»Scheiblettenkind«, »Schmuddelkuh«, »Assitussi« - das sind nur einige der Schimpfwörter, die sich Eva Müllers Protagonistin immer wieder in ihrer Jugend von Gleichaltrigen anhören musste. Schimpfwörter, mit denen sie, die nicht aus privilegierten Verhältnissen stammt, ausgegrenzt wurde und die sie auf ihren Platz verweisen sollten.
In dieser autofiktionalen Graphic Novel erzählt sie ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Familie. Sie erzählt in klaren, kraftvollen, eindrücklichen Bildern von erstaunlich ästhetischer Vielfalt über die bäuerliche Herkunft der Großeltern, vom westlichen Arbeitermilieu der Eltern, über das Aufwachsen in Unbildung und Armut, über soziale Scham, den Gestank von Frittierfett, über ihre Billigklamotten mit albernen Aufnähern, ihre Entfremdung von ihren Ursprüngen und schließlich ihre Emanzipation als Künstlerin - und mit dabei ist immer die Schlange Selbstzweifel, die unabhängig von ihrem Erfolg bis heute nicht von ihrer Seite weichen will.
»Meine Klasse schwebte immer über mir. Sie beschämte mich und erinnerte mich daran, dass ich in einem Haus ohne Bücher groß wurde. Sie erinnerte mich daran, dass ich eine Person bin, deren Eltern nie ein Kunstmuseum besucht haben und deren Großmutter noch nie das Meer gesehen hat.«
In dieser autofiktionalen Graphic Novel erzählt sie ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Familie. Sie erzählt in klaren, kraftvollen, eindrücklichen Bildern von erstaunlich ästhetischer Vielfalt über die bäuerliche Herkunft der Großeltern, vom westlichen Arbeitermilieu der Eltern, über das Aufwachsen in Unbildung und Armut, über soziale Scham, den Gestank von Frittierfett, über ihre Billigklamotten mit albernen Aufnähern, ihre Entfremdung von ihren Ursprüngen und schließlich ihre Emanzipation als Künstlerin - und mit dabei ist immer die Schlange Selbstzweifel, die unabhängig von ihrem Erfolg bis heute nicht von ihrer Seite weichen will.
»Meine Klasse schwebte immer über mir. Sie beschämte mich und erinnerte mich daran, dass ich in einem Haus ohne Bücher groß wurde. Sie erinnerte mich daran, dass ich eine Person bin, deren Eltern nie ein Kunstmuseum besucht haben und deren Großmutter noch nie das Meer gesehen hat.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2022Leben als
Assitussi
Klassismus im Comic:
„Scheiblettenkind“
von Eva Müller
Eine Schlange begleitet die Protagonistin, flüstert ihr Abfälliges ins Ohr und kriecht sogar in ihren Kopf. Selbstverachtung, Scham und Versagensängste werden so visualisiert – die junge Frau, die von dem Vieh geplagt wird, stammt aus bescheidenen Verhältnissen, „Assitussi“ wurde sie in ihrer Jugend genannt. Mindestens in Teilen dürfen wir in dieser Figur die Zeichnerin Eva Müller vermuten. Sie selbst nennt ihre Graphic Novel eine Autofiktion.
Das Thema Klassismus hat damit auch die Comics erreicht. In schwarz-weißen, oft ruppigen, manchmal verführerisch schönen Bildern erzählt Müller von einer Jugend ohne Geld und ohne Bücher, von Billigklamotten mit peinlichen Aufnähern, miesen Jobs und dem Unbehagen in der Gegenwart von Leuten, die immer schon wussten, was ein Entrecôte ist. Es sind solche Details, die den Begriff „unterprivilegiert“ mit Erfahrung füllen. Wer das „Bürgergeld“ für zu üppig hält, darf gern in diesem Comic blättern. Immer wieder kommentiert Karl Marx das Geschehen – während er Yoga macht im Fitnessstudio oder Boot fährt.
