Auf einer Reise durch den Südosten Ungarns macht die Erzählerin in einem fast ausgestorbenen Ort an der Grenze zu Rumänien Station. Resignation und Vergangenheitsglorifizierung beherrschen die Gespräche der Bewohner. Wie vieles andere ist auch das Kino, ungarisch »Mozi«, längst geschlossen. Einst Mittelpunkt des Ortes, spielt es nur mehr in den Erzählungen und Erinnerungen der Verbliebenen eine wichtige Rolle. Ihre eigene Leidenschaft für das Kino bewegt die Erzählerin dazu, das vor sich hin verfallende »Mozi« wieder zum Leben zu erwecken.
In ihrem neuen Buch erzählt Esther Kinsky von der unwiderstehlichen Magie des Kinos, eines Ortes, »wo Witz, Entsetzen und Erleichterung ihren gemeinschaftlichen Ausdruck fanden, ohne dass die Anonymität im dunklen Raum angegriffen wurde«. Aller glühenden Kinobegeisterung und dem Nachdenken über den »großen Tempel des bewegten Bildes« liegt die Frage zugrunde: Wie ist ein »Weiter Sehen« und eine Verständigung darüber möglich, wenn der Orteiner gemeinsamen Erfahrung zugunsten einer Privatisierung von Leben und Erleben demontiert ist?
In ihrem neuen Buch erzählt Esther Kinsky von der unwiderstehlichen Magie des Kinos, eines Ortes, »wo Witz, Entsetzen und Erleichterung ihren gemeinschaftlichen Ausdruck fanden, ohne dass die Anonymität im dunklen Raum angegriffen wurde«. Aller glühenden Kinobegeisterung und dem Nachdenken über den »großen Tempel des bewegten Bildes« liegt die Frage zugrunde: Wie ist ein »Weiter Sehen« und eine Verständigung darüber möglich, wenn der Orteiner gemeinsamen Erfahrung zugunsten einer Privatisierung von Leben und Erleben demontiert ist?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Jedes Dorf ein anderer Film
"Weiter Sehen": Esther Kinsky erzählt von der Leere der ungarischen Provinz und der Weite des Kinos.
Von Paul Ingendaay
Mitten in diesem aufmerksamen, mit sanfter Überwältigungskraft geschriebenen Buch sitzt die Erzählerin im Zuschauerraum des vergammelten Dorfkinos, das sie - wider alle Vernunft - in einem südostungarischen Nest direkt an der rumänischen Grenze gekauft hat. Es sind Augenblicke, ja Stunden der Ruhe. Sie sitzt da und lässt die Veränderungen des Sommerlichts im Saal auf sich wirken. Der Raum ist heruntergekommen, die Wände sind schimmelig. Der Geruch, na ja. Ein unbenutzter Kinosaal eben, den seine eigene Vergangenheit noch viel mehr herunterzuziehen scheint, weil die Zukunft für das Filmeschauen so düster ist. Da schleppen drei Männer vom Gemeindeamt die alte Leinwand herein, auf die früher, in der aktiven Zeit des Kinos - ungarisch "Mozi" - die Filme projiziert wurden. Die Männer bringen das zusammengerollte Ding herein und sagen, jeder im Dorf hätte sie gefragt, wann das Mozi wieder öffnen würde. Die Erzählerin fragt sich, ob vielleicht Józsi, der ehemalige Filmvorführer, der mit der möglichen Wiedereröffnung des Kinos erkennbar auch selbst wieder erweckt wird, seinen Kumpels aufgetragen haben könnte, so zu sprechen, eine Ermutigung durch Volkes Stimme gewissermaßen. Dann beobachtet sie, wie die Männer die Leinwand ablegen: "Ich schaute ihnen von den Sitzreihen aus zu und war mir nicht sicher, ob ich ihren Auftritt als Teil eines Theaterstücks oder als Probe für einen Film betrachten sollte." Das ist Esther Kinsky. Ständig ruft sie die Ästhetik des Kinos auf, folgt seinen Fährten, liest seine Symbole, doch ihre Sprache hält uns immer bewusst, dass wir selbst nicht mehr Teil dieser Verzauberung sein können außer in unserer Erinnerung oder in Phantasien, die eine verlorene Magie wieder in die Gegenwart zurückholen. Ihr neues Buch schafft einen Platz für diese Phantasien. Es heißt "Weiter Sehen". Die Schreibung mahnt, auf alles zu achten, auf Großschreibung oder Kleinschreibung, zusammen oder getrennt, genau wie in ihrem Buch zum Übersetzen mit dem sinnreichen Titel "Fremdsprechen" (2013). Muss man erwähnen, dass die Leinwand, welche die drei Männer ins Mozi schleppen, nach so vielen Jahren verrottet ist, genauso wie anderes Gerät, das die Erzählerin und Józsi auf künftige Verwendbarkeit prüfen? Dann muss es als Projektionsfläche eben die weiß getünchte Wand tun. Und die Instandsetzung der alten Apparate in der Provinz wird zu einer kleinen Odyssee. "Weiter Sehen" ist eine Hommage an eine nahezu untergegangene Kulturpraxis: dass sich Menschen zu einer festgesetzten Stunde an einem Ort versammeln, um einen Film zu schauen. Auf großer Leinwand. Zusammen mit Fremden. Oder, wie