Wer in Geschichten verstrickt ist, lebt intensiver - ich erzähle, also bin ich. Doch nicht nur das eigene Leben wird als Narration prägnanter. Mittels Erzählungen gelingt es uns auch, die Erfahrungen eines einzelnen Menschen zu solchen von vielen anderen zu machen. Dazu müssen unsere Gehirne und die Weisen, wie wir Geschichten erzählen, aufeinander abgestimmt sein. Doch wie genau geschieht das? Fritz Breithaupts brillantes Buch unternimmt eine Neubestimmung des Menschen als narratives Wesen. Narratives Denken, so zeigt er, wird stets mit spezifischen Emotionen belohnt, und das heißt: Wir leben, wie wir leben, weil wir diesen Belohnungsmustern folgen. In Narrationen kann darüber hinaus aber auch immer alles anders kommen, und ebendies erlaubt uns den Aufbruch zu neuen Ufern.
»Das narrative Gehirn bietet eine anregende Einführung in die Theorie des Erzählens.« Deutschlandfunk 20220718
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Burkhard Müller sieht den Germanisten Fritz Breithaupt mit seiner Narratologie auf dem Holzweg, und zwar gleich dreifach. Völlig verfehlt findet Müller Breithaupts Versuch, wissenschaftliche Exaktheit zu behaupten, indem er emotionale Wertigkeiten beim Weitererzählen von Geschichten misst, und dann auch noch ohne deren Inhalt zu beachten. Aber auch die Ausweitung des Begriffs "Narrativ" behagt dem Rezensenten nicht: Bilder sind keine Erzählung, und performative Sprechakte sind es auch nicht: Wenn ein Richter einen Angeklagten zu einer Haftstrafe verurteilt, ist dies eine Tat. Und schließlich kennt der Begriff des Narrativs kein Verhältnis zur Wirklichkeit, moniert Müller: Eine Lügengeschichte ist hier genauso Erzählung wie ein wahrheitsgetreuer Bericht. Für Müller wird hier Germanistik zur Märchenstunde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2022Erzählen, aber bitte richtig
Freundlich mögen die gehegten Gefühle sein: Fritz Breithaupt entwirft eine groß zugeschnittene Theorie des menschlichen Hangs zu Geschichten.
Welche Verbindungswege führen vom Bild einer Eule zum Bild einer Katze? Seit Längerem sind Forscher den Mechanismen kultureller Übertragung auf der Spur. Ein Pionier dieser Forschungsrichtung war der britische Psychologe Frederic Bartlett, der in seinem Buch "Remembering" (1932) den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Vorwissen, Erinnerung und der Weitergabe von Informationen untersuchte. So ließ er etwa Probanden hintereinander eine Bildvorlage aus dem Gedächtnis nachzeichnen. In Fritz Breithaupts neuem Buch ist eine Illustration dieses Kettenexperiments abgedruckt. Dem ersten Probanden wurde die Umrisszeichnung eines Vogels vorgelegt, in dem Breithaupt mit ornithologischem Sachverstand eine Schleiereule erkennt. Der zweite Zeichner reichert die Zeichnung des ersten mit spitzen Ohren an. Einige weniger Talentierte lassen die weitergereichte Skizze von Mal zu Mal undeutlicher werden, bis endlich Nummer neun auf die Idee kommt, dem übrig gebliebenen Knäuel, aus dem gerade noch die Ohrenspitzen ragen, einen Schwanz anzufügen. Rettende Wendung, aus der Schleiereule ist eine Katze geworden. Ab da ist das Schema stabil, wie Breithaupt schreibt: "Katze ist Katze ist Katze."
Auf Sprache bezogen, ist diese Experimentalanordnung als Stille-Post-Spiel bekannt, in dem eine kleine Geschichte oder auch nur ein Wort durch mehrere Stationen von Mund zu Ohr geschickt wird. Breithaupt schöpft für sein Buch aus den Ergebnissen von Tausenden solcher Spiele, die er als Leiter des Experimental Humanities Laboratory an der Indiana University durchführen ließ. Sie bestätigen Bartletts Befund, dass Geschichten durch fortgesetzte Nacherzählung gleichsam rundgeschliffen, vereinfacht, von unverständlichen Elementen gereinigt und in vorhandene kulturelle Muster eingepasst werden. Anders als sein berühmter Vorgänger aber interessiert sich Breithaupt nicht nur für diese kognitive Dimension. Er entnimmt seinen Daten überdies Hinweise auf die zentrale Bedeutung von Emotionen für das Erzählen. Zumeist sind nämlich die Emotionen - heitere oder traurige, Peinlichkeit oder Rührung - das stabile Element in der Weitergabe einer Geschichte, während sich ihre inhaltliche Ausgestaltung verändert. Sie "werden zum Anker, an dem Geschichten festgemacht werden können".
