hat die Idee einer Gesamtübertragung über Jahre verfolgt. Die erste Realisierungsstufe war 2006 der Band "Gedichte, englisch und deutsch" mit immerhin sechshundert Stücken. Küblers Leistung wurde gerühmt: sowohl ihre beherzte poetische Übertragung als auch die auf amerikanischen Forschungen basierende chronologische Ordnung der Gedichte, die erstmalig die Entwicklung der Dichterin sichtbar machte.
Sehr verständlich, dass damit die Verlockung entstand, auch den Rest - noch einmal 1200 Gedichte - ins Deutsche zu bringen. Befeuert vom sprachlichen und philologischen Eros, hat Gunhild Kübler diese Anstrengung in den Folgejahren unternommen. Wir haben nun, nach insgesamt fünfzehn Jahren Arbeit, alle 1800 Gedichte zweisprachig beisammen; ein wahrer embarras de richesse. Man muss das schlicht bewundern. Freilich mischt sich in die Bewunderung für die pure Leistung der Übersetzerin unabweisbar die Frage nach Nutzen und Sinn des Ganzen. Welcher Leser soll das alles lesen?
Es ist offenbar der passionierte Dickinson-Fan, den Kübler sich wünscht, den sie gewissermaßen voraussetzt. Zwar räumt sie ein, dass es in Dickinsons Werk auch Unfertiges, Gelegentliches und Improvisiertes gibt, meint aber, der wahrhaft interessierte Leser solle sich ihr Werk nicht vorsortieren lassen. Immerhin gibt es ja Leser - und sie dürften noch immer die Mehrzahl ausmachen -, die an die Dichterin herangeführt werden möchten, die sich einen Guide wünschen. Sagen wir ruhig: Der unvorbereitete Leser muss sich schon sehr ernsthaft in die gewaltige, auf Bibeldruckpapier dargebotene Masse einarbeiten, ehe er wahrhaft belohnt wird.
Aber wir wollen nicht undankbar sein. Dem willigen Enthusiasten kommt Gunhild Kübler entgegen. Vor allem mit einem weit ausholenden Nachwort, das Emilys Biographie mit ihrer Zeit, vor allem dem Amerikanischen Bürgerkrieg, zusammenbringt. Dickinsons skeptisch-ironische Geisteswelt scheint in den hochkonzentrierten, betörend rätselhaften Versen auf; und nicht zuletzt kommen die Probleme einer Übertragung in deutsche Verse und Reime zur Sprache. Vergessen wir nicht, dass Kübler zu vielen der Gedichte erhellende Anmerkungen liefert, ja auf Dunkelheiten und Schwächen mancher Gedichte verweist.
HARALD HARTUNG
Emily Dickinson: "Sämtliche Gedichte". Zweisprachig. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler.
Hanser Verlag, München 2015. 1404 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emily Dickinson komplett, übersetzt von Gunhild Kübler
Das Nachleben Emily Dickinsons ist wahrhaft ein Wunder. Noch 1960 sagte der Dichter Robert Frost von seiner großen Kollegin: "Wir wussten gar nicht, dass sie da war." Heute gilt Emily Dickinson (1830 bis 1886) weltweit als die größte amerikanische Lyrikerin. Die zurückgezogen lebende "kleine Dame in Weiß", wie sie genannt wurde, betrieb zeitlebens einen veritablen Erfolgsstreik. Von ihren 1800 Gedichten publizierte sie ganze zehn. "Publizieren", so formuliert ein Gedicht, "heißt Versteigern eines Menschen Geist." Freilich schrieb sie auch: "Wäre der Ruhm mein, ich könnt' ihm nicht entkommen." Und so geschah es. Emily, wie sie liebevoll genannt wird, hat heute Leser in allen Ländern und Sprachen.
Für die deutsche Sprachwelt muss Paul Celan genannt werden, der, wenn auch nur mit zehn Übertragungen, den Anfang machte. In den neunziger Jahren folgten Lola Gruenthal und Susanne Schaup. Werner von Koppenfels verdanken wir eine zweisprachige Ausgabe der "Dichtungen", die mit 300 Stücken ein Korpus des Schönsten und Wesentlichen umfasst.
Warum aber nicht die ganze Emily? Warum nicht ihr ganzer "letter to the World"? Schon ihre ersten Herausgeber hatten diese Zeilen als Motto vorangesetzt: "Dies ist mein Brief an eine Welt / Die niemals schrieb an Mich." Die Schweizerin Gunhild Kübler, eine Schülerin Peter von Matts, hat die Idee einer Gesamtübertragung über Jahre verfolgt. Die erste Realisierungsstufe war 2006 der Band "Gedichte, englisch und deutsch" mit immerhin sechshundert Stücken. Küblers Leistung wurde gerühmt: sowohl ihre beherzte poetische Übertragung als auch die auf amerikanischen Forschungen basierende chronologische Ordnung der Gedichte, die erstmalig die Entwicklung der Dichterin sichtbar machte.
Sehr verständlich, dass damit die Verlockung entstand, auch den Rest - noch einmal 1200 Gedichte - ins Deutsche zu bringen. Befeuert vom sprachlichen und philologischen Eros, hat Gunhild Kübler diese Anstrengung in den Folgejahren unternommen. Wir haben nun, nach insgesamt fünfzehn Jahren Arbeit, alle 1800 Gedichte zweisprachig beisammen; ein wahrer embarras de richesse. Man muss das schlicht bewundern. Freilich mischt sich in die Bewunderung für die pure Leistung der Übersetzerin unabweisbar die Frage nach Nutzen und Sinn des Ganzen. Welcher Leser soll das alles lesen?