es an anderer Stelle über die selige Zeit des hemmungslosen Schauens heißt, als es überall Kinos gab, in den Metropolen sowieso, aber auch in kleineren Städten: Man "legte filmhungrig den Weg ins Kino zurück und filmsatt den Rückweg". Was jetzt dagegen überall herrscht, ist die Privatisierung des Blicks und damit die Vereinsamung des Sehens am heimischen Laptop. Deshalb ist dieses Buch auch ein Abschied von der Materialität des Filmeschauens, vom Projektor und seinen Geräuschen, den ollen Klappsitzen in einem Saal für 350 Menschen, vom Zelluloid und seinem giftigen Mief. Abschied bedeutet Trauer. Den Grundton schlägt das Buch schon auf den ersten Seiten an. Dort unterscheidet die Erzählerin zwischen dem "Was" und dem "Wie" des Sehens. Für dieses Wie, schreibt sie, also "für die Besinnung auf den Platz, den man sich sehend zuweist oder nimmt", sei kein Ort so bedeutend gewesen wie das Kino als physischer Ort. "Dieser Raum", heißt es weiter, "der nicht einmal hundert Jahre lang Bedeutung und Gültigkeit hatte, schließt sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter." Deshalb also der Kauf eines Kinos, selbst am unwahrscheinlichsten Ort von allen. Und mit allerschmalsten Erfolgsaussichten. Den Ort zu besitzen und gestalten zu können heißt ja: den eigenen Phantasien eine Spielfläche zu geben. Natürlich fängt das Bewusstsein vom Kino schon in der Kindheit an, denn "Sehen ist eine Fertigkeit, die man erlernt". Und: "Am Anfang ist immer der gerahmte Blick." Zu Bewusstsein kommt das durch frühe Empfindungen am Wintermorgen, als das Kind die Welt anders sah, je nachdem, ob es sich draußen befand oder im Haus hinter dem Fenster. Später kommt das Fernglas, dann der Sucher der Kamera, noch später - in einer westdeutschen Stadt - folgen die Kinobesuche mit dem Vater, der die Erzählerin und ihre Schwester manchmal in ein Kino in Bahnhofsnähe bringt, wo Vorfilm, Hauptfilm und Wochenschau in Endlosschleife laufen. Alle sinnlichen Eindrücke des Ortes verstärken seine Besonderheit, der muffige Geruch, die schweren Filzvorhänge oder "die Platzanweiserin mit ihrer Lockenfrisur und dem müden Gesicht, die immer bemüht war, uns eine Reihe zu finden, in der niemand saß". Und noch eine Erinnerung: Damals wurde in bundesdeutschen Kinos geraucht, wie überall, die Schwaden zogen vor den Filmbildern dahin und betonten die Rolle derer, die im Dunkeln saßen und nichts taten, als aufmerksam zu schauen. Kinskys neues Buch nennt bewusst nicht den Namen der kleinen Stadt, um die es geht und in der die Autorin einige Jahre gelebt hat. In ihrem 2011 erschienenen Roman "Banatsko", der auch von dem olivfarbenen alten Kino und der abblätternden Schrift auf der Fassade erzählt hat, fällt er: Battonya. Nächstgrößere Stadt: Arad, kurz hinter der rumänischen Grenze. Eine "Landschaft der Leere, der Wiederholung, der verwirrend ähnlichen Namen auf den Ortsschildern, der großen Langsamkeit". Aber der Name tut nichts zur Sache. Viel tiefer wirkt die Haltung, mit der die Erzählerin die Stadt und deren Umgebung durchwandert. Vor der ebenso nüchternen wie hingebungsvollen Beschreibungskunst dieser Autorin wird ein Begriff völlig lächerlich, mit dem Feuilletons die unbekannteren Regionen des europäischen Ostens bezeichnet haben: als "Nicht-Orte". In diesem Buch dagegen lässt sich lernen: "Jedes Dorf ein anderer Film, so schien es mir. Jedes Fenster ein Kino." Es gehört zur Signatur von Esther Kinskys Schreiben, dass ihre Bücher immer in der Fremde spielen, als machte das allzu Vertraute die Sinne träge und lohnte sich nicht. Sie berichten von einer Einzelgängerin auf Reisen, die bereit ist, den Lebensmittelpunkt zu wechseln. Ein gewisses Fremdbleiben, genährt von Neugierde und Schwermut, bestimmt ihren Blick, ein Eindruck, den die menschenleeren, gewissermaßen lautlosen Fotos der Autorin verstärken. Irgendwann ist auch die fremde Sprache gelernt - die Erzählerin verhehlt nicht die Mühen des Anfangens -, und bald leuchten lyrische Zeilen aus genau dieser Fremde in den Text hinein, nämlich aus Gedichten des berühmten ungarischen Dichters Attila József. Menschliche Bindungen dagegen erfolgen tastend, wenn überhaupt, und sie hängen an sehr dünnen Fäden, denn Battonya ist stark geschrumpft, alleingelassen, eine Grenzregion voller selbst auferlegter Schranken. Da ist Rozalia, die putzen geht und sich jetzt eben auch um das Kino kümmert. Oder der betrunkene Gitarrenspieler, dem man wie Troubadix