Aus diesem Befund entwickelt der Autor eine großräumige Theorie der Evolutionsgeschichte des Erzählens. Ihm zufolge ist das Erzählen als eine uns Menschen auszeichnende Kommunikationsweise auf Belohnung aus, und diese Belohnung besteht in der Freisetzung von Emotionen. Dadurch würden wir angespornt, unsere narrativen Fähigkeiten zu entfalten - im Wachtraum, in der Alltagskommunikation und in der Vielzahl der fiktionalen Welten, in denen wir uns heimisch machen. Kraft seiner "Multiversionalität" weitet das Erzählen unseren Bewusstseinsraum. Es lädt uns ein, uns in unsere Mitmenschen zu versetzen; es befördert und schult das Vermögen der Empathie; es bündelt kollektive Aufmerksamkeit (joint attention). Vor allem aber lehrt es, sich in einer Welt pluraler Möglichkeiten zu bewegen, denn "im narrativen Denken sind wir immer in der Mitte einer Geschichte", erleben die ungewisse Lage der Protagonisten an uns selber mit und teilen ihr Sichtfeld, das zugleich eingeschränkt und offen ist. Weil Figuren in Erzählungen ihrer Natur nach "spielbar" (playable) sein müssen, löst das Erzählen dieser Argumentation zufolge starre Rollenmuster auf. "Noch das stärkste Stereotyp, das uns gefangen hält", befindet Breithaupt zuversichtlich, "wird im narrativen Denken aufgebrochen."
Es ist bemerkenswert, dass ein Autor, der erst vor wenigen Jahren mit einem Buch über die "dunklen Seiten der Empathie" hervorgetreten ist, in der nun vorgelegten Studie allein die gewissermaßen helle Seite des Geschichtenerzählens gelten lässt. Immer deutlicher tritt im Verlauf der Argumentation eine normative Einstellung zutage, die richtiges von falschem Erzählen unterschieden wissen will. "Falsches" Erzählen nimmt den Figuren die "Spielbarkeit" und bannt sie - und damit auch das miterlebende Publikum - in ein Korsett der Identität. "Richtiges" Erzählen dagegen befreit unseren Möglichkeitssinn. Am Ende mündet die Analyse in eine Ethik des Erzählens und seinen Lobpreis als schöpferische Aktivität, das uns, wie die Schlusswendung des Buches lautet, "ein intensiveres, reicheres Leben" verspricht.
Dass zu den Emotionen, zu denen Geschichten Erzähler und Zuhörer gleichermaßen animieren, auch Hass, Lust an Herabwürdigung und Mobilisierung von sozial konzertierter Gewalt zählen können, gerät so auf eine Nebenspur von Breithaupts groß angelegtem theoretischem Entwurf. Das hängt auch damit zusammen, dass nur freundliche Emotionen einen Anreiz für Geschichten bilden, will man sie als Belohnung verstehen. Aber Gefühle stellen sich ja nicht erst am Ende eines Erzählvorgangs ein. Wenn eine "eigentlich peinigende Episode", wie Breithaupt schreibt, sich durch ihre Wiedergabe im Freundeskreis in Gelächter auflöst oder wenn eine traumatische Erfahrung zu narrativer Bewältigung drängt, dann wirkt der Affekt schon am Anfang, nicht erst in der erleichternden Auflösung der Sequenz. Hier wäre es vermutlich sinnvoll, das vorgelegte Modell um die Kategorie des Durcharbeitens von affektiven Regungen nach Art der Psychoanalyse zu ergänzen.
Eine andere Rückfrage betrifft das "narrative Gehirn". "Bewusstsein", heißt es, sei wegen seiner notorischen Ungreifbarkeit ein "schwieriges" und für Akademiker womöglich karrieregefährdendes Wort, und von der "Seele" spricht ohnehin niemand mehr. Also "Gehirn". Aber obwohl Breithaupts Studie diesen Begriff im Titel trägt und obwohl er mit einer doppelten Professur in Germanistik und cognitive science einen Brückenschlag zwischen Geistes- und Naturwissenschaft verkörpert, kommen tatsächlich neurowissenschaftliche Befunde in dem Buch kaum zur Sprache. Im Kapitel über die "Evolution des narrativen Gehirns" ist hauptsächlich von der "Bühne" die Rede, diese wiederum in einem eher metaphorisch Sinn verstanden als kollektiver Aufführungsort von Geschichten. So wird auf dem jetzigen Stand des weit ausgreifenden erzähltheoretischen Projekts trotz vieler Ansätze noch nicht klar, wie sich evolutionsbiologische, neurophysiologische und kulturelle Entwicklungen ineinander verschränken.