Es ist offenbar der passionierte Dickinson-Fan, den Kübler sich wünscht, den sie gewissermaßen voraussetzt. Zwar räumt sie ein, dass es in Dickinsons Werk auch Unfertiges, Gelegentliches und Improvisiertes gibt, meint aber, der wahrhaft interessierte Leser solle sich ihr Werk nicht vorsortieren lassen. Immerhin gibt es ja Leser - und sie dürften noch immer die Mehrzahl ausmachen -, die an die Dichterin herangeführt werden möchten, die sich einen Guide wünschen. Sagen wir ruhig: Der unvorbereitete Leser muss sich schon sehr ernsthaft in die gewaltige, auf Bibeldruckpapier dargebotene Masse einarbeiten, ehe er wahrhaft belohnt wird.
Aber wir wollen nicht undankbar sein. Dem willigen Enthusiasten kommt Gunhild Kübler entgegen. Vor allem mit einem weit ausholenden Nachwort, das Emilys Biographie mit ihrer Zeit, vor allem dem Amerikanischen Bürgerkrieg, zusammenbringt. Dickinsons skeptisch-ironische Geisteswelt scheint in den hochkonzentrierten, betörend rätselhaften Versen auf; und nicht zuletzt kommen die Probleme einer Übertragung in deutsche Verse und Reime zur Sprache. Vergessen wir nicht, dass Kübler zu vielen der Gedichte erhellende Anmerkungen liefert, ja auf Dunkelheiten und Schwächen mancher Gedichte verweist.
HARALD HARTUNG
Emily Dickinson: "Sämtliche Gedichte". Zweisprachig. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler.
Hanser Verlag, München 2015. 1404 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Endlich: alles von der großen amerikanischen Dichterin, der rätselhaften einsamen Emily Dickinson. Lyrik in ihrer reinsten, leisesten Form." Susanne Mayer, Die Zeit, 03.12.15
"Wer so kundig und diffizil übersetzt wie diese Nachdichterin, vollbringt eine bewundernswerte Leistung." Dorothea von Törne, Neue Zürcher Zeitung, 31.05.15
"Kalt läßt Emily Dickinson sicher niemand. Ihr Werk ist jetzt in einer von Gunhild Kübler übersetzten und kommentierten, und übrigens nichts weniger als sensationellen, Ausgabe erschienen. ... Für mich sind Emily Dickinsons Gedichte ein Schatzhaus, sowohl ein Reservoir an Weltweisheit und ein Quell von Lebenslust wie auch eine Lektion in Demut. Niemand verläßt die 'Gesammelten Gedichte' Dickinsons so, wie er oder sie das Buch aufgeschlagen hat. Es ist ein Buch, das auszulesen und auszudeuten ein Menschenleben nicht reicht, ein Buch für Menschen, die noch nichts oder schon alles von der Welt gesehen haben." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 10.05.15
"Ein Triumph für Dickinson. An diesem Band wird man für lange Zeit nicht mehr vorbeikommen." Jürgen Brocan, Neue Zürcher Zeitung, 02.05.15
"Man liest eines (ein Gedicht) liest weiter und noch weiter und plötzlich liest man nicht mehr, sondern denkt weiter. Man hebt ab." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 20.04.15
"Dickinson ist wahsinnig modern, sprachmächtig und hoch gebildet." Elke Heidenreich, SRF Kultur Literaturclub, 07.04.15
"Eine große Dichterin, so leidenschaftlich wie spröde. Die Übersetzerin Gunhild Kübler hat der ersten deutschen Übertragung ihres Gesamtwerkes viele Jahre konzentrierter Arbeit gewidmet: ihr souveränes Nachwort erläutert, warum es jeden Tag wert war, in diesem Bergwerk der Empfindsamkeit, der Reflexion und Ironie mit grimmiger Freude zu schuften." Elke Schmitter, SWR Bestenliste, 26.03.15
"Wer so kundig und diffizil übersetzt wie diese Nachdichterin, vollbringt eine bewundernswerte Leistung." Dorothea von Törne, Neue Zürcher Zeitung, 31.05.15
"Kalt läßt Emily Dickinson sicher niemand. Ihr Werk ist jetzt in einer von Gunhild Kübler übersetzten und kommentierten, und übrigens nichts weniger als sensationellen, Ausgabe erschienen. ... Für mich sind Emily Dickinsons Gedichte ein Schatzhaus, sowohl ein Reservoir an Weltweisheit und ein Quell von Lebenslust wie auch eine Lektion in Demut. Niemand verläßt die 'Gesammelten Gedichte' Dickinsons so, wie er oder sie das Buch aufgeschlagen hat. Es ist ein Buch, das auszulesen und auszudeuten ein Menschenleben nicht reicht, ein Buch für Menschen, die noch nichts oder schon alles von der Welt gesehen haben." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 10.05.15
"Ein Triumph für Dickinson. An diesem Band wird man für lange Zeit nicht mehr vorbeikommen." Jürgen Brocan, Neue Zürcher Zeitung, 02.05.15
"Man liest eines (ein Gedicht) liest weiter und noch weiter und plötzlich liest man nicht mehr, sondern denkt weiter. Man hebt ab." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 20.04.15
"Dickinson ist wahsinnig modern, sprachmächtig und hoch gebildet." Elke Heidenreich, SRF Kultur Literaturclub, 07.04.15
"Eine große Dichterin, so leidenschaftlich wie spröde. Die Übersetzerin Gunhild Kübler hat der ersten deutschen Übertragung ihres Gesamtwerkes viele Jahre konzentrierter Arbeit gewidmet: ihr souveränes Nachwort erläutert, warum es jeden Tag wert war, in diesem Bergwerk der Empfindsamkeit, der Reflexion und Ironie mit grimmiger Freude zu schuften." Elke Schmitter, SWR Bestenliste, 26.03.15