verbieten muss, während der Kinovorstellung in die Saiten seiner Leier zu greifen. Oder die alte Olga, ehemals Verkäuferin am Kino-"Büfé", die sich irgendwann niederlegt und stirbt. So wichtig wie reale Menschen in ihrer Nähe sind die Geschichten, welche die Erzählerin im Lauf der Zeit aufsammelt und in ihre Privatmythologie einfügt. Dafür muss sie in Battonya nur zuhören, nachfragen und alte Friedhofsinschriften lesen. Die wichtigste dieser Geschichten handelt von Deutsch Lazsló, genannt Laci, der im Dorf begraben liegt, ehemals Filmvorführer im Wanderkino, ein Enthusiast vor hundert Jahren, als Budapest noch hundert Kinos hatte. Lacis Lebensweg handelt von der alles beherrschenden Leidenschaft für den Film, bevor er sprechen lernte, also auch von den Klavier- und Akkordeonspielern, die die Vorführungen begleiteten und wenig später so arbeitslos sein würden wie der arme Laci, der nur Stummfilm gelernt hatte. Aber welche Macht war ihm gegeben, solange sie währte! "Wer am Hebel des Projektors saß, konnte die Welt schneller oder langsamer laufen lassen, je nach Gutdünken, um sich einen Scherz zu erlauben oder aus Hilflosigkeit vor einer Maschinenlaune, und das Publikum schwankte zwischen Schrecken und Staunen. Das Kino war die Welt." Man scheut sich, hier von Nostalgie zu sprechen. Kinskys Blick verklärt nichts, und ihre Prosa ist ebenso klar wie gedankenreich. "Weiter Sehen" beschwört das Kino als poetischen Ausdruck für ein Verhältnis zur Welt, mehr: "als Beistand, als Begleiter für jedermann, als Leitstern und Geleit . . ., ein Ort, der ungezählten Einsamkeiten, Hoffnungen, Träumen Obdach bot, ein Obdach mit Ausblick". Doch es gibt kein Zurück. Durch die Schönheit von Esther Kinskys Sätzen schimmert eine Untröstlichkeit, die wir erst beim Lesen ganz erfassen können. Esther Kinsky: "Weiter Sehen". Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 185 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Weiter Sehen": Esther Kinsky erzählt von der Leere der ungarischen Provinz und der Weite des Kinos.
Von Paul Ingendaay
Mitten in diesem aufmerksamen, mit sanfter Überwältigungskraft geschriebenen Buch sitzt die Erzählerin im Zuschauerraum des vergammelten Dorfkinos, das sie - wider alle Vernunft - in einem südostungarischen Nest direkt an der rumänischen Grenze gekauft hat. Es sind Augenblicke, ja Stunden der Ruhe. Sie sitzt da und lässt die Veränderungen des Sommerlichts im Saal auf sich wirken. Der Raum ist heruntergekommen, die Wände sind schimmelig. Der Geruch, na ja. Ein unbenutzter Kinosaal eben, den seine eigene Vergangenheit noch viel mehr herunterzuziehen scheint, weil die Zukunft für das Filmeschauen so düster ist. Da schleppen drei Männer vom Gemeindeamt die alte Leinwand herein, auf die früher, in der aktiven Zeit des Kinos - ungarisch "Mozi" - die Filme projiziert wurden. Die Männer bringen das zusammengerollte Ding herein und sagen, jeder im Dorf hätte sie gefragt, wann das Mozi wieder öffnen würde. Die Erzählerin fragt sich, ob vielleicht Józsi, der ehemalige Filmvorführer, der mit der möglichen Wiedereröffnung des Kinos erkennbar auch selbst wieder erweckt wird, seinen Kumpels aufgetragen haben könnte, so zu sprechen, eine Ermutigung durch Volkes Stimme gewissermaßen. Dann beobachtet sie, wie die Männer die Leinwand ablegen: "Ich schaute ihnen von den Sitzreihen aus zu und war mir nicht sicher, ob ich ihren Auftritt als Teil eines Theaterstücks oder als Probe für einen Film betrachten sollte." Das ist Esther Kinsky. Ständig ruft sie die Ästhetik des Kinos auf, folgt seinen Fährten, liest seine Symbole, doch ihre Sprache hält uns immer bewusst, dass wir selbst nicht mehr Teil dieser Verzauberung sein können außer in unserer Erinnerung oder in Phantasien, die eine verlorene Magie wieder in die Gegenwart zurückholen. Ihr neues Buch schafft einen Platz für diese Phantasien. Es heißt "Weiter Sehen". Die Schreibung mahnt, auf alles zu achten, auf Großschreibung oder Kleinschreibung, zusammen oder getrennt, genau wie in ihrem Buch zum Übersetzen mit dem sinnreichen Titel "Fremdsprechen" (2013). Muss man erwähnen, dass die Leinwand, welche die drei Männer ins Mozi schleppen, nach so vielen Jahren verrottet ist, genauso wie anderes Gerät, das die Erzählerin und Józsi auf künftige Verwendbarkeit prüfen? Dann muss es als Projektionsfläche eben die weiß getünchte Wand tun. Und die Instandsetzung der alten Apparate in der Provinz wird zu einer kleinen