Ein hervorstechendes Merkmal des Buches besteht in seiner eigenen erzählerischen Anlage. Es verknüpft die Entfaltung der begrifflichen Matrix nicht nur mit Alltagsbeispielen, die vorwiegend aus der Berufs- und Lebenswelt seines Verfassers geschöpft sind, sondern auch mit persönlichen Anekdoten. So wird die Darstellung fassbarer und spricht, das ist zu hoffen, ein breiteres Publikum an. Wie nebenher zieht Breithaupt sogar einen kriminologischen Erzählfaden ein. Schritt für Schritt lüftet er ein von seiner Mutter gehütetes Familiengeheimnis: dass der unter mysteriösen Umständen verstorbene Vater, ein Diplomat in den Zeiten des Kalten Krieges, einem politischen Mord durch den KGB zum Opfer fiel. Er lässt seine Leserschaft an der Überlegung teilhaben, wie seine Jugendjahre verlaufen wären, hätte er diesen Umstand nicht erst bei der Sichtung von Dokumenten nach dem Tod der Mutter erfahren. So wird miterlebbar, wie existenziell das Erzählen (oder das Verschweigen) von Geschichten sein kann. ALBRECHT KOSCHORKE
Fritz Breithaupt: "Das narrative Gehirn". Was unsere Neuronen erzählen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 368 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Freundlich mögen die gehegten Gefühle sein: Fritz Breithaupt entwirft eine groß zugeschnittene Theorie des menschlichen Hangs zu Geschichten.
Welche Verbindungswege führen vom Bild einer Eule zum Bild einer Katze? Seit Längerem sind Forscher den Mechanismen kultureller Übertragung auf der Spur. Ein Pionier dieser Forschungsrichtung war der britische Psychologe Frederic Bartlett, der in seinem Buch "Remembering" (1932) den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Vorwissen, Erinnerung und der Weitergabe von Informationen untersuchte. So ließ er etwa Probanden hintereinander eine Bildvorlage aus dem Gedächtnis nachzeichnen. In Fritz Breithaupts neuem Buch ist eine Illustration dieses Kettenexperiments abgedruckt. Dem ersten Probanden wurde die Umrisszeichnung eines Vogels vorgelegt, in dem Breithaupt mit ornithologischem Sachverstand eine Schleiereule erkennt. Der zweite Zeichner reichert die Zeichnung des ersten mit spitzen Ohren an. Einige weniger Talentierte lassen die weitergereichte Skizze von Mal zu Mal undeutlicher werden, bis endlich Nummer neun auf die Idee kommt, dem übrig gebliebenen Knäuel, aus dem gerade noch die Ohrenspitzen ragen, einen Schwanz anzufügen. Rettende Wendung, aus der Schleiereule ist eine Katze geworden. Ab da ist das Schema stabil, wie Breithaupt schreibt: "Katze ist Katze ist Katze."
Auf Sprache bezogen, ist diese Experimentalanordnung als Stille-Post-Spiel bekannt, in dem eine kleine Geschichte oder auch nur ein Wort durch mehrere Stationen von Mund zu Ohr geschickt wird. Breithaupt schöpft für sein Buch aus den Ergebnissen von Tausenden solcher Spiele, die er als Leiter des Experimental Humanities Laboratory an der Indiana University durchführen ließ. Sie bestätigen Bartletts Befund, dass Geschichten durch fortgesetzte Nacherzählung gleichsam rundgeschliffen, vereinfacht, von unverständlichen Elementen gereinigt und in vorhandene kulturelle Muster eingepasst werden. Anders als sein berühmter Vorgänger aber interessiert sich Breithaupt nicht nur für diese kognitive Dimension. Er entnimmt seinen Daten überdies Hinweise auf die zentrale Bedeutung von Emotionen für das Erzählen. Zumeist sind nämlich die Emotionen - heitere oder traurige, Peinlichkeit oder Rührung - das stabile Element in der Weitergabe einer Geschichte, während sich ihre inhaltliche Ausgestaltung verändert. Sie "werden zum Anker, an dem Geschichten festgemacht werden können".
Aus diesem Befund entwickelt der Autor eine großräumige Theorie der Evolutionsgeschichte des Erzählens. Ihm zufolge ist das Erzählen als eine uns Menschen auszeichnende Kommunikationsweise auf Belohnung aus, und diese Belohnung besteht in der Freisetzung von Emotionen. Dadurch würden wir angespornt, unsere narrativen Fähigkeiten zu entfalten - im Wachtraum, in der Alltagskommunikation und in der Vielzahl der fiktionalen Welten, in denen wir uns heimisch machen. Kraft seiner "Multiversionalität" weitet das Erzählen unseren Bewusstseinsraum. Es lädt uns ein, uns in unsere Mitmenschen zu versetzen; es befördert und schult das Vermögen der Empathie; es bündelt kollektive Aufmerksamkeit (joint attention). Vor allem aber lehrt es, sich in einer Welt pluraler Möglichkeiten zu bewegen, denn "im narrativen Denken sind wir immer in der Mitte einer Geschichte", erleben die ungewisse Lage der Protagonisten an uns selber mit und teilen ihr Sichtfeld, das zugleich eingeschränkt und offen ist. Weil Figuren in Erzählungen ihrer Natur nach "spielbar" (playable) sein müssen, löst das Erzählen dieser Argumentation zufolge starre Rollenmuster auf. "Noch das stärkste Stereotyp, das uns gefangen hält", befindet Breithaupt zuversichtlich, "wird im narrativen Denken aufgebrochen."