„Scheiblettenkind“ ist nicht so krass (und nicht so komplex) wie etwa die Bücher von Édourd Louis, dafür ist sind die Figuren und ihre Lebensumstände vertrauter. Die Eltern der Protagonistin sind auch keine hungernden Proleten, sie haben gebaut, darum sind sie arm. Dass ihre Tochter eine höhere Schule besucht, studiert und Comic-Künstlerin wird, war nicht vorgesehen, „Scheiblettenkind“ erzählt eine Emanzipationsgeschichte. Nur die Schlange, die ihr einflüstert niemals gut genug zu sein, sie ist als Begleiterin geblieben.
MARTINA KNOBEN
Eva Müller (Text
und Zeichnungen):
Scheiblettenkind.
Graphic Novel.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022.
283 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Assitussi
Klassismus im Comic:
„Scheiblettenkind“
von Eva Müller
Eine Schlange begleitet die Protagonistin, flüstert ihr Abfälliges ins Ohr und kriecht sogar in ihren Kopf. Selbstverachtung, Scham und Versagensängste werden so visualisiert – die junge Frau, die von dem Vieh geplagt wird, stammt aus bescheidenen Verhältnissen, „Assitussi“ wurde sie in ihrer Jugend genannt. Mindestens in Teilen dürfen wir in dieser Figur die Zeichnerin Eva Müller vermuten. Sie selbst nennt ihre Graphic Novel eine Autofiktion.
Das Thema Klassismus hat damit auch die Comics erreicht. In schwarz-weißen, oft ruppigen, manchmal verführerisch schönen Bildern erzählt Müller von einer Jugend ohne Geld und ohne Bücher, von Billigklamotten mit peinlichen Aufnähern, miesen Jobs und dem Unbehagen in der Gegenwart von Leuten, die immer schon wussten, was ein Entrecôte ist. Es sind solche Details, die den Begriff „unterprivilegiert“ mit Erfahrung füllen. Wer das „Bürgergeld“ für zu üppig hält, darf gern in diesem Comic blättern. Immer wieder kommentiert Karl Marx das Geschehen – während er Yoga macht im Fitnessstudio oder Boot fährt.
„Scheiblettenkind“ ist nicht so krass (und nicht so komplex) wie etwa die Bücher von Édourd Louis, dafür ist sind die Figuren und ihre Lebensumstände vertrauter. Die Eltern der Protagonistin sind auch keine hungernden Proleten, sie haben gebaut, darum sind sie arm. Dass ihre Tochter eine höhere Schule besucht, studiert und Comic-Künstlerin wird, war nicht vorgesehen, „Scheiblettenkind“ erzählt eine Emanzipationsgeschichte. Nur die Schlange, die ihr einflüstert niemals gut genug zu sein, sie ist als Begleiterin geblieben.
MARTINA KNOBEN
Eva Müller (Text
und Zeichnungen):
Scheiblettenkind.
Graphic Novel.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022.
283 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Paula Marie Kehl findet bewundernswert, wie offen Eva Müller in ihrer Graphic Novel von internalisierter Scham erzählt. Das autofiktionale Werk begleitet eine in der unteren Mittelschicht aufgewachsene junge Protagonistin, die von der Familie keine kulturelle Bildung erfährt, sich mit schlechten Nebenjobs am Fließband oder in der Frittenbude durchschlägt. Müllers geradliniger Stil mit "groben Zeichnungen und satten Bildern" weise dabei klar auf die Zustände in Deutschland und den immer noch herrschenden "Klassismus" hin, so die Kritikerin anerkennend. Besonders beeindruckend scheint sie die Schlange zu finden, mit der Müller die Scham ihrer Protagonistin zeichnerisch in Szene setzt - das Tier schlängelt sich immer um sie, wenn sie sich unterlegen fühlt. Auch die Zeichnungen von Karl Marx am Ende jedes Kapitels, der sich in unterschiedlichen Situationen - beim Zugfahren oder Yogamachen - zum Erzählten äußert, scheinen der Kritikerin zu gefallen. Ein Werk, dessen Darstellung sozialer Ungerechtigkeit "kaum auszuhalten" und daher umso wichtiger sei, lobt Kehl.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In Scheiblettenkind zeigt Eva Müller den mühsamen Weg, die Scham über die eigene Herkunft abzulegen, die sie immer wieder in Form einer Schlange ...« Jonas Engelmann neues deutschland 20230808