Odyssee. "Weiter Sehen" ist eine Hommage an eine nahezu untergegangene Kulturpraxis: dass sich Menschen zu einer festgesetzten Stunde an einem Ort versammeln, um einen Film zu schauen. Auf großer Leinwand. Zusammen mit Fremden. Oder, wie es an anderer Stelle über die selige Zeit des hemmungslosen Schauens heißt, als es überall Kinos gab, in den Metropolen sowieso, aber auch in kleineren Städten: Man "legte filmhungrig den Weg ins Kino zurück und filmsatt den Rückweg". Was jetzt dagegen überall herrscht, ist die Privatisierung des Blicks und damit die Vereinsamung des Sehens am heimischen Laptop. Deshalb ist dieses Buch auch ein Abschied von der Materialität des Filmeschauens, vom Projektor und seinen Geräuschen, den ollen Klappsitzen in einem Saal für 350 Menschen, vom Zelluloid und seinem giftigen Mief. Abschied bedeutet Trauer. Den Grundton schlägt das Buch schon auf den ersten Seiten an. Dort unterscheidet die Erzählerin zwischen dem "Was" und dem "Wie" des Sehens. Für dieses Wie, schreibt sie, also "für die Besinnung auf den Platz, den man sich sehend zuweist oder nimmt", sei kein Ort so bedeutend gewesen wie das Kino als physischer Ort. "Dieser Raum", heißt es weiter, "der nicht einmal hundert Jahre lang Bedeutung und Gültigkeit hatte, schließt sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter." Deshalb also der Kauf eines Kinos, selbst am unwahrscheinlichsten Ort von allen. Und mit allerschmalsten Erfolgsaussichten. Den Ort zu besitzen und gestalten zu können heißt ja: den eigenen Phantasien eine Spielfläche zu geben. Natürlich fängt das Bewusstsein vom Kino schon in der Kindheit an, denn "Sehen ist eine Fertigkeit, die man erlernt". Und: "Am Anfang ist immer der gerahmte Blick." Zu Bewusstsein kommt das durch frühe Empfindungen am Wintermorgen, als das Kind die Welt anders sah, je nachdem, ob es sich draußen befand oder im Haus hinter dem Fenster. Später kommt das Fernglas, dann der Sucher der Kamera, noch später - in einer westdeutschen Stadt - folgen die Kinobesuche mit dem Vater, der die Erzählerin und ihre Schwester manchmal in ein Kino in Bahnhofsnähe bringt, wo Vorfilm, Hauptfilm und Wochenschau in Endlosschleife laufen. Alle sinnlichen Eindrücke des Ortes verstärken seine Besonderheit, der muffige Geruch, die schweren Filzvorhänge oder "die Platzanweiserin mit ihrer Lockenfrisur und dem müden Gesicht, die immer bemüht war, uns eine Reihe zu finden, in der niemand saß". Und noch eine Erinnerung: Damals wurde in bundesdeutschen Kinos geraucht, wie überall, die Schwaden zogen vor den Filmbildern dahin und betonten die Rolle derer, die im Dunkeln saßen und nichts taten, als aufmerksam zu schauen. Kinskys neues Buch nennt bewusst nicht den Namen der kleinen Stadt, um die es geht und in der die Autorin einige Jahre gelebt hat. In ihrem 2011 erschienenen Roman "Banatsko", der auch von dem olivfarbenen alten Kino und der abblätternden Schrift auf der Fassade erzählt hat, fällt er: Battonya. Nächstgrößere Stadt: Arad, kurz hinter der rumänischen Grenze. Eine "Landschaft der Leere, der Wiederholung, der verwirrend ähnlichen Namen auf den Ortsschildern, der großen Langsamkeit". Aber der Name tut nichts zur Sache. Viel tiefer wirkt die Haltung, mit der die Erzählerin die Stadt und deren Umgebung durchwandert. Vor der ebenso nüchternen wie hingebungsvollen Beschreibungskunst dieser Autorin wird ein Begriff völlig lächerlich, mit dem Feuilletons die unbekannteren Regionen des europäischen Ostens bezeichnet haben: als "Nicht-Orte". In diesem Buch dagegen lässt sich lernen: "Jedes Dorf ein anderer Film, so schien es mir. Jedes Fenster ein Kino." Es gehört zur Signatur von Esther Kinskys Schreiben, dass ihre Bücher immer in der Fremde spielen, als machte das allzu Vertraute die Sinne träge und lohnte sich nicht. Sie berichten von einer Einzelgängerin auf Reisen, die bereit ist, den Lebensmittelpunkt zu wechseln. Ein gewisses Fremdbleiben, genährt von Neugierde und Schwermut, bestimmt ihren Blick, ein Eindruck, den die menschenleeren, gewissermaßen lautlosen Fotos der Autorin verstärken. Irgendwann ist auch die fremde Sprache gelernt - die Erzählerin verhehlt nicht die Mühen des Anfangens -, und bald leuchten lyrische Zeilen aus genau dieser Fremde in den Text hinein, nämlich aus Gedichten des berühmten ungarischen Dichters Attila József. Menschliche Bindungen dagegen erfolgen tastend, wenn überhaupt, und sie hängen an sehr dünnen Fäden, denn Battonya