Es ist bemerkenswert, dass ein Autor, der erst vor wenigen Jahren mit einem Buch über die "dunklen Seiten der Empathie" hervorgetreten ist, in der nun vorgelegten Studie allein die gewissermaßen helle Seite des Geschichtenerzählens gelten lässt. Immer deutlicher tritt im Verlauf der Argumentation eine normative Einstellung zutage, die richtiges von falschem Erzählen unterschieden wissen will. "Falsches" Erzählen nimmt den Figuren die "Spielbarkeit" und bannt sie - und damit auch das miterlebende Publikum - in ein Korsett der Identität. "Richtiges" Erzählen dagegen befreit unseren Möglichkeitssinn. Am Ende mündet die Analyse in eine Ethik des Erzählens und seinen Lobpreis als schöpferische Aktivität, das uns, wie die Schlusswendung des Buches lautet, "ein intensiveres, reicheres Leben" verspricht.
Dass zu den Emotionen, zu denen Geschichten Erzähler und Zuhörer gleichermaßen animieren, auch Hass, Lust an Herabwürdigung und Mobilisierung von sozial konzertierter Gewalt zählen können, gerät so auf eine Nebenspur von Breithaupts groß angelegtem theoretischem Entwurf. Das hängt auch damit zusammen, dass nur freundliche Emotionen einen Anreiz für Geschichten bilden, will man sie als Belohnung verstehen. Aber Gefühle stellen sich ja nicht erst am Ende eines Erzählvorgangs ein. Wenn eine "eigentlich peinigende Episode", wie Breithaupt schreibt, sich durch ihre Wiedergabe im Freundeskreis in Gelächter auflöst oder wenn eine traumatische Erfahrung zu narrativer Bewältigung drängt, dann wirkt der Affekt schon am Anfang, nicht erst in der erleichternden Auflösung der Sequenz. Hier wäre es vermutlich sinnvoll, das vorgelegte Modell um die Kategorie des Durcharbeitens von affektiven Regungen nach Art der Psychoanalyse zu ergänzen.
Eine andere Rückfrage betrifft das "narrative Gehirn". "Bewusstsein", heißt es, sei wegen seiner notorischen Ungreifbarkeit ein "schwieriges" und für Akademiker womöglich karrieregefährdendes Wort, und von der "Seele" spricht ohnehin niemand mehr. Also "Gehirn". Aber obwohl Breithaupts Studie diesen Begriff im Titel trägt und obwohl er mit einer doppelten Professur in Germanistik und cognitive science einen Brückenschlag zwischen Geistes- und Naturwissenschaft verkörpert, kommen tatsächlich neurowissenschaftliche Befunde in dem Buch kaum zur Sprache. Im Kapitel über die "Evolution des narrativen Gehirns" ist hauptsächlich von der "Bühne" die Rede, diese wiederum in einem eher metaphorisch Sinn verstanden als kollektiver Aufführungsort von Geschichten. So wird auf dem jetzigen Stand des weit ausgreifenden erzähltheoretischen Projekts trotz vieler Ansätze noch nicht klar, wie sich evolutionsbiologische, neurophysiologische und kulturelle Entwicklungen ineinander verschränken.
Ein hervorstechendes Merkmal des Buches besteht in seiner eigenen erzählerischen Anlage. Es verknüpft die Entfaltung der begrifflichen Matrix nicht nur mit Alltagsbeispielen, die vorwiegend aus der Berufs- und Lebenswelt seines Verfassers geschöpft sind, sondern auch mit persönlichen Anekdoten. So wird die Darstellung fassbarer und spricht, das ist zu hoffen, ein breiteres Publikum an. Wie nebenher zieht Breithaupt sogar einen kriminologischen Erzählfaden ein. Schritt für Schritt lüftet er ein von seiner Mutter gehütetes Familiengeheimnis: dass der unter mysteriösen Umständen verstorbene Vater, ein Diplomat in den Zeiten des Kalten Krieges, einem politischen Mord durch den KGB zum Opfer fiel. Er lässt seine Leserschaft an der Überlegung teilhaben, wie seine Jugendjahre verlaufen wären, hätte er diesen Umstand nicht erst bei der Sichtung von Dokumenten nach dem Tod der Mutter erfahren. So wird miterlebbar, wie existenziell das Erzählen (oder das Verschweigen) von Geschichten sein kann. ALBRECHT KOSCHORKE
Fritz Breithaupt: "Das narrative Gehirn". Was unsere Neuronen erzählen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 368 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2022Wenn alles ein
Narrativ ist
Der Germanist Fritz Breithaupt überdehnt den
Begriff so weit, dass er nahezu unbrauchbar wird
VON BURKHARD MÜLLER
In jüngster Zeit hat sich die Narratologie, die Wissenschaft vom Erzählen und Erzählten, angeschickt, zur neuen Leitwissenschaft zu werden, die so ziemlich alle anderen Geisteswissenschaften bis hin zu Psychologie und Soziologie unter ihre Fittiche nehmen und ihrer eigenen Deutungshoheit unterwerfen will.
Lässt sich denn nicht alles vom Drama bis zum Vorurteil, vom Trauma bis zur faulen Ausrede unter den überwölbenden Begriff des Narrativs fassen? Vor rund zehn Jahren hatte der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke mit seinem Werk „Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“ das Flaggschiff dieses Anspruchs auf Jungfernfahrt geschickt. Nun folgt Fritz Breithaupt, als Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an einer interessanten, aber heiklen Schnittstelle tätig, mit seinem Buch „Das narrative Gehirn“.
Das Kernstück des Buchs bilden Breithaupts umfangreiche Untersuchungsreihen zu der Frage, wie Erzählungen sich verändern, wenn sie vom jeweiligen Rezipienten weitererzählt werden und von diesem sodann einem Dritten und so weiter. Mehr als 12 000 solcher Fälle von „Stiller Post“ hat Breithaupt experimentell durchgespielt.
Sein Vorgehen weist leider jedoch erhebliche methodische Probleme auf. Dass er glaubt, in seiner Versuchsanordnung die alles entscheidenden sozialen Randbedingungen des Erzählens kappen zu dürfen, sei ihm dabei noch nicht einmal speziell angekreidet; das machen etwa bei der Spieltheorie alle so. Schwerer wiegt, dass er keinen Gedanken daran verschwendet, was sich ändern könnte, wenn er das „Erzählen“ von der üblichen mündlichen in die Schriftform transponiert, wo typische orale Muster wie „Also dann hat er den...“ keinen Raum haben.
Der Autor sieht auch völlig vom Inhalt der Geschichten ab, wo doch jeder weiß, dass nur gute Geschichten überhaupt eine Chance haben, weiterzuwandern – und seine, soweit er sie überhaupt mitteilt, sind ziemlich schlecht. Er wundert sich, dass eine bestimmte Geschichte in der Weitergabe extrem zusammengestutzt wird, sieht aber nicht, dass dies zumindest teilweise daran liegt, dass die Probanden daraus den Unfug eliminieren, wenn sich im Original eine Spinne an ihrem Netz abseilt – was Spinnen niemals tun, sie benutzen dazu ökonomischerweise einen einzelnen Faden.
Die Entwicklung der emotionalen Wertigkeit in den sukzessiven Versionen will er ermitteln, indem er die Probanden auf jeder Stufe an einer Skala antragen lässt, wie „fröhlich“ oder „traurig“ sie den Text fanden. Da bekommt er freilich ein Verlaufsbild, das in seiner zackigen Präzision an Aktienkurse oder Fieberkurven denken lässt. Was er nicht berücksichtigt, ist das ungeheure quantitative und qualitative Spektrum des Adjektivs „traurig“, das von der loreleyhaften Wehmut bis zur schweren Depression reicht.
So muss man Breithaupts Studien bescheinigen, dass sie einen hohen Grad von Reliabilität und einen niedrigen von Validität aufweisen, das heißt, sie messen sehr genau, was sie messen; aber sie messen nicht oder kaum, was sie zu messen glauben. Es bleibt festzuhalten, dass die Narratologie sich auf einem Holzweg befindet, wenn sie meint, sich in eine exakte Wissenschaft verwandeln und dadurch ihr Prestige steigern zu können.
Der zweite Holzweg dieses Buchs besteht darin, dass es, angetrieben von Dominationsgelüsten, den Begriff des „Narrativs“ ungebührlich überdehnt. Wenn schlechthin alles ein Narrativ sein soll, dann taugt dieses Wort nicht mehr zum Werkzeug der Erkenntnis. Man sehe sich an, mit welchen Schlichen diese Übernahme konkret verfährt. „Kultur setzt sich wiederum gewissermaßen aus der Summe aller Narrative sowie der Weitergabe von Wissen und Informationen zusammen.“ Als Gelenke fungieren hier die scheinbar harmlosen Wörtlein „gewissermaßen“ und „sowie“. „Gewissermaßen“ behauptet die Deckungsgleichheit der beiden Begriffe unter dem Vorwand der Metapher; „sowie“, das bei Aufzählungen das mindere und nachgeschobene Glied bezeichnet, soll den Eindruck erwecken, als käme alles am kulturellen Bestand, was der Eingemeindung ins Narrativ eisernen Widerstand entgegensetzt, eigentlich gar nicht in Betracht.
Und so vernichtet Breitkopf bei dem Projekt, sein Aktionsfeld zu erweitern, die sinnvollen Begrenzungen seines Leitbegriffs, ein Vorgang, der dem Buch zum Verhängnis werden muss. Er verwendet die Vokabeln „Bild“ und „Rolle“ nahezu gleichbedeutend mit „Narrativ“, ohne zu bedenken, dass bei einem Bild das Statisch-Zweidimensionale, bei der Rolle die präsente Verkörperung das Entscheidende ist, beim Narrativ hingegen sein Verlaufs- bzw. Distanzcharakter. Auch das „Urteil“ gibt er als einen narrativen Sonderfall aus, ungeachtet, dass es sich dabei um einen Akt des performativen Sprechens handelt: Ich verurteile dich zu drei Jahren Gefängnis – dieser Satz ist keine Erzählung, sondern eine Tat. Und so ist Breitkopfs Buch dazu verdammt, einen kategorialen Fehler nach dem anderen zu machen.