ist stark geschrumpft, alleingelassen, eine Grenzregion voller selbst auferlegter Schranken. Da ist Rozalia, die putzen geht und sich jetzt eben auch um das Kino kümmert. Oder der betrunkene Gitarrenspieler, dem man wie Troubadix verbieten muss, während der Kinovorstellung in die Saiten seiner Leier zu greifen. Oder die alte Olga, ehemals Verkäuferin am Kino-"Büfé", die sich irgendwann niederlegt und stirbt. So wichtig wie reale Menschen in ihrer Nähe sind die Geschichten, welche die Erzählerin im Lauf der Zeit aufsammelt und in ihre Privatmythologie einfügt. Dafür muss sie in Battonya nur zuhören, nachfragen und alte Friedhofsinschriften lesen. Die wichtigste dieser Geschichten handelt von Deutsch Lazsló, genannt Laci, der im Dorf begraben liegt, ehemals Filmvorführer im Wanderkino, ein Enthusiast vor hundert Jahren, als Budapest noch hundert Kinos hatte. Lacis Lebensweg handelt von der alles beherrschenden Leidenschaft für den Film, bevor er sprechen lernte, also auch von den Klavier- und Akkordeonspielern, die die Vorführungen begleiteten und wenig später so arbeitslos sein würden wie der arme Laci, der nur Stummfilm gelernt hatte. Aber welche Macht war ihm gegeben, solange sie währte! "Wer am Hebel des Projektors saß, konnte die Welt schneller oder langsamer laufen lassen, je nach Gutdünken, um sich einen Scherz zu erlauben oder aus Hilflosigkeit vor einer Maschinenlaune, und das Publikum schwankte zwischen Schrecken und Staunen. Das Kino war die Welt." Man scheut sich, hier von Nostalgie zu sprechen. Kinskys Blick verklärt nichts, und ihre Prosa ist ebenso klar wie gedankenreich. "Weiter Sehen" beschwört das Kino als poetischen Ausdruck für ein Verhältnis zur Welt, mehr: "als Beistand, als Begleiter für jedermann, als Leitstern und Geleit . . ., ein Ort, der ungezählten Einsamkeiten, Hoffnungen, Träumen Obdach bot, ein Obdach mit Ausblick". Doch es gibt kein Zurück. Durch die Schönheit von Esther Kinskys Sätzen schimmert eine Untröstlichkeit, die wir erst beim Lesen ganz erfassen können. Esther Kinsky: "Weiter Sehen". Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 185 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nico Bleutge gibt sich der ruhig dahinfließenden Prosa von Esther Kinsky hin. Dass der Text über eine Kinoenthusiastin, die in Budapest ein altes Lichtspielhaus wieder zum Leben erwecken möchte, nicht mit Sensationen lockt, sondern mit Gleichmäßigkeit im Satzbau und gemessener Erinnerung, gefällt Bleutge. Auch das Assoziative findet er gut. Wenn Kinsky mitunter allzu tief in die Metaphernkiste greift und alles, Landschaft, Kinderblick, Erzählerin, zum Filmrequisit wird, drückt Bleutge gern mal ein Augen zu.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2023Rettet
das Kino
Ein Lebenstraum: in einer gottverlassenen
Gegend einen verfallenen Filmpalast
zu neuem Leben erwecken.
Esther Kinsky verwirklicht ihn
mit schwerelosen Sätzen
VON NICO BLEUTGE
Die Erzählerin hat noch nicht einmal den aufgelassenen Kinosaal erreicht, als sie schon von der Atmosphäre umfangen ist: Kühlfeuchte Luft weht ihr entgegen, die Türen kratzen über den Steinboden, sie sieht das leere Foyer, die Kasse, den kleinen Kiosk, die Garderobe – und die Imagination setzt ein: „Ich konnte mir vorstellen, wie sich die erwartungsvollen Zuschauer gedrängt hatten, wie es nach regenfeuchten Jacken gerochen hatte, wie man Schlange stand, um Jacken und Mäntel an der Garderobe abzugeben.“
Es ist eine doppelte Vergangenheit, von der Esther Kinskys Erzählerin an dieser Stelle spricht. Die Zeit, die sie in ihre Sätze holt, liegt beinahe 20 Jahre zurück. Und das Kino, das sie damals in der kleinen Stadt im Südosten Ungarns entdeckte, war da schon seit vielen Jahren geschlossen. Doch gerade dank dieses zweifachen Filters wird ihre ganze Leidenschaft für das Kino spürbar. Wobei „Kino“ hier nicht nur den Blick auf die Leinwand meint, sondern ein umfassendes Wahrnehmungserlebnis, das alle Sinne gleichermaßen anspricht, bei dem der Weg dorthin genauso wichtig ist wie die Stimmung im Foyer – und das sich vor allem aus dem Zusammensein mit anderen Menschen speist.
Wie immer bei Kinsky greifen die Sätze weit aus und ziehen kulturhistorische Stoffe aus den unterschiedlichsten Bereichen in ihren Rhythmus. So ist ihr Buch über das Kino auch ein Buch über das Sehen geworden, über gemeinsames Erleben, über das Erkunden von Landschaft. Und über das Verschwinden all dieser Phänomene.