Eng damit hängt der dritte Holzweg dieses Ansatzes zusammen: dass er aufs Grundsätzlichste ohnmächtig bleibt gegen die Möglichkeit der Lüge. Narrativ ist Narrativ, ob es stimmt oder nicht, ja die Lügenstory fasziniert vielleicht mehr als der unausgeschmückte wahrheitstreue Bericht. Dieser ist eben nicht nur Text, sondern Bericht von etwas, trägt seinen Maßstab nicht in sich und besitzt keine Autonomie, sondern muss sich nach seinem Verhältnis zur Welt bewerten lassen. Wiederholt äußert Breitkopf seinen Unmut über Donald Trump; aber es bleibt ein hilfloses Gegrummel. Nach den Voraussetzungen seines Buchs müsste er Trump als den größten aller Narratoren ehren: Denn nie ist das Narrativ als solches, das alle äußeren Rücksichten abstreift und das fact checking der Verächtlichkeit preisgibt, so rein und blank aufgetreten wie in dieser Präsidentschaft.
Breitkopf (der diesen Einwand wohl fühlt, wenn er sich ihm auch nicht stellen mag) ersetzt die starke Polarität von wahr und falsch durch das schwächere Kontinuum von besser und schlechter. Mit anderen Worten, er schlägt das Narrativ als Therapie vor. Wer besser erzählt und wer besser zuhört, der komme eher in der Welt zurecht. Die Finanzkrise von 2008/09 etwa konnte seiner Meinung nach, wenn nicht behoben, so doch von den Betroffenen dadurch besser bewältigt werden, dass sie sich auf das Narrativ der Gier von Banken und Bankern verständigten: „In diesem Falle hat bereits die Benennung der Schuldigen durch die Erzähler einen therapeutischen Effekt, denn die Benennung und also Bloßstellung ist ja bereits eine Strafe.“
Hier schleicht sich, vom Autor unbemerkt, ein anderes Narrativ ein, nämlich das vom tapferen Schneiderlein, das, nachdem es sieben Fliegen oder Testprobanden mit einem Streich erlegt hat, sich nunmehr dem Kampf mit dem Riesen Kapitalismus gewachsen fühlt. Wer hier etwa die Frage aufwerfen wollte, wie denn der Aktienmarkt funktioniert, der würde als Spielverderber aus dieser Märchenstunde verwiesen.
Eine letzte Anmerkung. Ein Ornithologe kann und sollte kein Vogel sein, das ist richtig. Aber es sollten in seiner Welt irgendwie Vögel vorkommen. Ein Narratologe, der keine Geschichten präsentiert, operiert im luftleeren Raum. Breitkopf liefert in seinem Buch jedoch fast gar keine erzählenden Passagen.
Und tut er es doch einmal, dann klingt es so: Er selbst kam als junger Student aus Europa mitten im Sommer an eine amerikanische Universität, kein Mensch da, nur eine einzige andere Studentin, die zufällig gleichzeitig im Sekretariat aufkreuzt. Er fragt sie, um überhaupt mit jemandem in Kontakt zu kommen, ob sie sich nicht mal treffen wollen, sie sagt zu. Als er sie abends abholt, kommt er, wie er ist, und denkt an ein beiläufiges Bier, sie dagegen ist total aufgebrezelt, für sie ist das ein „Date“. „Mein kulturelles Missverstehen war mir – aber ihr natürlich ebenso oder noch mehr – sehr peinlich, und wir mussten aus dem Abend das Beste machen.“
Und weiter? Nichts weiter, der Autor und Erzähler hört hier auf und fühlt nicht, dass er den Leser an diesem Punkt, wo der narrative Bogen dem Höhepunkt entgegenstrebt, mit einem Interruptus stehen lässt. Nein, dieses Narrativ verdient wahrlich kein Vertrauen!
Der Versuch, das Aktionsfeld
zu erweitern, beseitigt
die sinnvollen Begrenzungen
Falschinformationen, Parallelwelten, Verschwörungstheorien wie jene von „QAnon“, der ersten aus dem Internet erwachsenen Sekte, destabilisieren den politischen Diskurs. Aber ist es analytisch tatsächlich hilfreich, jede Entwicklung unter dem Begriff des „Narrativs“ zusammenzufassen?
Foto: imago images/JeanMW
Fritz Breithaupt:
Das narrative Gehirn.
Was unsere Neuronen
erzählen. Suhrkamp-Verlag,
Berlin 2022.
368 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Narrativ ist
Der Germanist Fritz Breithaupt überdehnt den
Begriff so weit, dass er nahezu unbrauchbar wird
VON BURKHARD MÜLLER
In jüngster Zeit hat sich die Narratologie, die Wissenschaft vom Erzählen und Erzählten, angeschickt, zur neuen Leitwissenschaft zu werden, die so ziemlich alle anderen Geisteswissenschaften bis hin zu Psychologie und Soziologie unter ihre Fittiche nehmen und ihrer eigenen Deutungshoheit unterwerfen will.