Zugleich hält es auf raffinierte Art und Weise die Erinnerung an sie aufrecht. Wie bei jenem Vermieter der Erzählerin, der die Namen der ehemaligen Bewohner des Städtchens erwähnt, sind Erinnerung und Vergessen ineinander verhakt: „Er hob die linke Hand, an der zweieinhalb Finger fehlten, und zählte daran mit der rechten Hand die Namen auf, wobei er immer, wenn er bei den fehlenden Fingern und dem verbliebenen Stummel ankam, in die Leere griff, als hätte er ihren Verlust vergessen.“
Auch wenn Kinskys Text immer wieder in essayistischer Manier assoziativ vorgeht, Begriffe wendet und sie mit Anschauung verbindet, ist sein Grundton ein erzählender. Kinsky nimmt einen Ausschnitt aus ihrer eigenen Lebensgeschichte als Fallbeispiel. In nur leichter Verfremdung einer Szenerie, die sie schon in ihren Romanen „Sommerfrische“ und „Banatsko“ aufgefaltet hat, reist ihre Erzählerin in das Alföld, jenes Tiefland im Südosten Ungarns, das bis an die Grenzen zu Rumänien und Serbien reicht. In einem der halbverlassenen Städtchen dort bleibt sie hängen. Sie entdeckt ein altes olivgrünes Gebäude, auf dem in gezacktem Schriftzug „Mozi“ steht, Kino – und wird sofort davon angezogen.
Ungarische Filme hatten sie einst dazu gebracht, sich Budapest als Wohnort auszusuchen. Nun ist es ihr Traum, in dieser abgeschiedenen Gegend das Kino noch einmal zum Leben zu erwecken und genau solche Filme zu zeigen. Immer wieder fährt sie aus der Hauptstadt in den kleinen Ort, lässt sich das leere Kino zeigen und beschließt, es zu kaufen und herzurichten. Natürlich sind die Zweifel groß, die große Zeit des Kinos ist längst vorbei. „Niemand geht mehr ins Kino“, sagt eine ihrer Nachbarinnen in Budapest: „Wenn man am Kino gesehen wird, meinen alle, man hätte kein Geld für einen Fernseher. Oder für ein Videogerät.“
Nicht von ungefähr ist das Buch aus der Erinnerung heraus erzählt. Aus der Spannung zwischen dem melancholischen Rückblick der Erzählerin und der aufblitzenden Begeisterung ihres früheren Ichs für das Kino gewinnt Kinsky die dramaturgische Energie für ihre Sätze. Und die Möglichkeit, den erzählerischen Blick zu weiten, für Reflexionen über das Sehen. „To look is an act of choice“, hatte John Berger einst geschrieben.
Kinsky übersetzt den Satz als „Willensakt des So-und-nicht-anders-Sehens“ und dreht ihn, um ihrem Buch in Sachen medialer Ausrichtung eine gegenwartskritische Perspektive einzuziehen: „Das Schwinden des Kinos als Ort lässt sich nicht trennen von der Unterwanderung des Sehens als Willensakt durch die Vorgaukelung einer größeren Auswahl, abgedrängt ins Private, Kleine, Kontrollierbare. Der Öffentlichkeit entzogen, der Subversion entfremdet.“
Ähnlich kritisch deutet sie die Gegend, das Alföld, das exemplarisch für die ausgelaugten Orte Mitteleuropas steht. Eine Landschaft „der Abwesenheiten“, in der viele Menschen abgewandert, gestorben, verschwunden sind. „Alles war Warten, Warten im Schatten des Mangels.“ Nur in den Köpfen mancher Bewohner ist noch die Erinnerung daran vorhanden, dass der heruntergekommene Ort einmal eine ansehnliche Stadt war und im Kino Filme von Kurosawa oder Fassbinder gezeigt wurden.
So ist das Buch nicht nur ein Requiem für das Kino und für diese Grenzlandschaft in Mitteleuropa, sondern auch für die mit der Geschichte verbundenen Menschen, die „Gespenster der Straße“ und ihre im besten Sinne eigensinnigen Arten zu leben. Für Józsi zum Beispiel, den ehemaligen Vorführer, oder für Deutsch László, genannt Laci, der mit einem Wanderkino über die Dörfer zog und nicht zuletzt den Bau des Mozi angeregt hat.
Den Anfang ihrer Leidenschaft für das Kino findet die Erzählerin in ihren frühen Jahren, in der Lust des Kindes, aus dem Fenster zu sehen. Der „gerahmte Blick“ auf die Landschaft als Urmodell des Sehens im Kinosaal. Ein wenig gewollt wirkt diese Verbindung, der kindliche Blick aus dem Fenster hätte auch zu anderen Vorlieben führen können, zu einer Begeisterung für das Betrachten von Gemälden etwa.
Auch Kinskys Neigung, überall die Filmmetapher auszuspielen, möchte man nicht immer folgen – nicht nur die Landschaft wird hier ein ums andere Mal zum „Film, der immer weiterlief“, auch Theaterszenen oder die Erinnerung. Die Erzählerin selbst kommt sich mitunter vor wie eine „Statistin in einem Film“. So verallgemeinert und kassiert die Metapher wichtige Unterschiede zwischen verschiedenen Wahrnehmungssituationen.
Aber all das kann das Vergnügen an diesem Band nicht schmälern. Mit der Dantes „Commedia“ entliehenen Kraft namens „ardore“, die Esther Kinsky gerade in einem kleinen Essay über die Hoffnung erkundet hat (Droschl-Verlag, 48 Seiten, zwölf Euro), dem „glühenden Trachten nach neuer Erfahrung“, eröffnet die Erzählerin schließlich ihr Kino.
Auch wenn das Buch damit nicht enden wird: „Der aufgegebene, verwaiste Kinosaal war mit einem Schlag der dunkle Raum, dem man sich überlassen wollte, um zu sehen und weiter zu sehen, der Wunderkubus mit seiner eigenen Zeitrechnung.“
Ein solcher Wunderkubus ist auch „Weiter Sehen“. Wobei der Ton nichts Sensationsheischendes hat. Ruhig wie die Donau durch Budapest fließen die Sätze dahin, gleichmäßig im Satzbau, allerdings immer wieder leicht aufgeraut durch den bewussten Einsatz veralteter Wendungen und Wörter wie „mit einem Schlag“ oder „Gutdünken“. An ihren besten Stellen erinnern sie an die nächtlichen Friedhöfe des Tieflands an Allerseelen, die einmal beschrieben werden: „leuchtende Inseln, aller Schwerkraft enthoben“.
Ungarische Filme haben die
Autorin selbst dazu gebracht,
nach Budapest umzuziehen
Ruhig wie die Donau fließen
Kinskys Sätze dahin, es gibt
nichts Sensationsheischendes
Esther Kinsky:
Weiter Sehen.
Suhrkamp, Berlin 2023. 185 Seiten, 24 Euro.
Charismatische Orte wie das Urania Kino in Budapest verschwinden überall auf der Welt.
Foto: IMAGO/iNikiLiax
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das Kino
Ein Lebenstraum: in einer gottverlassenen
Gegend einen verfallenen Filmpalast
zu neuem Leben erwecken.
Esther Kinsky verwirklicht ihn
mit schwerelosen Sätzen
VON NICO BLEUTGE
Die Erzählerin hat noch nicht einmal den aufgelassenen Kinosaal erreicht, als sie schon von der Atmosphäre umfangen ist: Kühlfeuchte Luft weht ihr entgegen, die Türen kratzen über den Steinboden, sie sieht das leere Foyer, die Kasse, den kleinen Kiosk, die Garderobe – und die Imagination setzt ein: „Ich konnte mir vorstellen, wie sich die erwartungsvollen Zuschauer gedrängt hatten, wie es nach regenfeuchten Jacken gerochen hatte, wie man Schlange stand, um Jacken und Mäntel an der Garderobe abzugeben.“
Es ist eine doppelte Vergangenheit, von der Esther Kinskys Erzählerin an dieser Stelle spricht. Die Zeit, die sie in ihre Sätze holt, liegt beinahe 20 Jahre zurück. Und das Kino, das sie damals in der kleinen Stadt im Südosten Ungarns entdeckte, war da schon seit vielen Jahren geschlossen. Doch gerade dank dieses zweifachen Filters wird ihre ganze Leidenschaft für das Kino spürbar. Wobei „Kino“ hier nicht nur den Blick auf die Leinwand meint, sondern ein umfassendes Wahrnehmungserlebnis, das alle Sinne gleichermaßen anspricht, bei dem der Weg dorthin genauso wichtig ist wie die Stimmung im Foyer – und das sich vor allem aus dem Zusammensein mit anderen Menschen speist.
Wie immer bei Kinsky greifen die Sätze weit aus und ziehen kulturhistorische Stoffe aus den unterschiedlichsten Bereichen in ihren Rhythmus. So ist ihr Buch über das Kino auch ein Buch über das Sehen geworden, über gemeinsames Erleben, über das Erkunden von Landschaft. Und über das Verschwinden all dieser Phänomene.
Zugleich hält es auf raffinierte Art und Weise die Erinnerung an sie aufrecht. Wie bei jenem Vermieter der Erzählerin, der die Namen der ehemaligen Bewohner des Städtchens erwähnt, sind Erinnerung und Vergessen ineinander verhakt: „Er hob die linke Hand, an der zweieinhalb Finger fehlten, und zählte daran mit der rechten Hand die Namen auf, wobei er immer, wenn er bei den fehlenden Fingern und dem verbliebenen Stummel ankam, in die Leere griff, als hätte er ihren Verlust vergessen.“
Auch wenn Kinskys Text immer wieder in essayistischer Manier assoziativ vorgeht, Begriffe wendet und sie mit Anschauung verbindet, ist sein Grundton ein erzählender. Kinsky nimmt einen Ausschnitt aus ihrer eigenen Lebensgeschichte als Fallbeispiel. In nur leichter Verfremdung einer Szenerie, die sie schon in ihren Romanen „Sommerfrische“ und „Banatsko“ aufgefaltet hat, reist ihre Erzählerin in das Alföld, jenes Tiefland im Südosten Ungarns, das bis an die Grenzen zu Rumänien und Serbien reicht. In einem der halbverlassenen Städtchen dort bleibt sie hängen. Sie entdeckt ein altes olivgrünes Gebäude, auf dem in gezacktem Schriftzug „Mozi“ steht, Kino – und wird sofort davon angezogen.