Lässt sich denn nicht alles vom Drama bis zum Vorurteil, vom Trauma bis zur faulen Ausrede unter den überwölbenden Begriff des Narrativs fassen? Vor rund zehn Jahren hatte der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke mit seinem Werk „Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“ das Flaggschiff dieses Anspruchs auf Jungfernfahrt geschickt. Nun folgt Fritz Breithaupt, als Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an einer interessanten, aber heiklen Schnittstelle tätig, mit seinem Buch „Das narrative Gehirn“.
Das Kernstück des Buchs bilden Breithaupts umfangreiche Untersuchungsreihen zu der Frage, wie Erzählungen sich verändern, wenn sie vom jeweiligen Rezipienten weitererzählt werden und von diesem sodann einem Dritten und so weiter. Mehr als 12 000 solcher Fälle von „Stiller Post“ hat Breithaupt experimentell durchgespielt.
Sein Vorgehen weist leider jedoch erhebliche methodische Probleme auf. Dass er glaubt, in seiner Versuchsanordnung die alles entscheidenden sozialen Randbedingungen des Erzählens kappen zu dürfen, sei ihm dabei noch nicht einmal speziell angekreidet; das machen etwa bei der Spieltheorie alle so. Schwerer wiegt, dass er keinen Gedanken daran verschwendet, was sich ändern könnte, wenn er das „Erzählen“ von der üblichen mündlichen in die Schriftform transponiert, wo typische orale Muster wie „Also dann hat er den...“ keinen Raum haben.
Der Autor sieht auch völlig vom Inhalt der Geschichten ab, wo doch jeder weiß, dass nur gute Geschichten überhaupt eine Chance haben, weiterzuwandern – und seine, soweit er sie überhaupt mitteilt, sind ziemlich schlecht. Er wundert sich, dass eine bestimmte Geschichte in der Weitergabe extrem zusammengestutzt wird, sieht aber nicht, dass dies zumindest teilweise daran liegt, dass die Probanden daraus den Unfug eliminieren, wenn sich im Original eine Spinne an ihrem Netz abseilt – was Spinnen niemals tun, sie benutzen dazu ökonomischerweise einen einzelnen Faden.
Die Entwicklung der emotionalen Wertigkeit in den sukzessiven Versionen will er ermitteln, indem er die Probanden auf jeder Stufe an einer Skala antragen lässt, wie „fröhlich“ oder „traurig“ sie den Text fanden. Da bekommt er freilich ein Verlaufsbild, das in seiner zackigen Präzision an Aktienkurse oder Fieberkurven denken lässt. Was er nicht berücksichtigt, ist das ungeheure quantitative und qualitative Spektrum des Adjektivs „traurig“, das von der loreleyhaften Wehmut bis zur schweren Depression reicht.
So muss man Breithaupts Studien bescheinigen, dass sie einen hohen Grad von Reliabilität und einen niedrigen von Validität aufweisen, das heißt, sie messen sehr genau, was sie messen; aber sie messen nicht oder kaum, was sie zu messen glauben. Es bleibt festzuhalten, dass die Narratologie sich auf einem Holzweg befindet, wenn sie meint, sich in eine exakte Wissenschaft verwandeln und dadurch ihr Prestige steigern zu können.
Der zweite Holzweg dieses Buchs besteht darin, dass es, angetrieben von Dominationsgelüsten, den Begriff des „Narrativs“ ungebührlich überdehnt. Wenn schlechthin alles ein Narrativ sein soll, dann taugt dieses Wort nicht mehr zum Werkzeug der Erkenntnis. Man sehe sich an, mit welchen Schlichen diese Übernahme konkret verfährt. „Kultur setzt sich wiederum gewissermaßen aus der Summe aller Narrative sowie der Weitergabe von Wissen und Informationen zusammen.“ Als Gelenke fungieren hier die scheinbar harmlosen Wörtlein „gewissermaßen“ und „sowie“. „Gewissermaßen“ behauptet die Deckungsgleichheit der beiden Begriffe unter dem Vorwand der Metapher; „sowie“, das bei Aufzählungen das mindere und nachgeschobene Glied bezeichnet, soll den Eindruck erwecken, als käme alles am kulturellen Bestand, was der Eingemeindung ins Narrativ eisernen Widerstand entgegensetzt, eigentlich gar nicht in Betracht.
Und so vernichtet Breitkopf bei dem Projekt, sein Aktionsfeld zu erweitern, die sinnvollen Begrenzungen seines Leitbegriffs, ein Vorgang, der dem Buch zum Verhängnis werden muss. Er verwendet die Vokabeln „Bild“ und „Rolle“ nahezu gleichbedeutend mit „Narrativ“, ohne zu bedenken, dass bei einem Bild das Statisch-Zweidimensionale, bei der Rolle die präsente Verkörperung das Entscheidende ist, beim Narrativ hingegen sein Verlaufs- bzw. Distanzcharakter. Auch das „Urteil“ gibt er als einen narrativen Sonderfall aus, ungeachtet, dass es sich dabei um einen Akt des performativen Sprechens handelt: Ich verurteile dich zu drei Jahren Gefängnis – dieser Satz ist keine Erzählung, sondern eine Tat. Und so ist Breitkopfs Buch dazu verdammt, einen kategorialen Fehler nach dem anderen zu machen.