Ungarische Filme hatten sie einst dazu gebracht, sich Budapest als Wohnort auszusuchen. Nun ist es ihr Traum, in dieser abgeschiedenen Gegend das Kino noch einmal zum Leben zu erwecken und genau solche Filme zu zeigen. Immer wieder fährt sie aus der Hauptstadt in den kleinen Ort, lässt sich das leere Kino zeigen und beschließt, es zu kaufen und herzurichten. Natürlich sind die Zweifel groß, die große Zeit des Kinos ist längst vorbei. „Niemand geht mehr ins Kino“, sagt eine ihrer Nachbarinnen in Budapest: „Wenn man am Kino gesehen wird, meinen alle, man hätte kein Geld für einen Fernseher. Oder für ein Videogerät.“
Nicht von ungefähr ist das Buch aus der Erinnerung heraus erzählt. Aus der Spannung zwischen dem melancholischen Rückblick der Erzählerin und der aufblitzenden Begeisterung ihres früheren Ichs für das Kino gewinnt Kinsky die dramaturgische Energie für ihre Sätze. Und die Möglichkeit, den erzählerischen Blick zu weiten, für Reflexionen über das Sehen. „To look is an act of choice“, hatte John Berger einst geschrieben.
Kinsky übersetzt den Satz als „Willensakt des So-und-nicht-anders-Sehens“ und dreht ihn, um ihrem Buch in Sachen medialer Ausrichtung eine gegenwartskritische Perspektive einzuziehen: „Das Schwinden des Kinos als Ort lässt sich nicht trennen von der Unterwanderung des Sehens als Willensakt durch die Vorgaukelung einer größeren Auswahl, abgedrängt ins Private, Kleine, Kontrollierbare. Der Öffentlichkeit entzogen, der Subversion entfremdet.“
Ähnlich kritisch deutet sie die Gegend, das Alföld, das exemplarisch für die ausgelaugten Orte Mitteleuropas steht. Eine Landschaft „der Abwesenheiten“, in der viele Menschen abgewandert, gestorben, verschwunden sind. „Alles war Warten, Warten im Schatten des Mangels.“ Nur in den Köpfen mancher Bewohner ist noch die Erinnerung daran vorhanden, dass der heruntergekommene Ort einmal eine ansehnliche Stadt war und im Kino Filme von Kurosawa oder Fassbinder gezeigt wurden.
So ist das Buch nicht nur ein Requiem für das Kino und für diese Grenzlandschaft in Mitteleuropa, sondern auch für die mit der Geschichte verbundenen Menschen, die „Gespenster der Straße“ und ihre im besten Sinne eigensinnigen Arten zu leben. Für Józsi zum Beispiel, den ehemaligen Vorführer, oder für Deutsch László, genannt Laci, der mit einem Wanderkino über die Dörfer zog und nicht zuletzt den Bau des Mozi angeregt hat.
Den Anfang ihrer Leidenschaft für das Kino findet die Erzählerin in ihren frühen Jahren, in der Lust des Kindes, aus dem Fenster zu sehen. Der „gerahmte Blick“ auf die Landschaft als Urmodell des Sehens im Kinosaal. Ein wenig gewollt wirkt diese Verbindung, der kindliche Blick aus dem Fenster hätte auch zu anderen Vorlieben führen können, zu einer Begeisterung für das Betrachten von Gemälden etwa.
Auch Kinskys Neigung, überall die Filmmetapher auszuspielen, möchte man nicht immer folgen – nicht nur die Landschaft wird hier ein ums andere Mal zum „Film, der immer weiterlief“, auch Theaterszenen oder die Erinnerung. Die Erzählerin selbst kommt sich mitunter vor wie eine „Statistin in einem Film“. So verallgemeinert und kassiert die Metapher wichtige Unterschiede zwischen verschiedenen Wahrnehmungssituationen.
Aber all das kann das Vergnügen an diesem Band nicht schmälern. Mit der Dantes „Commedia“ entliehenen Kraft namens „ardore“, die Esther Kinsky gerade in einem kleinen Essay über die Hoffnung erkundet hat (Droschl-Verlag, 48 Seiten, zwölf Euro), dem „glühenden Trachten nach neuer Erfahrung“, eröffnet die Erzählerin schließlich ihr Kino.
Auch wenn das Buch damit nicht enden wird: „Der aufgegebene, verwaiste Kinosaal war mit einem Schlag der dunkle Raum, dem man sich überlassen wollte, um zu sehen und weiter zu sehen, der Wunderkubus mit seiner eigenen Zeitrechnung.“
Ein solcher Wunderkubus ist auch „Weiter Sehen“. Wobei der Ton nichts Sensationsheischendes hat. Ruhig wie die Donau durch Budapest fließen die Sätze dahin, gleichmäßig im Satzbau, allerdings immer wieder leicht aufgeraut durch den bewussten Einsatz veralteter Wendungen und Wörter wie „mit einem Schlag“ oder „Gutdünken“. An ihren besten Stellen erinnern sie an die nächtlichen Friedhöfe des Tieflands an Allerseelen, die einmal beschrieben werden: „leuchtende Inseln, aller Schwerkraft enthoben“.
Ungarische Filme haben die
Autorin selbst dazu gebracht,
nach Budapest umzuziehen
Ruhig wie die Donau fließen
Kinskys Sätze dahin, es gibt
nichts Sensationsheischendes
Esther Kinsky:
Weiter Sehen.
Suhrkamp, Berlin 2023. 185 Seiten, 24 Euro.
Charismatische Orte wie das Urania Kino in Budapest verschwinden überall auf der Welt.
Foto: IMAGO/iNikiLiax
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»... die Wirklichkeit wird in Weiter sehen zum Medium der Reflexion, in der das Alltägliche, Abseitige, Randständige beachtet und durchdacht wird. Ein Buch, das man schon allein deshalb mit Gewinn liest.« Fokke Joel neues deutschland 20230928