Eng damit hängt der dritte Holzweg dieses Ansatzes zusammen: dass er aufs Grundsätzlichste ohnmächtig bleibt gegen die Möglichkeit der Lüge. Narrativ ist Narrativ, ob es stimmt oder nicht, ja die Lügenstory fasziniert vielleicht mehr als der unausgeschmückte wahrheitstreue Bericht. Dieser ist eben nicht nur Text, sondern Bericht von etwas, trägt seinen Maßstab nicht in sich und besitzt keine Autonomie, sondern muss sich nach seinem Verhältnis zur Welt bewerten lassen. Wiederholt äußert Breitkopf seinen Unmut über Donald Trump; aber es bleibt ein hilfloses Gegrummel. Nach den Voraussetzungen seines Buchs müsste er Trump als den größten aller Narratoren ehren: Denn nie ist das Narrativ als solches, das alle äußeren Rücksichten abstreift und das fact checking der Verächtlichkeit preisgibt, so rein und blank aufgetreten wie in dieser Präsidentschaft.
Breitkopf (der diesen Einwand wohl fühlt, wenn er sich ihm auch nicht stellen mag) ersetzt die starke Polarität von wahr und falsch durch das schwächere Kontinuum von besser und schlechter. Mit anderen Worten, er schlägt das Narrativ als Therapie vor. Wer besser erzählt und wer besser zuhört, der komme eher in der Welt zurecht. Die Finanzkrise von 2008/09 etwa konnte seiner Meinung nach, wenn nicht behoben, so doch von den Betroffenen dadurch besser bewältigt werden, dass sie sich auf das Narrativ der Gier von Banken und Bankern verständigten: „In diesem Falle hat bereits die Benennung der Schuldigen durch die Erzähler einen therapeutischen Effekt, denn die Benennung und also Bloßstellung ist ja bereits eine Strafe.“
Hier schleicht sich, vom Autor unbemerkt, ein anderes Narrativ ein, nämlich das vom tapferen Schneiderlein, das, nachdem es sieben Fliegen oder Testprobanden mit einem Streich erlegt hat, sich nunmehr dem Kampf mit dem Riesen Kapitalismus gewachsen fühlt. Wer hier etwa die Frage aufwerfen wollte, wie denn der Aktienmarkt funktioniert, der würde als Spielverderber aus dieser Märchenstunde verwiesen.
Eine letzte Anmerkung. Ein Ornithologe kann und sollte kein Vogel sein, das ist richtig. Aber es sollten in seiner Welt irgendwie Vögel vorkommen. Ein Narratologe, der keine Geschichten präsentiert, operiert im luftleeren Raum. Breitkopf liefert in seinem Buch jedoch fast gar keine erzählenden Passagen.
Und tut er es doch einmal, dann klingt es so: Er selbst kam als junger Student aus Europa mitten im Sommer an eine amerikanische Universität, kein Mensch da, nur eine einzige andere Studentin, die zufällig gleichzeitig im Sekretariat aufkreuzt. Er fragt sie, um überhaupt mit jemandem in Kontakt zu kommen, ob sie sich nicht mal treffen wollen, sie sagt zu. Als er sie abends abholt, kommt er, wie er ist, und denkt an ein beiläufiges Bier, sie dagegen ist total aufgebrezelt, für sie ist das ein „Date“. „Mein kulturelles Missverstehen war mir – aber ihr natürlich ebenso oder noch mehr – sehr peinlich, und wir mussten aus dem Abend das Beste machen.“
Und weiter? Nichts weiter, der Autor und Erzähler hört hier auf und fühlt nicht, dass er den Leser an diesem Punkt, wo der narrative Bogen dem Höhepunkt entgegenstrebt, mit einem Interruptus stehen lässt. Nein, dieses Narrativ verdient wahrlich kein Vertrauen!
Der Versuch, das Aktionsfeld
zu erweitern, beseitigt
die sinnvollen Begrenzungen
Falschinformationen, Parallelwelten, Verschwörungstheorien wie jene von „QAnon“, der ersten aus dem Internet erwachsenen Sekte, destabilisieren den politischen Diskurs. Aber ist es analytisch tatsächlich hilfreich, jede Entwicklung unter dem Begriff des „Narrativs“ zusammenzufassen?
Foto: imago images/JeanMW
Fritz Breithaupt:
Das narrative Gehirn.
Was unsere Neuronen
erzählen. Suhrkamp-Verlag,
Berlin 2022.
368 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Das narrative Gehirn bietet eine anregende Einführung in die Theorie des Erzählens.« Deutschlandfunk 20220718